Vierzehn
Tage bei den Osmanen
1.
Tag: Auf geht´s!
Wir haben uns natürlich ein bißchen
vorbereitet, haben im Koran herumgelesen, Geld umgetauscht (1 Million Türkische
Lira zur Zeit 46.- DEM), uns über das Klima informiert und Pullover eingepackt.
Auf den Kauf eines Wörterbuchs haben wir verzichtet, die Sprache mit den vielen
ü werden wir sowieso nicht mehr lernen. Wir,
das ist eine männliche ältere erste Person Einzahl, die aber hier nicht etwa
den pluralis majestatis, den Plural
der Erhabenheit benutzt, sondern den pluralis
modestiae, den der Bescheidenheit, um die eigene Person in einer
imaginären Schar lesend Mitreisender zurücktreten zu lassen. Wir haben nachgeschlagen:
so spricht auch ein höflicher Türke von sich: Wir. Ausgerüstet ferner noch mit
der Kenntnis, daß das westdeutsche Verb jemanden
türken erstaunlicherweise schon älter ist als die Bundesrepublik (Einen Türken bauen bedeutete schon in
der Militärsprache des 18. Jahrhunderts einen Ausfall mit dem Degen gegen
einen nur vorgestellten Gegner, einen Übungsangriff also, Schattenfechten)
ausgerüstet mit solcher Weisheit gingen wir am 2. April des Jahres 1995 in
Frankfurt an Bord einer Boeing 747. Mit einer Magenflaute überflogen wir
München, bei Hühnchen mit grünen Nudeln passierten wir Bukarest. Die Flugzeit
betrug reichlich dreieinhalb Stunden, das Wolkenweiß unter uns war wie ein
unendlicher Teller. Bei der Landung in Antalya an der Südküste Kleinasiens
verflüchtigten sich rasch unsere Ohrenschmerzen und wir stellten unsere Uhren
eine Stunde vor. Aus der Maschine quoll es trotz der schlimmen Nachrichten aus
dem NATO-Partnerland vorwiegend deutsch, mit elegantem hand luggage, das
passierte ohne längeres Schlangestehen die Kontrollen. Der Argwohn der blauen
Uniformen konzentrierte sich auf Sack und Pack schwarz- und grauschnurrbärtiger
Familienväter, die nachher hinter der Sperre freudig von Kind und Kegel begrüßt
wurden, mit Küßchen links und rechts. Unter dem Bildnis des Republikgründers
Kemal Atatürk.
Ohne Küßchen emfing uns die hiesige
türkische Vertreterin der Deutschen Goethegesellschaft, Canan Hanem, d. i. Frau
Canan. Canem aber ist, wie sie uns auf der Fahrt ins Hotel in bestem Deutsch
erklärte, ihr Vorname. Selten braucht sie ihren Nachnamen Durak. Durak? fragen
wir. Aus dem Russischen? Nein, gut Türkisch, das Wort heißt Haltestelle. Canan
Hanem tut gleich etwas für unsere Fortbildung: Erst 1936 führte Atatürk
landesweit Familiennamen ein - bis dahin hießen die Leute einfach Canan oder
Tansu oder Yusuf oder Mehmet. Vor allem Mehmet: Im Telefonbuch fanden sich
Tausende von diesen ehrenwerten Beys, und allmählich kam man doch
durcheinander. Jedermann hatte sich nun einen Nachnamen zuzulegen, und Canans
Opa wohnte halt an einer Haltestelle. Sein leiblicher Bruder wohnte aber vielleicht
an einem Apfelsinenhain, und so heißt seine wohl Familie seitdem. Der
Staatsgründer aber, General Kemal, wohnte im Herzen des Volkes und bekam
seinen Namen vom Parlament verliehen wie einen Orden: Atatürk, Vater der
Türken.
2.
Tag: Willkommen in Antalya!
"Hos geldiniz!" lächelte
der Empfangschef, und wir vermuteten richtig, daß das der Gruß war und murmeln
unsererseits ein herzliches "hos geldiniz". Da lächelte der
Empfangschef noch mehr und redete hinfort englisch mit uns. Unsere Betreuerin
Canan Hanem klärte uns später auf, daß er "Willkommen" gesagt, und
daß man darauf mit "hos bulduk" zu antworten hatte: "Gut
hergefunden."
Es ist nun aber an der Zeit, unseren
Reisezweck anzugeben, sonst denkt jemand, unsereins treibt sich auf Urlaub
herum. Aber auf dem entsprechenden Ausreiseformular haben wir später nicht das
Kästchen touristisch, nicht das
Kästchen geschäftlich, sondern das
Kästchen kulturell angekreuzt uns uns
ein bißchen was drauf eingebildet. Ja, wir waren vom Goetheinstitut
herbeidelegiert, um als Schriftsteller lebend der Jugend vorgesetzt zu werden.
Die Schule hatte einen Schutz-Mann im
Pfortenhäuschen am Schulhof. Diesem zeigte Canan ein amtliches Papier, worauf
wir eingelassen wurden. Frischer Gesang im straff angetretenen Karree,
Schüleruniformen, eine Fahne stieg am Mast empor. Im Schulhaus die Portätbüste
von Atatürk, links der Text der Nationalhymne rechts ein Spruch über die
Bedeutung des Lernens - in goldenen Lettern. Irgendetwas kam uns vertraut vor.
Das Material der Wände und Treppen des Schulhauses konnte es nicht sein, denn
das war Marmor.
Vorstellung beim Direktor hinter großem
Schreibtisch. Hos gildiniz, Tee oder Nescafé? (Das hatten wir schon
gelernt: Nescafé ist Kaffee mit Weißer.) Wie lange sind Sie schon in der
Türkei? Aha. Die Schüler waren Rückkehrer aus der Bundesrepublik und auch
"Heimatländer", die intensiv Deutsch lernen. Es gibt deutsche
LehrerInnen, zum Teil daheim arbeitslos, die durch den Dienst hier wieder einen
Erwerb gefunden haben.
Dann die Vierzehnjährigen: blanke
Gesichter, schwarze Pupillen und doch helle Augen. Uns kam eine Sekunde lang
die Idee, daß Individualität sich nicht in greller Jugendmode ausdrücken muß.
