So ist Paris

Mi-mi-mi-minette, so schön ist Paris,/Mi-mi-mi-minette, und du bist so süß,/mi-mi-mi-minette, am Place Pigalle/weiß ich ein Lokal für uns ideal ... so trällerte es in der Jugend. Ob wir das „Mi-minette“ im Rias lautlich richtig gehört hatten, war unsicher, denn auf dem Sender lag der Störsinus. Und auf dieses „Mi-minette“ gründete sich unser Bild von Paris. Heute bucht man Kaffeefahrten.

Dem Autor dieser Zeilen (Im folgenden AdZ genannt) war schon in der Wendezeit einmal eine Reise nach Paris zugefallen, damals gab es eine Konferenz europäischer Kinder- und Jugendbuchautoren zum Thema: „Die Rechte der Kinder“. Sein Redebeitrag im Plenarsaal hieß „Die Rechte der Kinder auf die volle Wahrheit“ und enthielt eine Parabel von zwei Flußdampfern, die um die Wette dampfen, leichtsinnigerweise in Richtung eines vergeblich Warnung rauschenden Katarakts. Das Schiff mit dem marxbärtigen Kapitän geht als erstes durchs Ziel, nämlich den Bach runter, das Schicksal des anderen bleibt ungewiß. Leider lag der Vortrag vor der Mittagspause, die Kollegen strebten bereits scharenweise zu Tisch, und der AdZ glaubte sein Gleichnis in den Wind erzählt. Aber siehe, die Kolleginnen Veranstalterinnen, die verdienstvollen Schwestern Zoughebi, hatten doch zugehört und ihn heuer wieder eingeladen. Der „13. SALON DU LIVRE DE JEUNESSE“ war, um es vorwegzunehmen, eine grandiose Bücherschau mit zehntausenden Besuchern. Doch der Reihe nach, an die Reise selbst lassen sich Betrachtungen knüpfen.

Sie beginnt mit der Zugfahrt von Chemnitz, vorbei an den Industrieruinen zwischen Freital und Dresden. So schwarz, wie das Porno-Kino vor dem landeshauptstädtischen Hauptbahnhof, war die ganze Elbmetropole nach dem Krieg, und man muß freudig vermerken, daß sich seitdem rundum einiges getan hat und tut. Vorbei an den dosenbewehrten Alkoholruinen des Bahnhofsplatzes strebt der Reisende eilig zum Zubringer, und auf dem Flughafen Klotzsche ändert sich das Bild. Auf den Flieger nach München warten glänzend aussehende Grossisten, das Handy werbegerecht mit dem Zeigefinger ans Ohr gedrückt. Der Airbus-Weiterflug München-Paris ist wegen Nebel cancelled, es gibt eine Möglichkeit über Stuttgart. Von da dann Air France, Ankunft auf dem Flughafen Charles de Gaulle viel zu spät, kein hochgehaltenes Willkommensschild, die RER-Kassen bereits geschlossen, zwei Iren helfen, den Billettautomaten zu kapieren. Am winternächtlichen Jardin de Luxembourg weist ein zottiger Clochard mit großem Schädel weiter zum Hotel, indem er einen Stadtplan aus einem seiner Plastikbeutel gräbt, und erklärt als Zugabe den Unterschied zwischen einem „Clochard“, für den man ihn mitnichten halten soll, und einem „Zonard“: Der Zonard hat sozusagen einen festen Wohnsitz, nämlich die „Zone“ innerhalb eines Stadtteils oder/und Parks, in der er sich gewöhnlich bewegt und seinen Unterhalt erwirbt. Ein Zonard also weist dem Gast den Weg zum warmen Hotel. Das Gespräch läuft englisch, erbärmlich genug, aber der Besucher hat versäumt, die Landessprache sprechen zu lernen.

Am Morgen kleiner Marsch zur Metro. Wenn es eine Berliner Luft gibt, dann erst recht eine Pariser. Es ist etwas eigenes um die Gerüche der großen Städte an einem Wintermorgen, und ein olfaktorisch subtiler Begabter, sagen wir: Patrick Süßkind, sagen wir: Kommissar Rex, kann womöglich die unterscheidenden Ingredienzen herausschnüffeln. In der Metro würden sie dann allerdings versagen: Da stinkt es international nach Metro, Tube oder U-Bahn. International geht’s auch sonst zu, Franzosen, Maghreb, Schwarzafrika, viel Jugend, les Beurres, die Kinder der Eingewanderten, ihr Slang, so hat man sich erkundigt, ist das Verlan, ursprünglich Geheimsprache der Knastologen, die auf Vertauschung von Sprechsilben beruht. Der Name selbst ist eine Verdrehung von l’envers, verkehrtherum. Beispiel: laisse tomber, vergiß es, heißt jetzt laisse beton. Ein jugendlicher Doppelgänger unseres unseligen Adolf, ein Klon, ein Clown, seine Kumpels rufen ihn Adolphe, er lacht, er hat die Ähnlichkeit durch eine entsprechenden Rotzbremse noch hervorgehoben: „Laisse beton!“ Der Gag dabei: Er ist schwarz wie der ganze schwarze Kontinent zusammen.

