Am Meer des Friedens
1. Tag: Landung in Helsinki
Man erinnert
sich zahlreicher Losungen. Zum Beispiel dieser: Die Ostsee muß ein Meer des Friedens sein! Keine leere Worthülse,
das, glitten doch damals oft die Bordwände raketenbestückter Schnellboote von
Nato und Warschauer Pakt nur meterweit aneinander vorbei. (Die Wessi-Matrosen
ballerten mit Zigarettenpäckchen, die die Ossis befehlsgemäß ins Wasser
kickten.) Die Ostsee ist ein Meer des Friedens geworden, und eine Tournee durch
ein paar Anrainerländer für unsereinen keine Staatsaktion mehr.
Der Autor dieser
Zeilen beginnt die Reise allerdings per Flugzeug ab Berlin Tegel. Eine
Verzögerung beim Check-in: Eine stämmige finnische Dame exportiert drei
deutsche Rassekatzen, und die Finn-Air-Vorschrift verlangt, daß lebende Fracht
netto, ohne Käfig, auf die Waage gebracht werde, was nun aber die Gefahr des
Entweichens der verstört miauenden Reisenden birgt. Ein herbeitelefonierter
Chef entscheidet folgendes Prozedere: Eine Miez wird auf Frauchens Arm genommen
und brutto gewogen. Frauchen (Tara) muß sich dann noch einmal separat der Übung
unterziehen, unter den Augen einer diskret blickenden Warteschlange, die
Kilo-Differenz wird dann ins Zertifikat eingetragen. Das Gewicht der beiden
anderen Tierlein wird geschätzt, weil sich sonst der Flieger verspätet.
Endlich an Bord.
Der nächtliche Snack, wunderbar frischer Zander, entschädigt das mauzende
Handgepäck. Links der Lichtschein von Kopenhagen. Bald der von Stockholm. Und
schon der Landeanflug, rasender Ohrenschmerz. Die blaue Befeuerung des
Flughafens. Die Uhr eine Stunde vor. Helsinki/Helsingfors.
Daheim schon
Frühling, hier klirrender Frost. Taxi. Die erste Lektion über Finnland fließt
in Englisch aus dem Mund des Fahrers, der Musikstudent ist, Sänger, Opernfach:
1550 Gründung Helsinkis durch Schwedenkönig Gustav Wasa. Finnland bleibt
schwedische Provinz bis 1809, da fällt es an Rußland. 1812 wird Helsinki
Hauptstadt eines autonomen Großfürstentums. 1917 entläßt Lenin dieses in die
Unabhängigkeit. Nolens, volens, da spielt ein gewisser weißer General namens
Mannerheim mit, der auch später noch von sich reden machen wird. Die russischen
Spuren und die schwedischen sind noch präsent. Da leuchten, von Scheinwerfern
angestrahlt, die Kuppeln der Uspenskij-Kirche, der größten orthodoxen in ganz
Skandinavien. Die Aufschriften sind allenthalben auch schwedisch - entlang der
Südküste wohnen viele alte Schweden, und die sind noch heute die betuchteren
Finnen.
Für heute sinkt
der Gast ins Hotelbett, nimmt das Nachttischbuch zur Hand, ein dreisprachiges.
Er stößt auf den Satz, finnisch: kolkuttakaa,
niin teille avataan! Schwedisch: Klappa
på, så skall dörren öppnas för er! Deutsch: Klopfet an, so wird euch aufgetan. Gottes Wort in Gottes Ohr! Der
Schläfer träumt sinnigerweise vom Portal des heimischen Arbeitsamts.
2. Tag: Steine erzählen
Der Autor dieser
Zeilen glaubt inzwischen felsenfest, daß der Blick auf die Dachschindeln einer Stadt
genüge, um auf ihr Befinden, ja, auf ihre Zukunft zu schließen. Istanbul hat
ihn in dieser Hinsicht erschreckt, desgleichen Almaty, Pawlodar, Semipalatinsk.
Die Dächer von Paris lassen hoffen, die von Luzern und Zürich erfreuen das
Gemüt. Aus dem Mansardenfenster des Helsinkier Hotels Anna erblickt er
Blechbeschlag, Erker, viel Verwinkeltes, aber alles in solidem Zustand.
Bevor er das
Pflaster der Stadt unter den Fuß nimmt, hat er Repräsentationspflichten,
nämlich, die deutsche Kinder- und Jugendliteratur würdig zu vertreten.
Eingeladen hat das Goethe-Institut Helsinki. Die Deutsch-Schülerinnen im
Kinderhaus Annantalo (es sind fast immer Mädchen, die freiwillig eine Sprache
lernen) folgen der Lesung aus seinem bisher bösesten Buch mit Anspannung und Interesse,
die Lehrerin moniert hinterher den sozialen bzw. asozialen (Zünd-) Stoff des
Vernommenen: Dergleichen sei den jungen Menschen hierzulande fremd, sie hätten
genug Probleme mit dem Erwachsenwerden, da brauchten sie nicht noch diese
brutalen Sachen. Genüge denn nicht das Thema Familie, erste Liebe,
Selbstfindung?... Der so Gerügte fühlt sich an den Bodensee versetzt, wo
glückliche ProfessorInnen ebenfalls noch nicht ahnen, was in Europa läuft.
Stadtbummel. Ein
Riß in rechter Schuhsohle, durch den Tauwasser eindringt, ergibt das
praktisches Ziel eines Schuhladens. Die Suche nach etwas Bestimmtem empfielt
sich beim Sightseeing.
Es scheint, als
habe der bisweilen hünenhafte Wuchs der Hauptstädter auch die Architektur
geprägt. Was fällt dazu ein: Petersburg! Admiralität! Baumeister Rastrelli!
Aber halt, Rastrelli ist Barock, und das hier heißt laut Faltblatt
Neoklassizismus, Neoromantik, finnischer Jugendstil, Funktionalismus. Aber der
Senatsplatz mit der Uni - das ist Petersburg, wenn auch der Architekt der
Deutsche C. L. Engel ist. Und vor der Freitreppe grüßt ein Denkmal für Zar
Alexander II., der seinen finnischen Untertanen viel politisch-kulturelle
Selbständigkeit gab, nämlich, um ihnen die Lust zu nehmen, sich Schweden
zuzuwenden.
In der Domkirche
- Luther, Melanchthon und Agricola, natürlich nicht unser Georgius, sondern
Mikael, der Reformator, der 1548 das NT ins Finnische brachte und damit die
finnische Schriftsprache begründete.
Genug der
Bildung, der Autor hat nasse Füße. Er landet am Wasser. Anlegestellen, Möwen,
Marktbuden, das Schild KAUPPAHALLI. Hier gibt es zwar kein Schuhwerk, aber Hüte
und Mützen von historischer Fasson. Bunte Eulenspiegelkappen, Hauben mit
Ohrenklappen wie auf Bildern der Breughels. Einer trägt einen Budjonny-Helm mit
rotem Stern. Aber der torkelt von einem der Duty-free-Liner aus St. Petersburg.