Über den einheitlichen Schlipsen und Umlegekragen trat nämlich die
Unverwechselbarkeit der Köpfe desto
schöner hervor. Die Diskussion - man hatte einen Text von uns durchgenommen -
bewies gute Sprachkenntnis, lange Konzentrationsfähigkeit und politisches
Interesse: Frage Wie war das in der DDR? Antwort: Es gab Fahnenappelle. Frage:
Wie finden Sie unsere schöne Türkei? Antwort: Schön, außer bei Nieselregen.
(Keine Politik! das war uns eingeschärft worden.)
Im marmornen Speiseterminal nachher die
Turbulenz von wohl tausend Hungrigen. Mehr als ein Dutzend Angestellte in
blendendem Weiß an der Ausgabe. Das Essen: Reis, Frikassée in roter Soße,
knackige Salatblätter, Obst. (Dies Lisesi
ist eine Privatschule, die Eltern haben Geld.) Freundliches Winken beim Abschied.
Auf der betonierten Uferstraße hingen noch vorjährige Apfelsinen in den Bäumen,
schon ein bißchen verschrumpelt, während die neue Ernte schon blühte.
3.
Tag: Bücher und Gehsteige
Die hohe Sonne kribbelte brenzlig auf dem
Scheitel. Wir zogen unser Bascap hervor, die mit der Aufschrift Book-power. Der Vormittag hatte zwei
Auftritte in Schulen gebracht und die unangenehme Schülerfrage: Wieviel
türkische Schriftsteller und Bücher kennen Sie? Wir kannten nur den Dichter
Nazim Hikmet, und der war eine Art Kommunist - besser man schwieg. Außer ihm
kannten wir nur noch den alten Schalk Nasreddin Hoca, wie er
verkehrtherum auf seinem Esel sitzt, und wie dieser (der Nasreddin!) kamen wir
uns nun vor. Nur eben ohne Turban, mit unserer Bookpowermütze. Wir waren am
frühen Nachmittag aufgebrochen, unserer Bildung aufzuhelfen.
Die Stadtsilhouette hat sich wohl erst im
letzten Jahrzehnt so breitgemacht, fünfzehngeschossig, geklonte Punkthäuser
tragen Wasserspeicher und Sonnenkollektoren auf den Dächern. Zum Zentrum
stolperten wir nun auf einer großzügig angelegten, aber steinigen Chaussee
entlang der lieblich-silbernen Antalya-Bucht. Landwärts blühten Ringelblumen in
felsigen Nischen, Storchschnabel und Wegwarte reckten die Knospen.
Yuccapalmen, Zypressen, Feigenbäume und frischgestrichene Imbißbuden begrünten
die Strecke. Auf Tuffstein blühte Oleander gelb, es war folglich kein
Oleander, und hinter uns blaute bizarr getürmt das Taurusgebirge.
Ein vertrautes Schnurren: Eine ETZ aus
Zschopau. Die Autos waren vielfach Fiat-Lizenzen und sahen aus wie der Lada,
der einst bei uns so begehrte Ostblock. An einer Waschanlage pflegten vier
Männer den Lack eines Mercedes.
Wie war uns so wohl! Außer an den
Coca-Cola-Wänden konnten wir die Werbung nicht lesen. Zumal wir sowieso auf
unsere Füße achten mußten: Die zerklüfteten Bürgersteige sind alles andere als
bürgerfreundlich: Halbmeterhoch bilden sie unbezwingliche Hürden für Rentner
und Kinderwagen. So sahen wir denn auch von letzteren nichts: Babys werden
getragen - sofern sie das Haus verlassen. Kinder erblickt man zumeist erst im
fußballfähigen Alter, dann aber in erfreulicher Schar. Die Kleineren hüten die
Wohnung und mit ihnen tun es die Muttis: Passanten in der Blüte ihrer Jahre
sind vorwiegend männlich. Auch Greise sieht man wenige: Die statistische
Lebenserwartung beträgt 62 bzw. 64 Jahre, die Hälfte aller Türken ist unter
fünfundzwanzig. Unsere Gewährsfrau für diese Zahlen ist aber eine Einzelperson,
andere Gewährsleute, das haben wir schon gemerkt, bieten Varianten an. Übrigens
erklärte uns keiner, warum die Gehsteige so hoch sind.
Eine deutsche Ausgabe türkischer
Short-Stories war erschwinglich, und wir genossen sie im Café am Stück. Zwei
der versammelten Autoren stehen zur Zeit wegen staatsfeindlicher Äußerungen vor
dem Kadi, wir sagen aber nicht wer, um nicht in schwebende Verfahren
einzugreifen. Als wir bezahlten, goß uns der Ober ein Rosenwasser in die
gehöhlten Hände: Wir waschen sie in Unschuld, wir NATO-Partner.
4.
Tag: Wo bleibt die Polizei?
Fahr bloß nicht in die Türkei, so hatten
sie daheim gewarnt, da ist der Teufel los... In der Old Town von Antalya, in
den engen Gassen und jahrhundertschwarzen Winkeln, unter Kuppeln und Minaretten
herrschte Frieden, Handel und Wandel blühten. Ausgebreitet auf Tüchern und
Decken blühten aus Stoff gefertigte Rosen, leuchteten Schlipse, Herrensocken,
Silberschmuck, Bronze, Messing, arabisch ziselierte Teller, bauchige Amphoren
mit Schwanenhälsen, bunte Aquarelldrucke von Atatürk, (im Schnee wachend, mit
hoher Generalspapacha, als koloriertes Foto, diplomatisch eine Melone lüftend,
zu Roß, aus Kinderhand Blumen empfangend). Die Händlerrufe übertönten die
"phrygischen" Sequenzen aus den Recordern, Wecker piepsten ohne
Unterlaß, Armbanduhren blitzten wie Gold, jedes zweite Plakat enthielt das Wort
INDIRIM, und das hieß nicht
"indische Ware", sondern preisgesenkte. (was sie vielleicht erst
werden sollte, im Lauf der Ver‑handlungen) Dazwischen Obst, lecker
ausgebreitete Süßigkeiten, womöglich war da auch der berühmte türkische Honig
dabei. Von frischem Fisch und Krebsgetier tropfte Eiswasser, Katzen und
Kinder strichen umher, geschäftige Basarkellner huschten durch die dunkel
gekleidete Menge, sie trugen in einer Art Vogelbauer Gläschen mit heißem Tee.