Vorstadt Montreuil. Diesmal keine Konferenz, sondern, wie erwähnt, eine Kinderbuchmesse, die dreizehnte ihrer Art, der Show-Platz eine Verschachtelung weitläufiger Veranstaltungszelte, in der man sich denn auch verläuft. Aber Wegweiser weisen zum zentralen Punkt des diesjährigen Geschehens, zum deutschen Stand. Der liegt im Fokus der höflichen Aufmerksamkeit, wenn schon nicht des Publikums, so doch der Reporter. Deutsche Autoren und Illustratoren sind eingeladen, in der Szene kennt man die Namen, von den Neubundis sind da: Maria Seidemann, Klaus Ensikat, der AdZ, und sollte man Klaus Kordon (Jahrgang 43) vereinnahmen? Immerhin war er mal FDJler, sogar Gruppensekretär, kennt den Laden. Den entscheidenden Knacks gab es bei ihm, wie bei so vielen, im Jahr der „Brüderlichen Hilfe“ in Prag. Er zog ‘72 die Konsequenz und versuchte die Flucht. Ergebnis: drei Jahre, von denen er eines in Hohenschönhausen absaß, um dann abgeschoben und einer der großen Jugendbuchautoren der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Und ein Linker zu bleiben. Von den Altbundis sind da: die Autorin Mirjam Pressler, die Buchkünstlerin Binette Schroeder. Nicht angereist wegen junger Vaterschaft: Nikolaus Heidelbach. (Geschenktip, auch nach Weihnachten: seine kostbar ausgestattete Ausgabe von Grimms Märchen, kostbar und teuer!)

Tja, und die Eingeflogenen werden nun, von kompetenten und liebenswürdigen Dolmetscherinnen begleitet, auf die heranflutende einheimische Kinderschar losgelassen. Die Deutschlehrer haben vorgearbeitet, man kennt Textausschnitte, stellt Fragen auf deutsch: („Warum schreiben Sie nicht über sauriens? Oder au moins über Elefante?“ Antwort: „Weil ich zu Hause keine habe.“ Frage: „Und Aufklärungsbücher?“ (Ha ha ha, und der Schalk blitzt in hundert Augenpaaren.) Antwort: „Die schreibe ich schon seit zwanzig Jahren.“

Den Höhepunkt der Heiterkeit erzielt der AdZ mit der Geschichte von einem Tamagotchi, das eine feierliche Seebestattung erhält - die rauschende See ist eine Wasserspülung. Das Motiv des rauschenden, fallenden Wassers, ins eher Private gezoomt, scheint solcherart Geltung zu erlangen. Nach getaner Arbeit glücklich und hungrig macht sich der AdZ auf die Metroschienen und Socken, das abendliche Paris zu erkunden. Jetzt wird’s geil, gelle?

Eifelturm - hatten wir früher schon, abgehakt. Aber Dinge gibt’s, die Dolmetscherin hat es erzählt: Gestern ist von der unteren Plattform einer gesprungen. Das wäre nicht neu, aber dieser tat es mit dem Fallschirm, der sich zuletzt glücklich öffnete. Der Mann konnte seinen Lebensweg leicht blessiert fortsetzen, hat aber mit einer Ordungsstrafe zu rechnen.

Ab Station Republique zu Fuß. Unter dem verhangenen Nachthimmel, über den berühmten Dächern von Paris mit ihren wuchtigen Cheminées, aus denen aber kein sichtbarer Rauch mehr aufsteigt, leuchtet im Scheinwerferlicht Sacré Cœur, eine feierliche Kremtorte. Andere Leuchtreklamen kennt man von daheim: Telefunken, Sanyo, Toyota, Grundig. Aber auch die freundlichen kleinen Läden flimmern in Neonlicht, man braucht nur die Vokabeln aufzuschreiben, schon hat man Pariser Flair: BRASSERIE; BOUCHERIE; BOULANGERIE; PHARMACIE, CHEZ PAULINE. Einkehr in Paulines kleinem Lokal. („für uns ideal“, siehe oben.) Als Sprachidiot auf Reisen verhunzt man schnell auch die Muttersprache, murmelt, sich seines Englischs genierend (Es heißt doch unmöglich einfach: Is here yet free, please? Später nachgeguckt, es heißt: Is this seat taken?) - murmelt seine Frage in Holperdeutsch: „Möglich, dieser Platz?“