Seinen kaputten Schuh trocknet der Autor am Abend mit dem hoteleigenen Fön.
3. Tag: Finnische Bilder
Das Bankhaus
Merita in der Aleksanterinkatu/Alexandersgatan sieht innen aus wie das
Chemnitzer Stadtbad ohne Wasser, und gerade läuft hier eine Ausstellung von
Pressefotos: Die britische Königsfamilie bei Dianas Begräbnis, ganz nah, die
Anspannung in den Gesichtern der Kinder, Haltung zu zeigen. Ein Mann im Turnhemd
atmet aus einem Fenster im zweiten Stock, hinter ihm schlagen Flammen heraus.
Nordirland: Steinewerfer gegen britische Panzerwagen, die verzerrten Visagen
von Fanatikern. Russisch Karelien: Großväterchens Dorfidylle, Parademarsch, ein
Paar, sternhagelvoll, rauchend auf einem verkeimten Sofa, der Frau kann man bis
sonstwohin gucken, das Kind am Herd hebt den Deckel von einem Topf. Moderne
Genrebilder.
Den Autor dieser
Zeilen zieht es weiter, und da er infolge eines durchnäßten rechten Schuhs
friert, landet er bald wieder in einem öffentlichen Gebäude - im Staatlichen
Kunstmuseum ATENEUM. Er betritt die heiligen Hallen, ohne Eintritt zu bezahlen,
einfach, weil er das finnische Wort für Kasse nicht lesen kann. Zwar, der Mann
am Treppenaufgang guckt seltsam, aber das macht ihn nicht stutzig. Er notiert
Malernamen: Modigliani, Repin, sieh an, was sie alles haben. Akseli
Gallen-Kallela, ein düsterer nordischer Jugendstilist, schwarzes Gegenstück zum
goldenen Gustav Klimt. Und Albert Edelfelt, der ein Hansdampf in allen Gassen
gewesen zu sein scheint und viele Geschmäcker bediente. Weshalb er auch
ziemlich berühmt ist. Aber zwei Bilder beeindrucken doch: Eines heißt Convoi d’ un enfant: Ein Ruderboot,
darin schräg hochkant, wie er eben hineinpaßt, ein Kinder-sarg, in den Augen
der Bauernfamilie starre Trauer, die Gesichter einander und auch vom Sarg
abgewandt. Gemalt 1879. Daneben, in kleinerem Rahmen, das gleiche Motiv, wie
eine Studie zum vorgenannten Bild: Das gleiche Boot, die Familie im gleichen
Sonntagsstaat, nur ohne Sarg, diesmal fährt man, wie die Unterschrift verrät,
zur Taufe, das Baby schläft im Arm der Mutter. Der Betrachter schaut noch näher
hin, ja, die Gesichter sind diesmal nicht nur heiter, gelöst, dem Baby
zugewandt, sondern auch eine Spur jünger: Man begleitet das gleiche Kind, ahnt
noch nichts. Und das Kuriose: Das zweite Bild wurde nach dem ersten gemalt, 1880. Der Autor grübelt nicht nur über die
Kunst der Rückblende. In einer Ecke der Museumscafeteria stillt eine junge
Lappin ihren Säugling, und das internationale Publikum rührt ungerührt in den
Kaffeetassen.
Was wäre eine
Hauptstadt ohne ihre Visitenkarte, den Hauptbahnhof! Diesen schmückt ein
quaderförmiger Turmriese, es ist, als hätten sowohl die Erbauer von New York
City als auch Albert Speer bei seinem Schöpfer, dem Neoromantiker Alvas Aalto,
abgekupfert. Innen riecht der Bahnhof nach Konditorei, im Jugenstil-Wartesaal
versuchen ein paar arbabische Jungen Fortuna mit dem Füllhorn am Roulette, die
Frau Croupier lächelt herablassend.
4. Tag: Die hohe Politik
Gestern abend
noch ein außerplanmäßiger Auftritt mit der Po(e)saune. Zuhörer waren
Hobby-Deutsch-Studenten im Goethe-Institut, gestandene Geschäftsleute,
IngenieurInnen, fröhlich, locker, welterfahren. Mit einer klugen Dame kam der
Autor dieser Zeilen hinterher beim Glas Rotwein ins Gespräch. Er erkundigte
sich nach dem berühmten Winterkrieg gegen die Sowjetunion, das Land, an dem
einst so viele seiner Hoffnungen und Zweifel hingen. Die kluge Dame antwortete
merkwürdig zurückhaltend, beinah verständnisvoll gegenüber dem einstigen
Kriegsgegner: Die UdSSR habe 1339 Vorland für das sonst kaum gedeckte Leningrad
benötig, und der Friedensschluß nach dreieinhalb Monaten sei verlustreich
(Karelien!) aber ehrenvoll gewesen. Ob Stalin den finnischen Marschall
Mannerheim als Angreifer habe fürchten müssen? Das nicht, vielmehr, daß
Finnland sein Territorium den Deutschen als Aufmarschgebiet überlassen könnte.
Zu späterer
Stunde wurde die Gesprächspartnerin aber doch mitteilsamer. Man schweige hier
gemeinhin zu dem Thema, betone, daß Finnland im 2. Weltkrieg, der hierzulande
auch Nachfolgekrieg heißt, nicht Hitlers, sondern eigene militärische Ziele
verfolgt habe. Und daß die Deutschen ja „nur“ im Norden operiert hätten. Und
daß es keine Judenverfolgung und keinen Rassismus gegeben habe. Demgegenüber
stehe aber der Bericht einer ihrer Bekannten, einer alten Lappin, deren
Körpermaße damals mit speziell in Finnland erfundenen Instrumentarium vermessen
worden sei, um ihre rassische Minderwertigkeit, ja Gebärunwürdigkeit zu
dokumentieren ...
Gustav
Mannerheim? Während dieser ganzen Zeit war er Marschall, (ab 1944 sogar
Staatspräsident), bezog von Hitler bedeutende Waffenlieferungen, insbesondere
Flakgeschütze - und wer hätte ihm damals diese Art der Kollaboration verübelt -
war doch die Hauptstadt schwersten sowjetischen Bombardemants ausgesetzt. Nein,
ein Quisling war er nicht, und Straßennamen und Denkmäler erinnern an ihn.
Während der
Autor solche Infos aus böser Zeit niederschreibt, sitzt er aber schon wieder
allein im Café des Kaufhauses Stockmann bei einem Munk (Pfannkuchen, mit
Quellmarmelade) und starkem Kaffee. Den geplanten Schuhkauf hat er aufgegeben,
die Preise sind gepfeffert. Er schließt sein Schreibebüchlein und beobachtet die
vorüberflutende Kundschaft, entdeckt endlich das Geheimnis der tannenhaften
Wuchses der Blondinen. Natürlich, sie tragen, wie bei uns, Plateausohlen, die
modernen Kothurnen, mit denen sie über die Show-Bühne ihrer Jugend klappern.