Ihr Umsatz ist hoch, denn ein richtiger Handel wird erst bei einem Gläschen
perfekt. (Tee, wohlgemerkt, wir haben
in den vierzehn Tagen keinen Straßessuff gesehen. Glückliches Anatolien!) Wir
bekamen Hunger und kauften ein Simit,
einen Sesamkringel aus Brötchenteig, und zahlten dafür 100 000 Lirasi, und als
wir uns zum Gehen wandten, sahen wir, wie sich die beiden Verkäuferjungen
(fast jedes Amt ist doppelt besetzt) vergnügt aus den Augenwinkeln anblitzten,
während sie auf deutsch Tschüs sagten. Dabei hatten wir das Umrechnen doch
schon geübt: Faustregel, gültig für April '95: Vier Nullen weg, geteilt durch
drei. Und wir wußten bereits, daß Lebensmittel in diesem Land verhältnismäßig
billig waren, (weil subventioniert), daß aber ansonsten die Preise explodierten.
Schlimm, aber besser als Bomben.
Ja, wieso dachten wir plötzlich an Bomben?
Sollten wir insgeheim doch ein bißchen Fracksausen mitgebracht haben? Waren
nicht auch die Mollis, die in Deutschland allnächtlich flogen, Bomben? War
nicht unser geliebtes Auto daheim, geladen mit hochoktanigem
Brandbeschleuniger, eine Bombe, sofern es gegen ein anderes krachte? Wir saßen
im Glashaus...
Und nun, inmitten dieses lärmenden
Gewimmels, fehlte uns fast etwas im Straßenbild, uns, die wir in einem
Polizeistaat ergraut waren: der Anblick von Sicherheitskräften. War dieses
Fehlen ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? Wir betraten die Werktstatt von
einem Kvaför. Als der Herr vor uns
sich aus dem Frisierstuhl erhob und sein ziviles Jackett anzog, erblickten wir
über seinem Hosenbund den eisernen Griff einer locker eingesteckten Pistole.
Und diese Lockerheit war uns auch wieder nicht recht.
5.
Tag: Byzanz, Konstantinopel, Istanbul
Canan Hanem hatte uns auf dem Terminal
abgeliefert. Küßchen links, rechts. Inlandflug, auf einmal saßen wir eng
zwischen lauter stämmigen Türken, dunkle Kleidung überwog, dichtes, schwarzes
Haar. Beim Anblick der wenigen weiblichen Fluggäste fiel uns das Wort Schneewittchen ein. Bei der Musterung
der Herren gerann das Rinnsal Poesie in unserem Hirn. Die meisten rauchten,
daß sich die Kopfhaut kräuselte.
Immerhin kritzelten wir in den Notizblock
ein Wortspiel: Stämmige Türken,
Türkenstämmige. (In Deutschland grassiert das Unwort deutschstämmig) Auf
unsere vorsichtige Frage, ob es recht viele Armenier in der Türkei gebe, hatte
gestern ein alter Taxifahrer geantwortet: Too
much of them. Armenians, Jews,
Greeks... Die seien die Kapitalisten
in Istanbul, Geld wie Heu, auf Kosten des Volkes... Aha, überall hat man so
seine Probleme mit dem politischen Durchblick, sagten wir uns und blätterten
eine ältere Notiz auf: Titelangabe zu
F. Werfels Buch "Die vierzig Tage des Musa Dagh", das von der
Armenierverfolgung im Osmanischen Reich des Jahres 1915 handelt, wird in
Literaturverzeichnissen für Germanistikstudenten neuerdings geschwärzt - kein
Buch, keine Massaker. Das ist aber nur die eine Information, eine andere sagt,
Werfel sei nicht geschwärzt und alles nur Verleumdung.
Die Stewardessen waren freundliche, langbeinige,
vanilleduftende Blondinen. (Helle Tönung erleichtert offenkundig hier (nur
hier?) weiblichen Aufstieg: Auch Werbung und Show-business hissen die
Hollywoodfahne. Wir sahen nicht eine
armselig oder gar schäbig angezogene Blondine während vierzehn Tagen.) Eine
Minute vor dem Start holte mich die Strahlendste unter den drei Schönen aus der
Kabine: Ich mußte mein Gepäck identifizieren, das noch auf der Piste stand: So
ein Posaunenkasten ähnelt tatsächlich einer Panzerfaust. Aber sie wußte, die
blonde Songül Hanem oder wie sie heißen mochte: So unvorsichtig würde ich nicht
sein, im Ernstfall selber mitzufliegen.
Nachher: Schneebedeckte Gipfel. Das ruhige
Blasen der Triebwerke. Bordfrühstück. Und schon: Atatürk-Airport Istanbul.
Kleinbus vom Goetheinstitut. Der Fahrer, Ahmet Bey, gebürtiger Bulgare, in
schönstem Hamburgisch fluchend auf die Autofahrer ringsumher, zentimeterscharf
seine Chancen nutzend, liefert zwischendurch einen Blitzkurs in Historie:
"Ein Seefahrer mit Namen Byzas hat Byzanz um 660 vor Christus gegründet. Verfluchter Idiot, hup ich dir nicht laut
genug? Der christliche Kaiser Konstantin nannte es 326 nach sich:
Konstantinopel. Grüner wird´s nicht,
Mann! 1453 zerbrach Fatih Sultan Mechmet mit Kanonen die Stadtmauern. Blechschäden? Na und. Jeder von uns hat sein
Holzhämmerchen im Werkzeug. Der Fatih und seine Nachfolger waren
Diplomaten, ließen die Christen Christen sein und die Juden Juden und machten
aus der Hagia Sophia eine Moschee. Bis heute heißen wir Istanbul. Ja! In
Istanbul hat jeder Vorfahrt!"
6.
Tag: Die Istiklal Caddesi
Hotel "Richmond", neben der
Drehtür Angestellte in blauen Uniformen mit Aufnäher Security. Spiegel, Marmor,
in der Lobby dezentes Klavierplingpling. Der Boy entwand uns das Gepäck.
Wieviel gab man? 100000? 25000. Vom Zimmerfenster aus: Dächer, Katzen auf
Taubenjagd. (Ahmet Bey hat erzählt: Vor
Jahren gab es hier eine Hundeplage. Die Viecher wurden eingefangen und zu
tausenden auf einer öden Insel ausgesetzt. Nach Einhaltung einer
Sicherheitsfrist mußte man nur wenige Knochen begraben.)