Der Platz ist möglich, man genießt einen steifen Kaffee und kaut ein in Leder gebundenes Baguette au fromage. Das Berliner Satireblatt „Titanic“ liegt aus: Ein Cartoon: Warum lächeln die Franzosen nicht beim Fotografiertwerden? Antwort: Weil sie für cheese fromage sagen. Blick in die Runde. Hier wird viel gelächelt. Die Modefarbe ist schwarz, der schwarze Pulli herrscht vor bei Damen und Herren, nächstes Jahr also womöglich auch bei uns. Blick durch die Durchreiche zu Paulines Küche: auch dort dominiert Schwarz, aber da ist es die Hautfarbe. Eine Beobachtung ganz allgemeiner Art, no comment: Im Dienstleistungsbereich, insbesondere dort, wo die dienstbaren Geister hinter den Kulissen wirken, (daher ja Geister), oder dort, wo man Signalorange trägt, jobben Farbige, als Köchinnen, Hotelmädchen, Müllmänner. Erinnerung an eine Kubareise 1988: Auch in Havanna werden die Dreckarbeiten stets von Afrokubanern verrichtet, nur trifft man letztere auch in gehobenen Positionen. In Paris sah ich kaum einen farbigen Beamten. Halt. Doch: dort, wo man den Kragen riskiert, bei der mit Maschinenpistolen patroullierenden Polizei, auch unter den Sécuritéleuten auf Bahnhöfen.

Pauline bekommt der Gast nicht zu Gesicht. Also zahlen und weiter. Längst hat er die Richtung verloren, treibt Boulevards entlang, die bergab führen, er muß nämlich irgendwann die Seine überqueren, und die sollte ja wohl im Tale fließen. Auffällig die spitzen Hausecken, die trapezförmigen Grundrisse der Häuser, sie rühren daher, daß die Straßen von den Plätzen abgehen wie die Fäden der Radnetzspinne. Beim Blick aufs Faltblatt fallen die größten dieser Netze sofort ins Auge: der Place Charles de Gaulle mit dem Triumphbogen, der Place de la Bastille, der Place d’Italie, ach, und in jedem Zentrum werden die Fremden wie flatternde Falter und gleich schwarmweise gefangen: Sehenswürdigkeiten lauern auf Schritt und Tritt.

Um das Palais Royal herum ist gerade ein abendliches Massen-Jogging angesagt, auch zwei hohe Kochmützen laufen mit. Es ist doch merkwürdig, wie leicht eine kuriose Bagatelle oftmals dem Altehrwürdigen, Monumentalen, Weihevollen den Rang streitig macht. Einst, in Leningrads Eremitage sah man eine einäugige Katze, die aller Augen auf sich zog, weg von allen Serows und Wrubels.

Allüberall weihnachtet es, père Noël wünscht seinen Kunden ein frohes Fest, selbt im Schaufenster eines Bestattungsinstituts schmunzelt er sein gemütliches Weihnachtsmannschmunzeln. Besonders nachdrücklich aber preist er heuer in den Elektronikvitrinen Handys an, die er natürlich vom Himmel hoch herbringt. Mithin muß er geflogen kommen. Zur Zeit wird in der Werbung viel geflogen, auch bei uns daheim, was an Leuten, die sich keine Handytarife und auch sonst keine großen Sprünge leisten können, immer ein wenig vorbei wirbt.

Endlich Möwengekrächz, Wassergeruch, Pont Neuf, die Schiffe mit den riesigen Scheinwerfen entlang der Bordwände, die die Ufersilhouette für die Touristen in gleißendes Licht tauchen, die Passanten aber blind machen. Gegenüber eine kleine Galerie, offenbar eine Vernissage, Damen und Herren mit Sektkelchen: Art primitif, Kunst von der Elfenbeinküste. Draußen vor der Tür ein bettelnder junger Schwarzer, der den Eintretenden die Löcher in seinen Schuhsohlen präsentiert, indem unablässig halbmeterhohe Spreizsprünge vollführt, unermüdlich quasselnd, selbst in der Luft. Kopfschütteln, was diese Hiphopper sich so einfallen lassen.

Später fällt dem AdZ ein, daß ihn vorhin, am Boulevard Montmarte, eine junge Dame angesprochen hat. In ihrer kurzen Rede wiederholte sich die Vokabel minet. Im Hotel schaut er im Wörterbuch nach: minet, männliche Form zu minette, und das heißt Liebling, Schätzchen. Aha. Das war also das Pariser Nachtleben. Ab morgen nur noch Kultur!