Aber einen halben Kopf größer als gewohnt sind sie dennoch, und man merkt
vielen ihre Bäuerinnen- und Fischerinnenabkunft an: Ein hohes, hartes
Geschlecht mit breiten Gesichtern und kräftigen Gliedern, ihre Sprache
zwitschert irgendwie wie die vom Balathon, mit der sie ja verwand ist, und die
Länge der Wörter kommt hier wie dort von den Endungssilben, wie der Autor weiß.
5. Tag: Zwei Vergangenheiten
Auf zu Helsinkis
Westhafen. Das Gepäck zieht die Arme lang. Check-in wie auf einem Aeroport.
Paßkontrollschleusen für EU - und für Nicht-EU-Bürger. Bei letzterer kaum ein
Reisender, kein Este will offenbar nach Tallin. Die hocherhobene Heckklappe der
Wasa-Queen, Schwesterschiff der weiland Estonia, macht einen soliden Eindruck.
Neun Decks. Man stellt sich das Schiff mit Schlagseite vor, die
Flipper-Automaten, an denen sogleich reges Treiben begonnen hat, Restaurant,
Cafeteria, Nursery, die Conference-Rooms, die Kabinen mit Doppelstock-Kojen ...
Pünktlich
abgelegt. Schären, darauf schwarze Finnhütten, Lagerschuppen, gestapeltes
Birkenholz. Noch Schlittschuhspuren auf den Eisschollen, seit 50 Jahren war die
See nicht so glatt zugefroren. Jetzt rumpeln sie gegen die Bordwand, reiben
sich wogend, knirschend und krachend aneinander, zermalmen ihre Kanten zu
glitzernden Kristallen, die dem schwarzen Geäder der Wasserrinnen gleißende
Säume verleihen bis zum fernen Himmel. Das Kreischen der Möwen über den
Sonnendeck, das gleichförmige Arbeiten des Golem unten im Schiffsbauch, der
Dieselmief hier oben. Irgendwo sitzt eine blanke Robbe und reckt die
possierliche Schnauze zur Sonne, irgendwie tut sie dem Reisenden leid: so
einsam hier draußen, so naß. Nach drei Stunden backbords ein türkisfarbener
Streifen, dann grün, Wald, Kiefern. Schiffskräne, die berühmte Silhouette von
Tallinn. Die Wasa Queen dreht bei. Seufzend trennt sich die Jugend unter Deck
von den Flippern.
Am Kai
Frachterrümpfe: Freedom, Melodia. Rostränder.
Der Ankömmling
verläßt das Hafengebäude. Schlagartig das altvertraute Odium der Sowjetunion.
Es dauert eine Weile, bis die Nase heraus hat, daß es von den Benzinmotoren der
Lkw kommt, der alten Kisten von SIL, URAL; KAMAS; MAS, in grauer Vorzeit dem
Studebaker nachempfunden. Die Fahrer, noch ganz sowjetische Arbeiterklasse,
hager, verwittert, verbittert, die meisten fluchen russisch, aber verhalten,
und letzteres nicht nur wegen der Kippe im Mundwinkel. Denn Russen sind jetzt,
was sie hier immer waren, eine Minderheit, weniger noch, Nicht-Bürger eines
bürgerlichen Staates, der sich anschickt, demokratisch zu werden. Die Bürger
fahren bereits Westautos, gebrauchte und neue.
Und dann gibt es
noch das unmotorisierte Volk. Es spricht teils estnisch, teils russisch und
drängt sich gemeinsam in die klapperigen Trolleybusse. An der Wand des
Wartehäuschens flattert eine Affiche mit einem Dutzend Abreißstreifen: darauf
eine Telefonnummer, ansonsten nichts als der Name SWETLANA POLNOGRUD.
Polnogrud., falls das nicht zufällig der Familienname ist, könnte auch die
Abkürzung von Polnogrudaja sein, vollbusig. Estlands Hauptstadt zeigt auf den
ersten Blick die Spuren seiner jüngeren Vergangenheit, auch wenn es
Kyrillisches in den Beschilderungen getilgt hat. Mit Genuß. Das Alte kündigt
es mit großen Wegweisern an. OLD TOWN.
Davon demnächst.
6. Tag: The Old Town
Tallinn
Das Park-Hotel -
vom Feinsten. Pay-TV. Casino, betreßtes Personal, oxfordlike gehobene Brauen,
als der Gast partout kein Taxi nehmen, sondern zu Fuß ins alte hanseatische
Zentrum will, hin zu den Pfefferbüchsen von Kirchen, spitzen Luginslanden, den
lübeckhaften Wehrtürmen, dem Domberg, , nach Reval.
Merwürdiger
Gegensatz: Die Autos sind bis zu den Scheiben hinauf verdreckt. Car-wash?
Zwecklos bei den Straßen. Und dabei - es liegt kein Papier, kein Müll herum.
Sind die Leute zu arm, was wegzuschmeißen? Aha, sie benutzen die Abfallkörbe!
Je näher der Gast der City kommt, um so häufiger begegnet er statt Leuten
gehobeneren Passanten, dem langen dunklen Tuchmantel, dem glänzenden
Pelzbarett, dem neuen Accessoire Handy, auch bunt angepummelten Touristen. Der
Raekoja Plats, der Markt, mit Rathaus aus dem 15. Jh. präsentiert eine
Digitaluhr, die rückwärts zu laufen scheint - sie zeigt die verbleibenden
Minuten bis zur Jahrtausendwende. Hier freut man sich auf die Zukunft.
Hinweisschilder:
Restoran Karl Friedrich. Kiek in de köök. Toomkirik (Domkirche). Politseiamet.
Baar, Saun, Striptiis. Und an einer Ecke der Straße Sulivamagi dringt unter
blätterndem Anstrich ein vertrautes Wort durch, es muß dort schon vor dem
Einmarsch der Sowjets 1940, vor dem Einmarsch der Wehrmacht 1941, vor der
Rückeroberung 1944 gewesen sein: BUCHDRUCKEREI.
Frau Lind vom
Deutschen Kulturinstitut ist Estin. Sie wäre eigentlich eine Frau Doktor, denn
sie hat eine Dissertation in vergleichender Spachwissenschaft über Beziehungen
ihrer Muttersprache zum Deutschen verfaßt. Aber da sie sich weigerte, diese
Arbeit in Russisch zu schreiben, bekam sie nie Gelegenheit, sie zu verteidigen.
Politik im Gewande des Sprachenstreits, wie so oft. (Estnisch ist, im Prinzip,
eine finnisch-ugrische Sprache, hierorts verstand man schon vor der Wende recht
gut die TV-Nachrichten aus Helsinki.) Heute besinnt man sich, nun nicht mehr
beargwöhnt von der Macht, auf Deutsches: Der Schwertbrüderorden, der Deutsche
Orden - das waren zwar Eroberer, aber auch kulturelle Wurzeln.