Tief unten, in der Istiklal-Caddesi, dem
Kudamm von Istanbul, riefen Leute etwas. Nein, das war kein rhythmisches
Marktgeschrei. Das klang böse, das kam im Chor. Fotoapparat her, hinunter!
Ein Security-Mann übersetzte für uns: Nieder
mit Jelzin! Es lebe das freie Tschetschenistan! Einer der etwa fünfzig
Demonstranten verlas vor laufender Fernsehkamera eine Note. Schlagartig war
ein Dutzend Polizisten da, drängte ab, ließ Transparente einrollen: Neben dem
"Richmond" befindet sich das Generalkonsulat der Russischen
Föderation. Es wäre auch ein Wunder gewesen, wenn die Staatsmacht stillgehalten
hätte: Ministerpräsidentin Ciller, Staatspräsident Demirel haben mit
ihren Kurden ein analoges Dilemma. Gelinder gesagt: Wo der Gebrauch des Wortes Kurdistan unter Strafe steht, kann man
das Wort Tsche-tschenistan nicht
durchgehen lassen. Man bedenkt nicht, daß man mit der Billigung des
Tschetschenienabenteuers bereits das Geschäft des frischgebackenen Oberstleuntnant
Shirinowski betreibt, der ein Tükenhasser ist und vom "letzten Sprung nach
Süden" seiner zukünftigen Armeen tönt.
Der Nachmittag brachte wieder eine
vergnügliche Begegnung mit jungen, sehr allgemeininteressierten
LiteraturfreundInnen. Als einer wissen wollte, von welcher türkischen
Fußballmannschaft wir Fan seien, und wir gestanden: von keiner, da riefen die
Mädchen hurra.
Am Abend: Bummel durch die Fußgängerzone.
Mittendurch bimmelte eine gelbe Trambahn, der Schaffner trug historische Dienstuniform,
den messingnen Münzwechsler vor dem Bauch; kichernde Straßenbengel hingen
halsbrecherisch auf Tritts und Kupplungen, und dieses technische Denkmal,
Baujahr 1928, stammte aus Werdau, Sachsen. Kaum aber war die Elektrische durch,
verkehrte, gelegentlich stoppend, ein benzingetriebener Mannschaftswagen. Die
Uniformierten trugen schwarzen Stahl quer vor der Brust. (Falls zufällig eine
der Mündungen auf den Mann zeigt, kommt ihm das runde Loch sehr, sehr groß vor.
Etwa, wenn er davorsteht, um es zu fotografieren.)
Unterdessen nahm abendliches Straßenleben
freundlich lärmend seinen Lauf. In den Gaststätten drängen sich die Männer in
Tabakwolken vor dem Sportkanal. Man konnte sich die Schuhe putzen lassen,
sein Gewicht prüfen. Ein Pärchen sang zum Recorder. Der Sichelmond trieb am
Himmel wie ein Boot.
7.
Tag: Sightseeing
Wieder eine Schulvorstellung: In den
Pausen höchster Pegel, in den Stunden Andacht. Zwölfjahrige hatten eine zuvor
behandelte Geschichte von Saalmann, mit deren Fortgang sie nicht einverstanden
waren, auf eigene Faust umgedichtet. Zwei der neuen Lösungen erfolgten mit der
Pistole. Die beiden Umdichter waren, Zufall, Rückkehrer aus Deutschland.
Freier Nachmittag. Dr. Bechtold vom
Goetheinstitut und seine hochcharmante Kollegin Gülbin Hanem hatten uns
Pflichtbesuche auferlegt: Klar, die Hagia Sophia. Die Blaue Moschee. Das Topkapi-Serail.
(Das i bei Topkapi wird eigentlich ohne Punkt geschrieben und wie kurzes
deutsches Auslaut-e gesprochen.) Die sieben Türme der Stadtmauer. Das Aquädukt.
Den Deutschen Brunnen auf dem Hippodrom, Angebinde Wilhelms II. Die Sultan-Ahmet-Moschee.
Den Gedeckten Basar. Die Zisterne, eine römische Wasserleitung unter der Stadt,
zwischen deren Säulen eine wundervolle Akustik herrscht, Pavarotti hat schon
darin brilliert. Welche andere Wasserleitung kann das von sich sagen? Ans
Werk: Die Hagia Sophia, (Heilige Weisheit) ist jetzt Museum, christliche
Gründung mit arabischen Dessous: Kunst
war bei beiden Konfessionen im Spiel, deshalb vertragen sich die Bilder ganz
gut. Die Touristen beeindruckte aber am meisten eine Säule mit einem
daumengroßen Loch. Man mußte den Daumen hineinstekken und um 360 Grad drehen,
glückte das, brachte es Glück. Der Stein soll sich innen feucht anfühlen, ganze
Busgesellschaften bestätigten es einander erstaunt. Die Blaue Moschee hat sechs
Minarette, und als der Muezzin mit kunstreichen Melismen und schier unendlichem
Atem zum Gebet rief, Allah zum Ruhm und dem Propheten, da war in den Pausen aus
dem Lautsprecher sein, des Muezzins, Hüsteln zu vernehmen: Da lief kein
Tonband.
Das Topkapi Serail war mitnichten nur des
Sultans Freud--- pardon, Frauenhaus. (Mit solchen Witzchen belustigen die
Gruppenbetreuer ihre lieben Almans, die sie gut kennen. Wieherndes Gelächter
stieg aber auch aus Trauben von Briten, Japanern usw.) Nein, Serail bedeutet
schlicht: Wohnbereich. Geraten mußte werden, welchem Zweck das murmelnde
Wasser diente, das vorm Eingang der herrschaftlichen Gemächer künstliche
Minifelsen hinabplätschert? Nun? Es war die erste Abhörsicherung der Welt.-
Unermeßliche Schätze, goldene, perlen- und edelsteinbesetzte Throne, Helme,
Dolche und Säbel zeugten von der Taktlosigkeit der Potentaten gegenüber ihrem
ausgepowerten Volk und vom Kunstsinn der Handwerker, nicht anders als in
Augusts Grünem Gewölbe in Dresden.
Die restlichen Sehenswürdigkeiten mußten
wir weglassen. Denn viel Zeit verloren wir mit dem Abwimmeln von jungen,
sprachbegabten Schleppern, die uns zum Tee ins Kilimgeschäft ihres Bruders,
Onkels mütterlicherseits usw. luden: "Sind Sie aus Deutschland? Ja?