Am Samstag wieder „SALON“, Treffen mit der Übersetzerin des AdZ, sie kämpft sich zur Zeit durch seinen „King“. Danach Signierstunde, am Nachmittag ein Meeting für die Opfer des fundamentalistischen Terrors in Algerien. Massenhafter Zulauf, ins Präsidium werden auch die deutschen Gäste gebeten. Die Illustratoren zeichnen was zum Thema, die Autoren erzählen, was ihnen schnell einfällt, die knappste und markigste Stellungnahme tönt von einem Münchener Kollegen in tadellosem Englisch: Let’s fight fundamentalism and totalitarism wherever we meet them. Peng, sieben auf einen Streich, da haben wir jedenfalls die Kommunisten miterwischt.- Ein Kommunist, seiner flammenden Rede nach, scheint ein algerischer Autor zu sein. Er hat gebeten, seinen vollen Namen nicht in die Zeitung zu bringen: Rachid ist von „seinen“ Fundamentalisten seit dreizehn Jahren zum Tode verurteilt, wie Salman Rushdie. Aber er wolle damit nicht angeben, sagt er, in Algerien schützt ihn übrigens die Polizei, in Frankreich wechselt er möglichst oft den Aufenthalt. Nachher, beim offiziellen Abschlußessen in Bobigny erklärt er, er fühle sich hier sicher, Bobigny sei ja kommunistisch stadtverwaltet. Wofür er denn verurteilt sei? Nun, denen genüge schon der Laizismus in seinen Büchern und seine Forderung nach allgemeiner Schulbildung. Händeschütteln zum Abschied: Leben Sie wohl, Rachid.

Der Heimreisesonntag beginnt mit Champs Elysées, Place de la Concorde, Tuileries, Louvre. Der Automief verdirbt den Spaziergang in den „Elysischen Feldern“, der Gast tut es den Einheimischen gleich und bindet sich den Schal vor die Nase. Am blauen Himmel kreuzen sich die Kondensstreifen von einem Dutzend Flugzeugen, im Louvre-Innenhof kreuzen sich die Warteschlangen - wer einmal Lenin besuchte, weiß, wovon die Rede ist. Des Rätsels Lösung: Heute ist entrée gratuite. Nach einer Frierstunde endlich unter der berühmten gläsernen Pyramide: Die Rolltreppen quietschen unter dem Andrang, das Gros der Kunsthungrigen bilden Pariser mit Kind und Kegel. Dazu gesellen sich schnatternde Gruppen von Japanern, Amerikanern, kamerabehängt. betuchte Westeuropäer, das Layout der Ehepaare geschmackvoll aufeinander abgestimmt, neue Russen, der Gipfel schnittiger Eleganz. Die südlichen Kontinente sind nicht angereist.

Im Zickzack durch das Labyrinth der Galerien. Könige, Bischöfe, Kreuzigungen, Heilige Sebastiane, zum Himmel fromm bzw. qualvoll verdrehte Augäpfel. Würfelspieler, Soldaten, Dirnen, Dekolletés. Und immer wieder Schlachten, der Tod. Zum Beispiel die 15 Meter lange Alexanderschlacht von Le Brun. Zum Beispiel: Antoine Caron: Das Massaker der Triumviren. 1566. Die gemalte Reihung abgeschlagener Köpfe vermittelt viel mehr von dem, was wir über Algerien an Zahlen hören. Weiter im Zeitraffertempo: Den Zeitraffke streift heiliger Hauch im Salon Carré: Raphael, Rubens, Poissin, Murillo. Dann Leonardo: die Heilige Anna Selbdritt. Ah! Und dort nebenan, klein, ein Frauenporträt, die schöne Feronière, wie eine Studie zur Gioconda - die Ähnlichkeit ist verblüffend. Endlich die Mona Lisa selbst: total original, jeder Pinselstrich. Man kommt nur nicht ran, aus Angst, erdrückt zu werden. Der AdZ taumelt weiter, ein letztes Mal sammelt sich der Blick: Delacroix, Die Freiheit auf den Barrikaden. Das Bild war damals im Schulbuch. Er erinnert sich der Debatten: Warum hat die Freiheit obenrum nichts an, geht man so auf Barrikaden? Ja, das ist ja eben das Freie. Na gut, aber warum hat die Freiheit keine Brustwarzen?

D’accord, und nun ist dem AdZ doch noch ein entfernt erotischer Schluß geglückt, wie man ihn gern hat. Auf dem Flughafen hat er noch ein illegales Treffen mit Ignaz Bubis, nämlich, als er illegalerweise aus der Lounge der Economy-class in die der Business-class wechselt und sich dort ein Glas Tomatensaft eingießt, der dort kostenlos bereitsteht. Und Ignaz Bubis gießt sich gerade auch eins ein. So kommt es zu dem illegalen Treffen. Ja, so ist Paris.