Frau Lind
residiert in einem Denkmal, einem wohl gotischen Gemäuer nahe der St.
Olafs-Kirche, aufs feinste restauriert - mit Geld des deutschen AA. Unter
ehrwürdigem Dachgebälk findet das Autorengespräch mit dem (ost-)deutschen Gast
statt: Man versteht sich - schon wegen der gemeinsamen Vergangenheit. Die
Chefin gab die Einführung - gepflegtes Deutsch von liebenswürdig baltischem
Klang, es gibt nicht den kleinsten grammatischen, syntaktischen Ausrutscher.
Tja, meine lieben Chemnitzer, da hieße es, sich eine Scheibe abschneiden ...
Frau Lind erklärt später, daß das Wort für „Deutschland“ „Saksa“ nicht auf die
verehrten Sachsen zurückgeht. Sondern „Saks“ bedeutet estnisch „Herr“.
Herrenmenschen? Nein, so sei das nicht gemeint gewesen. Übrigens gehe der Name
Tallinn wahrscheinlich auf „Taani linn“ zurück, was „Dänische Stadt“ heißt. Die
ersten Eroberer waren hier die Dänen.
7. Tag: Der Pranger
Nachricht aus
Moskau: Die Duma erkennt neuerdings die „Nicht-Bürger“-Pässe an, die Estland
seinen Russen ausstellt. Aus humanitären Gründen (die Anerkennung, nicht die
Ausstellung), denn bisher konnten die Leute nicht mal zu Verwandten reisen.
Ergebnis: Vor dem Konsulat der Russischen Föderation den ganzen Tag eine
Menschentraube, Bedrückung in den Gesichtern: Visa-Antragsteller, wie im
letzten Jahr der DDR, als so viele ins Urlaubsland Ungarn strebten ... Unter
den Wartenden aber auch Leute vom Schlag der dollarschweren „Neuen Russen“, wie
man sie jetzt von Paris bis Istanbul erblickt, schneidige
Lederjacken-Haute-Coture, die obligate Sonnenbrille an der Brusttasche. Es sind
übrigens die einzigen, die man ihre Sprache laut, überlaut sprechen hört - ins
Handy.
Am historischen
Rathaus ist noch der Pranger zu sehen. Das Hals-eisen an der Kette ist blank
von tausend Touristenfingern, es klappt noch auf, und man könnte jederzeit ...
Übrigens müssen die Angeprangerten auf einem auswechselbaren Hocker oder Klotz
passender Höhe gestanden haben, sonst wäre dies Ding ein Galgen gewesen, es
hängt ziemlich hoch.
Der Autor dieser
Zeilen erwartet hier seinen eigentlichen Gastgeber, den Dr. Makowski, Leiter
des Goetheinstituts für das gesamte Baltikum, der zufällig aus Riga angereist
ist. Da kommt er heran mit jungem Wessi-Schritt (schneller, zielstrebiger als
unser Schritt!), erkennt seinerseits den Autor dieser Zeilen an seiner
Wartehaltung.
Abendessen „Bei
Oma“, in anheimelndem Keller-Ambiente, und, welche Wohltat, ohne Pop-Musik. Der
Doktor bestellt, fragt nach, erläutert in sozusagen „nachdenklichem“ Estnisch,
aber eben in Estnisch. „Muß man doch, oder?“ Das heißt, die Sprache des
Gastlandes sprechen. Gemeinsam bricht man in Schimpfen aus über den Weigelschen
Kulturabbau - am Beispiel der Goethe-Institute. Sogleich hat der Autor heraus,
daß er einem Linken gegenübersitzt. (Alle Intellektuellen sind Linke, sonst
sind es eben keine). Der Doktor arbeitete übrigens in den Tagen unserer Wende
in China. Er erzählt, wie die Kulturabgesandten der DDR auf einmal bei den
bundesdeutschen Kollegen angekrochen kamen, wo sie doch zuvor am liebsten die
Straßenseite gewechselt hatten. Der Ossi weiß, daß die armen Kriecher bis dahin
schlicht Kontaktverbot hatten, kann davon seinerseits ein Liedlein singen: 1981
in Luanda, Angola, nach einem Literaturvortrag, besaß er die Chuzpe, mit dem
gleich ihm schwitzenden Bonner Geschäftsträger ins Gespräch zu kommen, sogar in
seinen roten VW-Käfer zu steigen, wobei er von einschlägig Beauftragten gesehen
wurde. Die Folge - eine schweißtreibende Befragung in der DDR-Botschaft. Er gab
zu (Protokoll), daß der Feind ihm von deutscher Vereinigung geschwärmt, und daß
er, der Autor, das sogleich für blauäugige Propaganda erkannt habe. Der Feind,
soviel erinnert er bis heute, hieß Kunz, und dies ist eine Abschweifung.
8. Tag: Good bye, my
love
Rund um die Uhr
ist im Hotelfernseher die Deutsche Welle zu empfangen. In Amerikanisch,
„Doitshe Uelle uorld uide“ stundenweise auch in Deutsch. Doch egal in welcher
Sprache - es wird geschwafelt. Etwa über das Phänomen Guildo Horn. Blühende
Landschaften werden gezeigt, Fachwerkhäuschen, Schlösser und Burgen.
Ostdeutschland kommt da nicht vor - es sei denn in einem Beitrag über
Sanssoussi, was bekanntlich „ohne Sorge“ heißt. Von Tallinns Litfaßsäulen lacht
der Vikinger-Schönling Dieter Bohlen.
Kurzer Bummel
durch das frühere ZUM (Zentralnyi Univermag): Das Angebot blitzt nur so, es
duftet nach Frankfurt, Stuttgart, Mannheim und Hamburger. In der Cafeteria ein
redseliger alter finnischer Sauftourist, der sich sofort heranmacht: Where do
you come from? Ah, Germany. In 1956 I worked in Germany, Kiel,
Howald-Werft, we built submarines. You don’t believe? It’s true, in 1956 ...
Im Taxi zum
Busbahnhof. Der Fahrer ist Russe, er hat das Musikinstrument seines Fahrgasts
verstaut und ist gleich gut Freund: Er selbst war Waldhornist im
Rundfunksinfonieorchester, ist es jetzt aber nicht mehr. Im übrigen sei das
Leben hierzulande „normalno“. Es sei, selbst für die an den Rand gedrängten
„Nichtbürger“, hier besser ist als etwa im nahen St. Petersburg. Und der
Vorteil sogar: Man braucht nicht zur Armee.