Gemmitz? Aaah!!! Meine Schwester ist in Gemmitz verheiratet..."
8.
Tag: Geschäfte unterm Galata-Turm
Die älteste Metro Europas, und die
kürzeste, genannt Tünel, sie führt von der Istiklal Caddesi steil hinab zum
Goldenen Horn. Leute mit Erfahrung im Knöchel-Umknicken, die also gewohnt sind,
auf ihre Füße zu achten, sollten aber laufen, egal, wie holperig der Abstieg
wird. Die ersten hundert Meter - nur Musikgeschäfte: Flöten für (einfältige)
Touristen, die türkische Laute Saz. Weiter bergab: - nur Furnierhölzer:
Qualität. Oder, wenn man die Parallelstraße nimmt: Nur Lüster: Messing,
Kristall. Der Galata-Turm ist ein Werk der Genueser, er wurde jahrhundertelang
als Feuerwachtturm genutzt: Falls es in diesen verwinkelten, brökkelnden,
notdürftig elektrifizierten, mit Autos vollgestellten Schluchten brennt, hilft
nur Laufen - unter Berücksichtigung der Windrichtung. Eben, bei der
Niederschrift dieser Zeilen, bringt das Radio die Meldung von einem neuen
Brandflaschenanschlag im Galata-Bezirk: Drei Tote. Ob nun Abdullah Öcalans PKK
dahintersteckt oder nicht: Wildes Um-sich-Bomben trifft immer die Falschen.
Wieder fiel uns auf, daß auf den Straßen
relativ zu wenige Frauen zu sehen sind. Vorwiegend trifft man Studentinnen, mit
carcaf und ohne. (Es wird gemunkelt, daß die
Fundamentalistenpartei ein kleines "Stipendium" aussetzt für die
Verhüllung des weiblichen Gesichts. Und wer brauchte kein Geld?) Die Gattinnen heißt´s, sollen in der Wohnung
das Regiment führen. Aber wie können sie das, wenn sie nicht mal die ständig
steigenden Marktpreise kennen?
Ein Schlepper redete uns an, gleich
deutsch. Nur war nicht klar, was er zu verkaufen hatte. Wir schüttelten stumm
den Kopf. Da ging es englisch weiter. Wir wollten uns mit Russisch retten. Der
Bursche stieg gleich voll ein: Kak djela? Er war aus Odessa.
In Hafennähe lasen wir russische Schilder:
Magazin Drushba, Kalinka, Beriozka.
Hotel Natascha. In einer Gasse war
kaum ein Durchkommen. Argwöhnische Polizistenblicke bewachten ein grünbraunes,
verbeultes Eisentor, durch das - vorerst gesenkten Haupts - Männer sich
drängten. Türkische Billigmusik dudelte, nicht besser als die
Meerschweinchenmusik, die aus westlichen Etablissements schallt. Denn dies war
ein Etablissement: Wie hungrige Wölfe umstanden Rudel von Rauchern
Schaufenster, hinter denen in frisiersalonartig gefliesten Kabinen
trübblickende Nataschas und Maschas (blond, von der steilen Karriere der Blondinen haben wir anfangs
spekuliert) das Gegenteil von Verschleierung demonstrierten. Der einen war der
Morgenrock arg verrutscht, die andere mühte sich sehr mit ihren
Strumpfstrapsen. Und alle waren vor allem nicht
schön und trugen Gesichter wie einst im Mai in ihren Warteschlangen. Eine
Junge saß abgewand und las. Keinen der Wölfe sah ich übrigens eintreten.-Von
den Lüsternen wieder hinauf zu den Lüstern. Uff! Liebe Leute, Ihr dachtet,
Kinderbuchautoren trauen sich nicht, richtig hinzu-gucken? Na, was dachtet Ihr?
9.
Tag: Die gebildete Nation
längst war uns aufgefallen: Jeder
Stadterklärer wies bestimmt auf das Hotel
Pera hin, das in dem bekannten Film "Orientexpreß" mitspielt und
auf das seither ganz Istanbul stolz ist, außerdem auf die vielen Konsulate, die
nicht nur "Reiseangelegenheiten" klären, (vor dem deutschen K.
schiebt man sich in Viererreihen voran), sondern auch Aufgaben des
Kulturtransfers wahrnehmen, und drittens auf eine berühmte Schule, das Galatasaray Lisesi: Mit Kultur hat alles
zu tun, das der Istanbuler gern vorzeigt. Kultur! Gestern liefen gerade die
Aufnahmeprüfungen für die Uni: Die Stadt wimmelte von frohgespannten jungen
Gesichtern wie zu einem Jugendfestival. Heute früh waren die meisten Mienen
erloschen: 80 Prozent der Bewerber scheiden schon beim ersten Aus‑scheid
aus. Wie dem auch sei, Kultur, Bildung ist ein Lebensziel der künftigen
Staatsträger.- An diesem Vormittag waren wir Mitglied einer Jury bei einem
Schul-Leseausscheid in deutscher Sprache. Die Wettstreitenden bildeten zwei
Gruppen: "Heimatkinder" und Rückkehrer aus Deutschland. Sie konnten
alle wunderbar vorlesen, vor allem schnell. Die "Heimatkinder"
kämpften sich tapfer durch Goethe, Storm, Kästner, Michael Ende, Nöstlinger,
sogar Friedrich Nietzsche. Die "Deutschen" hatten sich ausgesucht,
was in Deutschland so gängig ist: Alf, Enid Blyton, Süderhof. Natürlich steckte
hinter der Textwahl der ersteren das autoritäre Regime der Lehrer, und solche
Autorität empfanden wir als segensreich. Gedankensprung. Mit Autorität bzw.
Freiheit ist es so eine Sache. Wir hatten inzwischen drei türkische Wörter für
Freiheit kennengelernt, weil wir sie ständig auf Spruchbändern lasen und
schließlich nachfragten: Istiklal, Hürriyet
und das Neuwort Özgürlük. Man mag
darüber streiten, ob Begriffe, die man oft auf Plakaten findet, dann auch ihre
Entsprechung in der Wirklichkeit haben: Unsereins las das Wort Sozialismus
auch nicht selten. Hürriyet ist auch
der Name eines "Zentralorgans". Wohl nur deshalb existiert dieses
Wort (persischen Ursprungs) noch. Denn eigentlich müßte es abgeschafft sein:
Atatürk hat eine Sprachreform in Gang gebracht, die heute noch fortwirkt:
Wörter arabischen oder persischen Ursprungs sollten durch rein türkische
Neubildungen ersetzt werden. Es gibt eine staatliche Sprachkommission, die
monatlich bis zu 25 neue Wörter erfindet, und inzwischen - unter dem Druck westgnatziger
Fundis - soll auch das Englische dran glauben: Der Computer mußte schon mal bilgisayar
heißen, wörtlich: Kenntniszähler. Hier hört der Gast auf, das autoritäre
Regime der "Lehrer" als segensreich zu empfinden.
