Günter Saalmann

Mops Eisenfaust oder

Der Blindgänger/Justus im Krieg

Roman



Auf einmal ist er Mopswange und wieder ganz klein.

 

Heitler schimpft.

Unter dem Schrank mit den hohen Beinen sitzt Mopswange auf dem Topf, kippelt ein bisschen und lauscht auf Heitlers Stimme. Ein Tönchen quietscht aus seinem Hinterteil, Mutti sagt: "Untersteh dich, so ein großer Junge!"

"Sirene", antwortet er listig und lässt ein kleines Gelächter los. Muttis Hand mit dem Staubtuch wischt eilig um die Schrankbeine, fährt in alle Rillen. Ihr Gesicht sieht aus, wie wenn sie sagt: Mit mir ist heute nicht gut Kirschen essen. Sie bleibt stumm. Er mag ihr Kirschenessengesicht nicht.

Also probiert er die Sirene noch einmal. Diesmal mit dem Mund. Aber doch so, dass sie denken muss, nicht mit dem Mund.

"U-i-i-i..." Er strengt sich mächtig an.

Merkt sie den Spaß nicht? Wenn er wirklich müßte, würde er schnell zum Klo laufen, sie hat extra für ihn die Ziehkette mit Bindfaden lang gemacht. Und er hat ja auch seine Strickhosen über dem Po. Er sitzt bloß so zum Spaß auf seinem alten Topf, kippelt ein bisschen, hört zu, wie Heitler schimpft.

"U-i-i-i..." Oh, er kann laut quietschen, es juckt im Ohr. Er muss sie doch zum Lachen bringen. Dann legt sie bestimmt das Staubtuch weg, nimmt seine Wangen zwischen ihre Hände, dass sein Mund ganz spitz wird, sagt: Mopswange, mein tüchtiger Junge.

Und er wiederholt: Mopfange.

"U-i-i-i..." Er quietscht so toll es geht. Nichts. Sie ist hinaus gelaufen, er hört sie in der Küche hantieren. Vielleicht hebt sie sich das Lachen für nachher auf, wenn Tante Meier da ist. Die soll heute mit dem Eimer heraufkommen. Sie ist Muttis Kraft beim Saubermachen. Sie werden alle drei lachen, Mopswange am lautesten. Über den tüchtigen Jungen Mopswange, der so fein die Sirene machen kann.

Tüchtig, das ist er. Wenn der Weihnachtsmann kommt, hat er Geburtstag. Er weiß schon alles:

Sirene. Die richtige, große Sirene steht auf dem Dach und kann heulen.

Heitler. Er sitzt im Radio. Im Radio im Schrank, unter dem Mopswange sitzt. Heitler wohnt über Mopswange. Heitler kann schimpfen und dann auch wieder schöne Musik machen.

Ja, Mopswange weiß Bescheid. Er spricht hochdeutsch, nicht kölsch wie Tante Meier, nicht wie Onkel Meier. Mutti sagt immer: Wir sprechen hochdeutsch, wir sind nicht Meier, Müller, Schulze. Mopswange kann auch rechnen: Eins und eins sind zwei, zwei und zwei sind drei, drei und drei sind vier. Und so bis zehn. Danach kommt bloß noch die Zahl Mijonmijarde.

Mijonmijarde Schweine.

So einen Haufen Schweine hat Mops tatsächlich schon einmal gesehen. Das war in dem Dorf am großen Rheinwasser, da war Mops mit Onkel Meier Nüsschen sammeln.

Manchmal nämlich, wenn Mutti und Tante Meier die Wohnung putzen, gehen Mops und Onkel Meier Nüsschen sammeln. Erst fahren sie mit der Straßenbahn, schauen aus dem Fenster, dann spazieren sie Hand in Hand. Der Onkel hinkt ein bisschen, sein eines Bein ist ab, ganz ab putiert, und der Doktor konnte es nicht wieder dran putieren, so hat er eins aus Holz genommen. Da hinkt Mops immer ein bisschen mit, so machen sie zusammen Spaß.

Der Onkel muss sich oft ausruhen. Da sitzt er dann irgendwo still für sich, schluckt aus der Thermosflasche und macht: "Umb!" aus seinem Hals.