Der Busbahnhof
ist ein Relikt, verbeult, verkleidet mit aufgequollenen Faserplatten,
ammoniak-rüchig, der Bus heißt aber schon Euro-Line. Sechs Stunden Betonpiste
liegen bevor. Die bröckelnde Vorstadt, dann Wald, Wald, Wald. Früher soll hier
ein Eichhörnchen von Baum zu Baum glatt bis Moskau gehüpft sein, man konnte ihm
einen Brief mitgeben. Dergleichen Schnurren liest der Fahrgast im ausliegenden
„City Paper“. Auch, daß die Esten früher sehr abergläubisch waren: Wer nach
Dunkelwerden noch aß oder trank, dessen Kinder wuchsen unweigerlich zu Dieben
heran. Nun, (dies steht nicht im Paper) der aufgeklärte, marktwirtschaftlich
orientierte künftige EU-Bürger weiß, daß auch ohne nächtliche Gelage ... halt, diese
Glosse gehört wohl in die Harald-Schmidt-Show.
Aus dem
Lautsprecher wimmert eine Kassette Good bye, my love, good bye, Musik für
Meerschweinchen. Dann doch liebe Wyssozki oder Schufutinski, die in den
kasaschischen Bussen genervt haben, wo der Autor dieser Zeilen vor drei Jahren
reiste. Überhaupt drängt sich der Vergleich auf: Hier wie dort der Geruch
schwerer Mäntel, die freundliche gegenseitige Bewirtung: Jemand wickelt Konfekt
aus, jemand Salzgurken ... Nur wirkt hier alles städtischer, die vorbeigleitenden
Höfe aufgeräumter. Der Border control point: die Gebäude - Strukturblech, Glas,
die Uniformpullover aus Bundeswehrbeständen, drei Schlagbäume. Dann Lettland:
Kampfanzüge, vier Schlagbäume, die am Strick hochgezogen werden.
9. Tag: Ännchen von Tharau
Die Busfahrt
durch Lettland. Das schräge Licht der flach am Himmel stehenden nördlichen
Sonne, fast übergangslos Dämmerung und Nacht. Riga. Jugendstil, die Reko läuft.
An der Hotelrezeption als Empfangschefs zwei Polizisten. Das Bad, statt der
Mischbatterie ein Schild: Warning! Very hot water. Und durch die Wand die ganze
Nacht heißer Sound von RTL2: Null hundertneunzig, ruf an!
Morgens kommt
Edvins Martinsons mit dem Mercedes-Kleinbus vom Goethe-Institut. Die nächsten
Tage wird er chauffieren, und dem Fahrgast wird es peinlich sein, daß ihm
jemand den Koffer trägt. Edvins ist Maschinenschlosser, hat noch fern am Amur
bei der Sowjetarmee Panzer repariert, berichtet von Zwischenfällen an der
chinesischen Grenze. Jetzt ist er Hausmeister und Mädchen für alles bei
„Goethes“, spricht erstaunlich deutsch, die Unterhaltung läuft aber dann doch
meist russisch. Es geht durch Kurland, immer parallel zur Küste. Aus dem Boden
gestampfte Siedlungen, zweistöckig, mit Farbe wären sie noch schöner. Edvins
gebraucht das estnisch-deutsche Wort Kiek in de köök, man könne sich hier
gegenseitig in die Küche gucken. Zwischen Wohnhäusern müßten schon hundert
Meter liegen, findet er, als Lette ... Entlang der schnurgeraden Chaussee immer
mal Unfallkreuze. Wie daheim. Reguläre Dorffriedhöfe, angelegt mitten im Wald,
Tankstellen mit Sanitätsstation.
Liepaja, Liebau.
Ort exzessiver Geisel- und Judenmorde durch Wehrmacht und lettische SS.
Autorengespräch vor sprachgewandten DeutschstudentInnen der Pädagogischen
Hochschule, die sogar zwei Bücher des Gastes kennen und wissen wollen, wie ausländerfeindlich seine Landsleute
denn nun seien, und woran sich das zeige. (Sie erbitten Beispiele.)
Cholesterinreiches Mittagessen mit der Lehrstuhlleiterin. Sie beklagt, daß die
meisten das Studium zum Absprung gen Deutschland benutzen werden, auch deshalb
seien sie so „löblich strebsam“. Aber man habe eben doch auch manchmal
Bedenken, das das Land der Träume anlangt.
Noch diesen
Nachmittag geht’s weiter nach Litauen.
Die Hafenstadt
Klaipeda, vormals Memel. Abendspaziergang ohne Edvins, der sich aufs Ohr gelegt
hat. Schneereste, Frost, aber gleichbleibend blauer Himmel, das Loch in der Schuhsohle
ist vergessen. Vor dem Stadttheater ein Ännchen-von-Tharau-Brunnen - der
Dichter des Liedes, Simon Dach, ist hier 1605 geboren, das Geld für das Denkmal
kam 1989 aus Mainz. (Steht alles dran.) Und wie der Besucher dies notiert,
kommt ein hochgewachsener alter Herr auf ihn zu gestakst und raunt ihm deutsch
und im Verschwörerton zu, daß auf diesem Platz einst der Führer gesprochen
habe.- Und er nimmt den Fremden mit in Richtung Hafen, dort steht, eingeklemmt
zwischen verfallenden Dächern, das Simon-Dach-Geburtshaus, aufs feinste
restauriert, jetzt Kneipchen, man schenkt Holsten, die Welt ist in Ordnung, nur
die Russen sind Schurken.
10. Tag: Bernstein
Noch Zeit bis
zum Auftritt. Edvins hat sich eine Überraschung ausgedacht. Es gibt eine
Autofähre übers hier noch schmale Kurische Haff. Drüben beginnt die Nerija, die
Nehrung, ein ca. 100 km langer Landstreifen, der das Haff von der Ostsee
trennt, mit einer Autostraße in die russische Exklave Kaliningrad oder
Königsberg. An der Anlegestelle ein paar Kioske. Kleiner Snack. Um den
Nachbarstehtisch und eine Cognakflasche fünf würstchenessende Typen in
Ledermänteln neben einem Mecedes mit Moskauer Kennzeichen. Mafia? Edvins blickt
eine Weile aufmerksam in seinen Kaffee und nickt dann mit Bestimmtheit: Hier
draußen in der Natur, und trotz Schnaps die Unterhaltung so leise, daß man kein
Wort versteht? Und das sieht doch jeder: Das Auto kommt neu aus dem Laden. Nur
Mafiosi kaufen ihre Privatautos legal.
Ein
asphaltierter Waldweg quer über die Nehrung, junge Kiefern. Dann Möwengeschrei,
Grasdünen, der Ostseestrand, Geruch nach Tang. Die See blitzt klar. Und Edvins
beginnt sogleich, sich hier und da zu bücken. Die baltischen Ufer sind die
Haupt-Fundstellen für Bernstein in der Welt, und man vermutet einen Handelsweg
zu den alten Griechen, denn schon Homer erwähnt den honiggelben Stein. Man muß
aber vorsichtig sein, sagt Edvins und verbietet dem Gast, sich seinerseits zu
bücken: Vor Jahren hat die Sowjetmarine vor der Küste Phosphorgranaten aus dem
2. Weltkrieg verklappt, einfach ins Wasser geschmissen, die Geschoßmäntel haben
sich zersetzt, und der Phosphor wird gelegentlich angeschwemmt - in Form gelber
Steinchen. Bei Erwärmung ... Edvins riskiert also seine Haut, findet ein paar
Krümel. Sie tun nichts.