Zurück zum Wort Hürriyet: Ebenso wie der Name Kurdistan ist die Aussage: "die
Zeitung lügt" verpönt, und wir riefen gestern in der Schule mit einem
Reimratespiel: "Der Betrüger betrügt/die Zeitung, sie ---" Befremden
hervor. Dabei wollten wir doch nur den Reim "rügt" hören, wie damals
bei Erich.
10.
Tag: Ankunft in der anderen Hauptstadt
Zu den religiösen Pflichten der Muslime
gehören das Gebet (fünf Mal am Tag), das Fasten zwischen Sonnenauf- und
Untergang im Ramadan (In diesem Monat passieren die meisten Autounfälle), das
Almosengeben (davon profitieren die Ärmsten: Sinti), das öffentliche
Bekenntnis (viele Männer drehen ihr tespih,
ihr Gebetskettchen, auch auf der Straße zwischen den Fingern wie gewisse
Autobesitzer den Wagenschlüssel), die Reise nach Makkah zum Schwarzen Stein: Am
Tag unseres Weiterflugs war das Gedränge am Atatürk havalimani unbeschreiblich:
Pilger-Hochsaison. Selbstverständlich besitzt auch der Flughafen eine MESKIT, eine Moschee, extra für
Reisende. (In Bayern lasen wir jüngst das Schild AUTOBAHNKIRCHE). Wir hätten
für unsere Posaune beten sollen, denn auf dem Flug nach Ankara hat sie arge
Beulen davongetragen - der Kasten war aufgehebelt, vermutlich von
Sprengstoffexperten. Kann man aber den Leuten ihr Mißtrauen verdenken?
Der Ankaraner Flughafen liegt weit
außerhalb, deshalb gab es Gelegenheit zum Gespräch mit dem Chauffeur unserer
gastgebenden Einrichtung. Gebürtig in Hannover, hatte er Deutschland als
junger Mann den Rücken gekehrt, mit wenig guten Erinnerungen. Sein Name sei
nicht genannt, denn auf unsere Bemerkung, das Menschheitsexperiment Kommunismus
sei ja nun schiefgegangen, antwortete er: "Leider, vorläufig." Ein
ganz Gefährlicher war das. Er äußerte sich querbeet: Die PKK hat einen Stein
ins Rollen gebracht, indem sie auf die Not ihrer Leute aufmerksam machte. Aber
dann wurden Terroristen draus. Nun fließt täglich Blut auf beiden Seiten. Der
Arbeiter macht die von denen oben geschürte Hetze nicht mit... Armeedienst? Ja,
Kurden müssen dienen. Eineinhalb bis zwei Jahre. Ungediente bekommen kein
Visum. Die wenigsten haben aber das Geld, ihre Wehrpflicht auf die zweimonatigen
Grundausbildung zu verkürzen, wie es die Reichen gern tun - man kann sich
nämlich freikaufen. Das ist nun nicht
mehr so ganz im Sinne von Atatürk... Personenkult um den Staatsgründer? Wir
sollten froh drüber sein. Denn die Fundis der Refah (Wohlfahrts-) Partei werden immer stärker, sie bestechen vor
den Wahlen den Plebs mit Kohlen, mit einem Säckchen Reis. Und sie möchten
hinter Atatürk zurück, das Land von
westlicher Zivilisation abkoppeln, die ababische Schrift, am liebsten die
Scharia wieder einführen: Fundis haben zu Ramadan eine Ankaraner Uni-Mensa
überfallen, weil dort Studenten aßen.
Ein Toter... Aber, schloß unser Chauffeur, es gibt kein ethnisches und kein
religiöses Problem, dahinter steckt immer Ökonomie. Halte die Leute im Osten
in Armut, und du hast Revolution, ganz einfach.
Auf Schildern lasen wir westliche
Fremdwörter: Dövis, Reklam, Berber, Self servis, Tisört. Wir waren auf
dem Atatürk bulvari angelangt. Auf einer Kreuzung zehn Polizisten, zwei
regelten den Autostrom, je zwei bewachten die vier Ecken.
11.
Tag: Vergleiche und Gerüchte
Im dritten Beitrag dieser Folge hatten wir
die Namen zweier Schriftsteller, die sich wegen "Äußerungen" zu
verantworten haben würden, verschwiegen. Dieser Tage nun wurde der eine im ZDF
gezeigt, wie er seinen Richtern die breite, zornig gefurchte, zornig
gefürchtete Stirn bot: der dreiundsiebzigjährige Yasar Kemal. Den
Journalisten erklärte er vor der Verhandlung: Die Türkei ist ein großes Gefängnis. Zur Zeit sind 150 Menschen
politisch in Haft. Mir ist es egal, ob ich nach diesem Prozeß aus dem großen in
ein kleines Gefängnis umziehe... Warum nennen wir den Namen jetzt? Weil er
inzwischen sowieso herum ist, und jedes weitere bißchen Öffentlichkeit dem
Träger vielleicht hilft. Der zweite Autor ist der Satiriker Aziz Nesin und mit
ihm viele andere: Komponisten, Musikverleger, bildende Künstler, die aus
Solidarität Selbstanklage wegen "Äußerungen" erhoben haben - a) zur
Kurden- b) zur Alewitenfrage. Was soll das Oberste Gericht machen? Es muß
Verfahren einleiten. Verfahrene Verfahren in
statu nascendi, die Riesenblamage zeichnet sich schon ab... Warum noch
greifen wir diese peinliche Geschichte hier wieder auf? Weil bei den
unwillkürlichen Vergleichen mit der ostdeutschen Vergangenheit eben doch ein
kleiner Unterschied zu bemerken ist. Nämlich die Anwesenheit der Presse.