Eine verrottete
Stromleitung hart am Wasser entlang, umgebrochene Masten, sich ringelnde
Kabelenden. Dem Autor dieser Zeilen fällt der alte Witz ein, den man sich
damals mit der Leninschen Gleichung erlaubte: Kommunismus, das ist Sowjetmacht
plus Elektrifizierung des ganzen Landes: Was aber ist dann Elektrifizierung des
ganzen Landes? Kommunismus minus Sowjetmacht?
Die Kabel sind
Hinterlassenschaft der sowjetischen Grenztruppen - hier herrschte ein strenges
Regime. Der Ossi-Ostseeurlauber kennt dieses Regime noch aus der Zeit, wo das
Hinausschwimmen auf Luftmatratzen untersagt war.
Zurück auf die
Fähre und gleich zur „Deutschen Schule“ Edvins hat das Auto voller Bücherpakete
vom Goethe-Institut, und auch hier liefert er eines ab: Deutsches Lesefutter
für die Eifrigen.
In Klaipeda,
Memel, existieren noch heute nicht wenige Familien, in denen ein Ahnherr oder
eine Ahnfrau deutsch redeten, sie schicken ihre Kinder hierher, wo diese ab der
zweiten Klasse - zur Schule kommt man mit sieben - die Sprache lernen. Und das
Ergebnis ist frappierend: Schon Schüler der Klasse fünf überhäufen den Gast mit
gescheiten, weil nicht vorbereiteten Fragen in lockerem Schülerdeutsch. Zwei
ihrer Lehrerinnen sind Bundis, eine Wessi, eine Ossi. Und beide sind sie lieb
mit ihnen, das spürt man, und beide tragen Bernstein.
11. Tag: Stippvisite in Kaunas
Die A1
südostwärts, diesmal eine echte Autobahn, vierspurig, nur ohne Leitplanken. Von
Zeit zu Zeit offiziell ausgeschilderte Wendestellen. Traumhafter Verkehr -
kilometerweit nur der Kleinbus des Goethe-Instituts. Rechts und links wehen die
hohen Halme von vorjährigem Federgras. Weites Feld, gelegentlich die
verfallenden Höhlen ehemaliger Genossenschaftsscheuen, eine
Maschinen-Traktoren-Station, jetzt Schrotthaufen, das Verwaltungsgebäude
abgefackelt. Und dennoch die Felder in gutem Zustand, da und dort die neuen
Dörfer, Typenbauten, wie man sie auch in Lettland sehen kann, denen zur
Schönheit der Anstrich fehlt, sonst hätten sie einen Anstrich von Schönheit.
Der Fluß Neris, der hier in die Memel fließt. Kaunas, in der Zeit der
polnischen Besetzung von Vilnius (1920 - 1939) Litauens Interimshauptstadt. Die
Vorstadt Betongeklotz, danach wird’s noch einmal dörflich, Katen,
blaugestichene Bretterzäune, unvermittelt schwarze Straßenschluchten, der alte
Chemnitzer Sonnenberg läßt grüßen. Und plötzlich eine elegante Fußgängerzone.
Gerade ist Ladenschluß, die Besitzer sichern ihre Geschäfte mit schweren
Vorhängeschlössern - offenbar ein nordischer Brauch, dergleichen hat der Autor
dieser Zeilen schon in Helsinki gesehen.
Das Hotel.
Erster Eindruck: Bei den kühnen Erbauern war der rechte Winkel noch nicht
Allgemeinwissen. Zweiter Eindruck: Ein Paar verkeimte Socken des Vorgängers
über kalten Heizungsrippen. Dritter Eindruck: Die Kuhle in der Matratze. Der
Gast besorgt sich noch einen Imbiß im „Café“ des Hauses und darf das Geschirr
mit aufs Zimmer nehmen, Pionier-Ehrenwort, daß er es wiederbringt. Neben der
Dusche liegt eine vergessene Rohrzange - mit dieser gelingt es, den
Plastikverschluß der Seltersflasche abzuschrauben, dem Gast stößt noch einmal
geballte Sowjet-Erinnerung auf. Licht aus, gute Nacht.
Morgens sieht
die Welt anders aus. Kleiner Rundgang: Aus der weißen Kathedrale klingt schöner
Gesang. Die Messe, gut besucht, jedermann kniet. (Litauen ist, im Gegensatz zu
Estland und Lettland, katholisch.) Auch junge Leute treten ein, sinken für
einen Moment auf zerfurchte Steinplatten, erheben sich, die jungen Damen
kontrollieren ihre Nylon-Knie.
Mitten auf dem
Vorplatz aber kniet aufrecht wie ein Obelisk ein bärtiger Opa auf einem Kissen,
die geöffnete Hand vorgestreckt, Bitten an den Herrgott und die Passanten
murmelnd. Letztere geben Kleingeld, auch Bonbons und Kekse. Gerade ist
Wachablösung: Den Platz auf dem Kissen nimmt Oma ein, in einem blitzsauberen
gehäkelten Umhängetuch. Beiden Alten ist Würde nicht abzusprechen. Weniger
würdevoll gibt sich die Schuljugend. Auf dem Hof steht eine Streetballanlage.
Sieben Jungen werfen den Ball. Wer danebentrifft, stellt sich demütig in
Positur und empfängt sechs Tritte in den Hintern. Und dann erkennen sie den
anmarschierenden Autor (nach dem Ankündigungsplakat), und eskortieren ihn im
Triumph in ihre Aula.
12. Tag: Vilnius, Litauens Metropole
In Edvins „Bordfunk“
Eric Claptons süßes Geklingel. Edvins sieht aus dem Augenwinkel den Fahrgast
gequält die Stirn furchen und wechselt die Kassette: John Lee Hooker, später
Ella und Louis, Billy Holyday, er hat was für jeden Geschmack. Das Gespräch
kommt auf die Nationalhymnen der Nachbarn, und der Autor dieser Zeilen wird
später seine einschlägige CD-ROM konsultieren: Die estnische Hymne klingt wie
die muntere finnische (3/4-Takt!), wird nur schleppender vorgetragen. Die
lettische ist eindeutig ein Choral, die litauische sehr, sehr lang und erfüllt
von hohem Pathos. Dementsprechend führen die drei erstgenannten Länder nur die
üblichen Löwen im Staatswappen, die Litauer hingegen einen schwertschwingenden
(Kreuz-)Ritter hoch zu Roß. Apropos Rösser: Die Überlieferung erzählt, daß im
ersten Jahrtausend königliche Tote zunächst mumifiziert und ein halbes Jahr
lang aufgebahrt wurden. Dann, am Rande der Verbrennungszeremonie, fanden
Pferderennen statt, und der Sieger gewann die Hinterlassenschaft des
Verblichenen. Rennpferde standen hoch im Kurs. Heute sind es mehr die
Zugpferde: Jüngst wurde ein US-Amerikaner zum Präsidenten gewählt: Valdas
Adamkus, vor mehr als einem halben Jahrhundert in die Staaten ausgewandert,
soll die Karre aus dem Dreck ziehen. Und Investoren an Land. Den Dollar.
Noch aber
klimpern in den Taschen des Fahrgasts die Litas.
(Leicht zu verwechseln mit den lettischen Lats,
den estnischen Kronen, schwerer, sie
zu wechseln, die Wechselstuben bevorzugen die Währung von Mr. President. Aber
was soll hier Ironie: Wir haben unseren
Biedenkopf. )
Vilnius, Wilna.
Weder östlich noch westlich, weder skandinavisch noch polnisch, sondern von
jedem etwas, auf dem besten Weg, eine Perle zu werden. Allenthalben wird
restauriert: überall Gerüste, Schläuche, Mörtelwannen. Edvins führt den Autor
dieser Zeilen in die Kneipe „Zum Parlament“. Studenten, junge Geschäftsleute,
seriöse Graubärte. Es heißt, die Litauer hätten, im Gegensatz zu ihren
stoischen baltischen Nachbarn, schon südliches Temperament. Das scheint sich zu
bestätigen - der gemütlich dunkle Raum ist erfüllt von Stimmengewirr und
verhaltenem Gelächter, ohne, daß jemand blau wäre. Auch vertrautes Deutsch ist
zu hören, ungeniert: „Den’ ihr’n Bernstein derfste ni koofen, die bescheißen.
Außer, se fackeln die Kette mal kurz an. Wenn’s recht räuchern tut, isse echt.“
Im Hotel
„Viktoria“ steht ein Bücherschrank auf dem Gang: Micolas Sluckis. Daneben N. I.
Bucharin, Mitkämpfer Lenins, nach einem der Stalinschen Schauprozesse 1938
hingerichtet: „Wege zum Sozialismus“ (Schon der Plural: „Wege“ war ja
todeswürdig.) Und in Deutsch: Peter Hebel: „Mördersommer“, drei
Krimi-Leckerbissen. Gute Nacht. Am Morgen informiert den Gast ein Reklameheft,
daß es hier einen großen Friedhof aus abgetakelten steinernen Lenins und
Stalins gibt. Neu errichtet hingegen wurde ein Standbild - nein, nicht
Bucharins. Frank Zappas.
13. Tag: Das Tor der Morgendämmerung
Es war
ursprünglich das südliche Stadttor und wurde im 17. Jh. mit einer Kapelle überbaut.
Der in Silber gefaßten Marienikone werden Wunderkräfte zugesprochen, und noch
heute erinnern die Pilger folgende Geschichte: Als die Wehrmacht einen Zug
Juden aus dem Wilnaer Ghetto hinaustrieb in den Wald bei der nahen Stadt
Paneriai, (wo insgesamt 100.000 Menschen erschossen wurden), sank eine Frau unter dem Marienbild auf die
Knie und flehte um Rettung für ihr Baby. Sie erhob sich und warf das Kind in
die dichte Schar stummer Zuschauer, die den Weg säumten. Andere Mütter folgten
ihrem Beispiel. Und die Menge schloß sich um die Kinder und entzog sie dem
Zugriff der Soldaten. Mal abgesehen davon, daß selbst in dieser Story noch ein
Stück Antisemitismus steckt (Eine Jüdin kniet nieder, konvertiert quasi, erst
dann empfängt sie die Hilfe der Mater MisericordiØ)
- abgesehen davon ist sie gut erzählt und spricht ganz nebenbei vom belasteten
nationalen Gewissen auch der Litauer: Nicht wenige aus der Generation der
Urgroßväter haben sich am Judenmord beteiligt.
Um einen
Überblick über die wechselvolle Historie dieser Stadt allein in diesem
Jahrhundert zu bekommen, hier Auszüge aus einer Zeittafel, entnommen dem
Reiseführer „Vilnius In Your Pocket“:
1920 - Polen annektiert die Stadt. 1939 - im Gefolge des Molotow-Ribbentrop-Pakts
wird das gesamte Baltikum sowjetisch. 1941-1944 hausen die Nazis. 1944 -
Resowjetisierung, Massendeportationen
in die Gulags. Litauischer Partisanenwiderstand „Die Waldbrüder“ bis 1953. 1990
- 300.000 Demonstranten skandieren vor Michael Gorbatschow das russische Wort nezavisimost’, Unabhängigkeit. 1991,
Januar - sowjetische Spezialtruppen besetzen den Fernsehturm, sie töten dabei
14 Zivilisten. August: Putsch in Moskau. Ab jetzt geht es mit Vilnius’
Unabhängigkeit zügig voran, Abzug der Sowjettruppen, Aufnahme in den Europarat
und die UN. 1996, Mai - Eröffnung des ersten McDonald’s-Restaurants. Ende des
Auszugs. Der Verfasser der Zeittafel ist zweifellos ein Ironiker, wie
sympatisch.
Das
Literaturfeier in der Schule beginnt mit kleiner Verlegenheit: Der Chor, der zu
Ehren des Besuchers schon aufgereiht auf der Bühne trippelt, die
Haarschleifenmädchen, die Knaben in Kommunionsanzügen, sie können nicht
beginnen, weil der Schlüssel vom Vorhängeschloß am Klavier fehlt. Der
Hausmeister kommt mit der Zange, und dann drei, vier, deutsch, der Refrain schließt mit olé. Gerührt packt der Autor
seinen Realismus weg und sucht was Hübsches raus. Kleine Verlegenheit am
Schluß: Ein Kind fragt, welchen litauischen Dichter er besonders mag ...
Abendlicher
Souvenirmarkt. Bernstein, Militaria,
Boulevardmaler, gut angezogene Spaziergänger, plötzlich das Flair vom
Montmartre. Und dem Autor fällt endlich
ein lange gesuchter Stilvergleich zwischen der Pariser Haute Coture und der baltischen ein: Dort ist die Eleganz
locker, nonchalant, hier ist sie zwar nicht weniger kostbar, aber noch zu neu:
straff, wirft keine Falte.
14. Tag: Schakpas und Schüsseln
Abschied von Vilnius, der bis in die
Außenbezirke saubergefegten Stadt. Hier und da Flächenbrände, Wiesen werden
abgefackelt, die Asche soll düngen. Gelegentlich auf dem unbefestigten
„Sommerweg“, entlang der Straße Nr. 101 ein flacher Ackerwagen mit
„Panje“-Pferdchen und bärtigem Großvater. Schwarze Eichhörnchen. Imkerhöfe,
blinde Scheiben. Woran erkennt man, daß ein Anwesen noch bewohnt ist? An den
Bergen frisch gehackter Scheite im Hof. Dies ist die geografische Mitte
Europas. Ortsnamen: Paberze, Vakutenai. Zarazai. Wieder Schlagbäume, Uniformen,
verbeulte Wohnkontainer als Zollstation. Und ein Bürger mit Quittungsblock
teilt mit, daß man durch einen Nationalpark gefahren sei (es ging gar nicht
anders), und daß das 50 Litas kostet. Edvins verzieht keine Miene und zahlt.