Ankara ist eine moderne Hauptstadt. Ein Oberstes Gericht, aber viele
Universitäten, Hochschulen, wissenschaftliche Institute, Kulturpaläste
imponieren rechts und links breiter Boulevards. Den Baustil wollen wir
neo-osmanisch nennen, und er ist sehr verwandt mit unserem Neoklassizismus.
Leider ist gegen den braungrauen Staub, der aus der boskir (i eigentlich ohne Punkt), aus der öden, steppenartigen
Karstlandschaft ringsum hereinweht, kein Kraut gewachsen. Und kein Baum.
Wir sahen weniger Kopftücher als in
Istanbul, auch weniger Hoca-Mützen und -Bärte. (Nach erfolgreicher
Pilgerreise tragen Papas und Opas solche besondere Haupteszier, sie werden dann
Hoca baba oder Hoca dede angeredet.)
Wir verglichen das Gedränge zur
Hauptgeschäftszeit mit dem bei unseren Montagsdemos. An ihren besten, den
ersten Montagen. Wie würden die Ankaraner dereinst ihrer Regierung deutlich machen
können, daß sie nicht einkaufen wollen, sondern demonstrieren? Einer würde hier
eigentlich nur als erster anfangen müssen zu rufen: Wir sind das Volk.
Die Frage ist nur, wer dann vorgibt, das Volk zu sein. Wir erfuhren auch von einem -
länger zurückliegenden - Überfall auf ein Hotel, in dem gerade Schriftsteller
debattierten und dabei naturgemäß "gesundes Volksempfinden"
verletzten. "Gesundes Volksempfinden" aber erzeugt der, der die
Kohle hat, um vor Wahlen Kohlen verteilen zu lassen. Gerüchteweise erfuhren wir
ferner, daß der riesige Basar unter einer zentral gelegenen Ankaraner Moschee
einem einzelnen Herrn gehören soll, und dieser - namentlich bekannte - Herr
sei in Köln Chef der Refah-Fundis. Was doch die Leute so reden.
12.
Tag: Freundliche Herablassung
An diesem Morgen im Hotel: Vier tranken zum
Frühstück Sekt: russische Geschäftsreisende. Das Gespräch jedenfalls war russisch,
das Thema der Rubel... April, April, natürlich der Dollar. Sie riefen den Ober
nicht türkisch, nicht englisch, sondern lediglich mit einem Labiallaut, der
den Knall eines Korkens imitierte. Der Ober kam auch sofort, ein kleiner,
wieselflinker Mann, der bekam bei der nächsten Bestellung die Hand auf die
Schulter gelegt. Wie sympatisch war er uns, als er im Abgehen eine fast unhörbare
Bemerkung zu einem Kollegen machte, die Augen zur Decke gedreht. Und wir
dachten an das alte Sprichwort: Und kommt den Knecht das Reiten an...
Gedankensprung.
"Der Türke ist grundehrlich. Er wird
dich nicht beklauen. Seinen Schnitt macht er beim Feilschen."... "Der
Türke sagt danke, aber beweist nicht
die Spur von Dankbarkeit."... "Der türkische Hausmeister ist treu
wie ein Hund: Gib ihm einen Tritt, und er läuft den ganzen Tag mit eingezogenem
Schwanz umher, lobe ihn für eine kleine Extraleistung, nenne ihn gar Effendi, und er trägt die Nase gen
Himmel."... Solches hörten wir heute vormittag aus dem Mund eines Türken,
der so gut deutsch wie türkisch sprach, und der nicht russische, sondern
deutsche Stimmen zitierte: mit unverhohlener Bitterkeit, wie sich denken läßt.
Und wir schämten uns einigermaßen. Hatten wir nicht selbst schon Phrasen
gedacht, die mit "Der Türke..." begannen? Hatten wir nicht in diesen
vierzehn Tagen des öfteren von germanischen
Begleitern unwidersprochen Sätze hingenommen, die den zitierten sehr ähnelten,
we-nigstens von freundlicher Herablassung troffen? Und wir waren sogar
Intellektuelle, die politisch links
fühlten... Hier im Ausland waren wir einfach Landsleute, egal ob Ost oder West,
und wir nahmen voreinander kein Blatt vor den Mund.
An diesem Mittag besuchte der designierte
Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei das Goetheinstitut.
Die Angestellten des Hauses und Gäste versammelten sich im schönen
Konferenzsaal. Kaffee, Gebäck. Wir saßen zufällig neben dem großen Mann. Small
talk: "Sie kommen aus Chemnitz?". "Allerdings." "Und
Sie wohnen noch dort?" (Das werden wir oft gefragt, und im Frageton liegt
leise Verwunderung.) "Chemnitz, jaja, ich komme ebenfalls aus dem Osten,
aus Liegnitz." "Hmhm, da liegen ein paar Kilometer dazwischen..."
usw.
Am Nachmittag: Eröffnung der Buchmesse.
Die Stände boten ein buntes Bild. Ein Verlag brachte auch Lyrik von Nazim
Hikmet. So verboten also ist der doch nicht. Vorwiegend dunkel präsentierten
sich religiöse Verlage: Auf schwarzen Einbänden arabische Goldschrift. Dort
war aber wenig Andrang. Uns fiel die Rolle zu, die erste Lesung zu bestreiten.
Thema: Lesegraus oder Leseschmaus?
Gedanken zur deutschen Kinderliteratur in Ost und West. Achzehn Seiten. Der
Marmorsaal war eisigkalt. O Le-segraus. Wir
brachen wegen Zitterns ab. Eine hübsche Hostess in langen, dünnen Strümpfen
überreichte uns als Dank ein silbernes Tellerchen.
13.
Tag: Über Land nach Eskisehir
Einer, der sich anfangs den Stadtnamen nur
mit Hilfe der Eselsbrücke Eßgeschirr hatte
merken können, sollte dort an der neuen Germanistik-Sektion der Uni vor
Professoren und Studenten etwas Merkenswertes von sich geben.
Der neue (marmorne) Busbahnhof von Ankara
gleicht in Ausmassen und Behandlung der Reisenden einem Flughafen: Gleich bei
Betreten wurden wir von Sicherheitsleuten mit dem Metalldetektor an- bzw.
abgetastet. Es gab leider Grund dazu: Die Anzahl der wöchentlichen
Bombendrohungen. Der vollklimatisierte Doppelstockbus brummte bald auf
schnurgerader Piste durch den, die, das boskir
(i ohne Punkt), die spärlich begrünte Hügelsteppe. Seit Jahren müht man
sich, des stetig wehenden Erosionsstaubs mit Baumanpflanzungen Herr zu werden.
Pappeln, Pappeln. Links ein Tümpel, ein Schwarm Störche, über hundert Vögel.
Rechts in der Ferne ein Marmorbruch. Städchen: Polatli, Sivrihisar. Unsere
Begleiterin Gül Hanem, Magisterstudentin, kam aus Deutschland. Sie liebt das
Land ihrer Kindheit und die deutsche Sprache. Was wir während der dreieinhalb
Fahrstunden noch sahen, kommentierte sie sachlich und wie es schien,
emotionslos: Die Truppenübungsplätze, Kanonen- und Flugzeugdenkmäler, die
Neubaublöcke mit mietbilligen Dienstwohnungen, türkisch lojman, für Offiziere; auch berichtete sie von Kasinos mit Sonderpreisen,
Sonderpreise zahle dieser very important Personenkreis sogar beim berber, beim Friseur.
Güls Vater war Möbeltischler, jetzt ist er
Pensionär, baut Küchen ein. Das Rentenalter? Wie in Deutschland, aber man kann
nach 15 Arbeitsjahren bereits Rente beziehen. Wer weniger als 15 Jahre
aufzuweisen hat, darf sich mit der Zahlung von 1 Dollar pro fehlendem
Arbeitstag die Altersversorgung sichern. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu
viel, deshalb malocht, wer die Kraft noch hat, lieber doch bis zum Umfallen.
Der Campus der Eskisehir-Universität
ist eine Stadt für sich. In der Mensa erlesenes Eßgeschirr, wunderbar mild
gewürzte Suppen, Soßen, Salate... Wir kosteten alles, alles kostete uns
nichts, denn wir waren Ehrengast. Unser Vortrag danach sollte von hoher Bühne
herab erfolgen, wir erregten Befremden, als wir den Tisch eigenhändig hinunter
in den Saal hoben: In Augenhöhe des Publikums hätten sich bestenfalls die
staubigen Schuhe des so Hochgestellten präsentiert. Hohe Bühnen sind aber
hierzuland charakteristisch. Gelegentlich unterbrochen von tieffliegenden
Jagdbombern entspann sich bald ein reger Disput mit dem Auditorium über die
Frage, ob die Kinderliteratur der DDR vorwiegend der Indoktrination gedient
habe, oder nicht.
Die Rückfahrt: Vor dem Terminal bedrängen
uns, einander überschreiend, die Anreißer von vier Busgesellschaften, die auf
der Strecke nach Ankara miteinander konkurrierten. Jeder bot Extras an: In
unserem Bus durfte geraucht werden, und alle bekamen ein Schokoladenplätzchen.
14.
Tag: Andere Länder, andere Sitten
Der Mann muß schon nachweisen, daß er
seine - bis zu vier -Gattinnen auch wirklich ernähren kann. Schon deshalb ist
die Vielehe selten: Es gibt in der Türkei nur Arm und unermeßlich Reich, die
unerermeßlich Reichen aber, die nur etwa drei Prozent der Bevölkerung
ausmachen, sind meistens abendländisch erzogen, gebildet, orientiert, so daß
unser Poly-Gatte der dünnen Mittelschicht entstammen dürfte, möglicherweise der
ostanatolischen. Seine eventuell zahlreichen Söhne versucht er später in allen
aussichtsreichen Parteien des Landes zu etablieren, so partizipiert die
Familie immer an der Macht. Wenn es ihm noch gelingt, seine Töchter
fünfzehnjährig an den reichen Mann zu bringen - in einem Alter, in dem sie
noch nicht selbst entscheiden können/dürfen, kann Familienpolitik ihn in die
Oberschicht aufsteigen lassen. Aber bitte, der Fall ist selten, viel mehr
Leute wollen heute in Wissenschaft und Staatsdienst reüssieren.
Eine weniger lukrative Methode, unter
Ausnutzung überkommenen Rechts den Zentren des Wohlstands näherzurücken, sind
die "Nachtgründungen", die gecekondu:
Landflüchtige überbauen zwischen Abend und Morgen ein Stück Staatsland am
Rand großer Städte mit einem "Dach": Vier Pfähle, eine Plane drüber
genügen vorerst: Der so besetzte Grund gilt hinfort als Privateigentum. Kurz
darauf steht dort wieder eins von den zehntausenden Häuschen, die die ansonsten
kahlen Berge rings um Ankara überwuchern, und in denen die Mehrzahl der Einwohner
der Hauptstadt heute lebt. Es sind keine Slums, denn der Staat sorgt nach und
nach für Wasser und Strom.
Mit Dr. Kuglin, dem amtierenden Chef des
Ankaraner Goetheinstituts, stiegen wir den Ulus
hinauf, Berg und Burgruine hoch über der Stadt. Bald folgte uns ein Trüppchen
fröhlicher Schlingel mit denen er türkisch scherzte, während er uns -
gründlicher als jeder Fremdenführer - Vordergrund und Hintergründe ironievoll
kommentierte. So zeigte er uns das fantasiereich, doch keineswegs ethnologisch
fundiert gestaltete "Volkskundemuseum" eines geschäftstüchtigen Herrn
deutscher Abstammung namens Zenger:
Der läßt im Keller das Kamel besichtigen, das der frühere Staatschef Ösal
einst begnadigte, nämlich, als man es während seiner, des Staatschefs,
Wahltournee über Land zu seinen Ehren schlachten wollte.
Wir hätten solche Spaziergänge oder etwa
den Besuch im Hethitermuseum, dem schönsten, reichsten Altertumsmuseum der
Welt, tagelang fortsetzen, jetzt erst tiefer in die "Materie"
einsteigen mögen, aber wir mußten ins Flugzeug nach Frankfurt steigen, und das
enthob uns solcher Pflicht. Fürwahr, es wäre eine Pflicht gewesen, eine
angenehme dazu. Und merkwürdig, so distanziert wir das Land auch beobachteten,
zwei Wochen haben genügt, um es uns lieb werden zu lassen. Und wenn wir heute
daheim einem Türken begegnen, oder einem, den wir dafür halten, möchten wir ihn
am liebsten grüßen wie einen guten Bekannten, mit hos geldiniz, herzlich willkommen.