Wieder Lettland. Daugavpils an der Daugava oder Düna, die hier schon ein
breiter Strom ist. Die Vorstadt sehr dörflich, der Bus wippt durch gefrorene
Pfützen, es flüchten magere Katzen und Köter. Man trägt Galoschen, geht
untergehakt, die Kinder haben noch die Uschanka mit den hängenden Ohrenklappen
auf, die billigste Variante der Schapka. TV-Schüsseln an jedem zweiten Haus.
Gleich der Auftritt: Wenn der Autor
beim Vorlesen hier und da einen Schlüsselbegriff seiner Geschichte russisch
benennt, leuchtet Verständnis auf in den Augen der angestrengt Lauschenden. Und
die Posaune, eigentlich nur zur Untermalung gedacht, bewirkt heiteren
Brückenschlag. Noch diesen Nachmittag geht es weiter in die Hauptstadt, zurück
nach Riga. Abschied von Edvins, visu labu, man hat wohl an die 4000 km zusammen
runtergeschrubbt. Visu labu heißt auf Wiedersehen, und er erzählt noch, daß unsauberes
Lettisch (in den Medien) Geldbußen nach sich zieht: Die Staatssprache soll
wieder rein erklingen. Das Land
Sachsen könnte bei entsprechender Gesetzgebung auf alle Haushaltsperren
verzichten.
Die Hotelnacht,
diesmal ohne RTL2 durch die Zimmerwand. Dr. Makowski, der Leiter des
Goethe-Instituts hat seinen Autor ins Dreisternehotel „De Rome“ zum Frühstück
eingeladen, und so ist ein morgendlicher Stadtbummel schon aus Hunger
unausweichlich. Die Freiheitsstatue, der auf Liberty Island nachempfunden,
errichtet anläßlich der ersten Unabhängigkeit 1920, sollte zu Sowjetzeiten
abgetragen werden, weil es angeblich baufällig war. Doch immer, wenn die
Bautrupps anrückten, war „zufällig“ eine so dichte Menschenmenge versammelt,
daß der Coup vertagt werden mußte. Und so steht das Denkmal heute noch. Es
versammeln sich darunter protestierende russische Veteranen, protestierende
lettische Pensionäre. Was gibt es zu protestieren? Nun, etwa dagegen, daß
ehemalige Angehörige der lettischen SS (die ebenfalls hier aufmarschieren, sich
zu Freiheitskämpfern stilisieren) von der BRD monatlich 100 DM Kriegsrente
beziehen, während die Überlebenden des Ghettos die einmalige Abfindung vom 400
Dollar erhielten. Im „De Rome“ ordert
man das Frühstücksei „four and a half minutes boiled.“
15. Tag: Heimreise mit Dichterin
Die wacker
ergrauenden deutschen Schulmänner und -frauen, die hier im Norden ihren Dienst
im Dienst deutscher Sprache und Kultur versehen, leiden erklärtermaßen unter
den langen Wintern. Aber übereinstimmend heißt es, daß mit dem ersten
Frühlingsstrahl nicht nur die eigene, sondern auch die Stimmung der
Einheimischen sich hebt, daß das Lächeln und das Lied wiederkehren. Einen
solchen Fall erlebt der Autor dieser Zeilen im Reisebus, der ihn zurück nach
Tallinn bringt. Eine junge Dame telefoniert wortreich auf deutsch mit ihrem
„lieben Herrn Geschäftsführer in Essen“. Sie plaudert: „Wir leben nun mal im
Zeitalter des Telekommunismus“, sie lacht glockenhell - und erbittet drei Tage Urlaub. (Den sie mit dieser
Busreise schon angetreten hat.) Nach dem lieben Geschäftsführer ist die
Sitznachbarin dran, sie erhält detailliert Auskunft - ja worüber? Das Gespräch
läuft lettisch, was der ungebildete Zuhörer am „ja“ und „ne“ (das heißt ja und
nein, tatsächlich) notfalls erkennt. Nach zwei Stunden steht die Sprecherin auf
und bietet dem Fahrer Konfekt an - auf Russisch - zur Entschädigung, daß sie so
viel redet. Aber, wes das Herz voll sei, des gehe der Mund über. Er lacht und
meint, das Konfekt sei gut, sie solle ruhig weiter ihr Herz ausschütten. Auch
die Fahrgäste kriegen Pralinen, die Schachtel ist leer, das Herz nicht, gegen
Ende der sechstündigen Fahrt singt die junge Dame sogar. Später trifft der
Autor dieser Zeilen sie auf der Vanna
Tallinn wieder, wie sie ihr Glück bei einem Spielautomaten versucht. Und
er, der Autor, läßt sich zu einer Bemerkung hinreißen, worauf sie sofort vom
Automaten abläßt und sich einen Stuhl zu ihm heranzieht. Sie ist studierte
Pharmazeutin, vertreibt aber zur Zeit deutsche Kräutertees im Baltikum. Ihr
Ideal - allen Menschen Gutes zu tun. Wenn alle Menschen einander lieben - er
unterbricht sie und schlägt ihr vor, Dichterin zu werden. Damit hat er das
Stichwort gegeben: Sie beginnt Eigenes zu rezitieren, russisch, Regen auf
meinem Gesicht, ich schließe die Augen nicht, ich warte, wenn die Blätter
fallen, ich warte auf Dich... Sie bedauert, ihre Gitarre nicht hier zu haben.
Und endlich begreift er, welches Problem sie hat: Sie ist ein spätes Mädchen.
Und leider ein ganz liebes ... Der
Beginn einer Karaoke-Veranstaltung inmitten finnischer SäuferInnen gibt ihm
Anlaß, sich in seine Kajüte zu verabschieden. Am Morgen geht er in Helsinki von
Bord, die Urlauberin winkt aus einer anderen Zollschlange.
Bis zum Abflug
nach Berlin hat er über neun Stunden, aber um noch einmal aufzubrechen, ist zu
kaputt von zwei Wochen „Dienstreise“, vom Unablässig-Präsentsein. So hockt er
zwischen kleinen, wie er selbst strapazierten Japanern, reckenhaften Finnen in
nationalen Mützen, müden mongolischen Müttern und läßt den Rest der Welt an
sich vorüberfluten. Und er löst, zum ersten Mal im Herbst seinem Lebens, das
Problem des Kaugummiblasen-Machens, das hernach den Mongolenjungen neben ihm
für die nächsten Stunden ebenfalls beschäftigt.