Das eine Mal kroch Mops beim Sammeln unter einem Holzbalken durch. Da lagen viele Nüsschen, ganz blanke, manche mit einem kleinen Hütchen, die waren von dem Baum gefallen. Eben hatte er eine Hand voll gesammelt, drei große Nüsschen, da kamen sie, die Schweine. Mijonmijarde. Und ein großes dickes hat "uch, uch" gemacht und toll gestunken und Mops umgeworfen. Schon wollte es Mops fressen, schnuffte schon mit seiner nassen Nase an der Hand herum, wo die Nüsschen drin waren.

Da kam Heitler mit einer schönen Musik, die an einem bunten Band um seinen Hals hing. Heitler hat gesungen, plötzlich aber die Musik ins Gras gelegt und ist Mops zu Hilfe geeilt.

Mops erinnert sich noch an Heitlers weiße Kniestrümpfe, wie sie über den Balken sprangen. Die Schweine sind davongelaufen, und Mops hat nicht geweint, sondern mutig gerufen: "Haut ab, böse Schweine!"

Da wurde er aber schon über den Balken gehoben und auf Onkel Meiers Schulter gesetzt, der gerade ganz atemlos angeschnauft kam.

Heitler aber hat seine Musik genommen und ist schnell im Gebüsch verschwunden. Mit ihm waren noch mehr große Jungen und Mädchen, und sie trugen Ansteckblumen an den Kniestrümpfen.

Mops kennt solchen Blumen: Sie heißen Edelweiß.

Mops weiß alles. Manchmal mehr als Onkel Meier.

Der hat gar nicht erkannt, dass das eben Heitler war.

"Na, mit der Musik!" hat Mops ihm geholfen.

"Mit dr Musik?"

"Na, im Radio singt er auch immer!"

Onkel Meier hat gestaunt über Mops und ganz toll gelacht: "Wat du nit allet in dingem Köppchen häs! Richtich. In mingem Radio sing hä ooch."

"Stimmt's, manchmal singt er, manchmal wieder schimpft er. Aber er ist lieb."

"Jenau su is et. Hä schäng, ävver hä paß op, dat die falsche Käls dene Kinder nix dun."

"Und die Schweine auch nicht." Zufrieden ist Mopswange ein bisschen auf Onkel Meiers Schultern herumgehüpft. Er weiß: Darum heben alle Leute die Heitlerhand zum Gruß. Die Heitlerhand, nicht die andere, die linke Hand heißt.

Später in der Straßenbahn musste Mops dauernd die knurpelige Nase des Onkels betrachten, die auf einmal so rot leuchtete. Und er musste noch ein bisschen Spaß machen auf den Schreck mit den Schweinen:

"Stimmt's, Onkel Meier, du begießt deine Nase mit rotem Wein?"

Denn das hat Mutti gesagt: Onkel Meier begießt seine Nase mit Wein. Onkel Meier hat dieses Mal nur ein bisschen gelacht, weniger als Mops und sogar weniger als die Leute in der Bahn.

Der Heimweg führte wieder an dem Haus vorüber, wo im Eingang immer der Soldat Wache steht. Der Soldat kennt den Onkel und nickt knapp, wenn der hineingeht.

Mops hat derweil gründlich das Gesicht unter dem Stahlhelm angeschaut, das große Kinn, die tapferen Wangen. Mops kann an den Wangen sehen, wie tapfer der Soldat ist.

Tapfer sein heißt: Zähne zusammenbeißen.

Der Soldat biss die Zähne zusammen, als Mops sich hinhockte, an dem Soldatenknie roch und fragte: "Wie heißt du? "

Aber da war Onkel Meier schon zurück, hat Mops schnell bei der Hand genommen und mit dem Auge geblinzelt: "Jung, dat is der Härr Gestapo!"

Mops musste natürlich erfahren, was Onkel Meier in dem Haus vom Herrn Gestapo gewollt hatte. Der Onkel hat es ihm verraten: Meldung musste er machen, dass da die bösen Schweine frei herumlaufen.

"Mijonmijarde", hat Mops genickt.

Der Soldat hat jetzt auch mit dem Auge geblinzelt, und dann sind sie beide fröhlich nach Hause gehinkt und Onkel Meier hat Mops bei Mutti abgeliefert.

 

Mops kennt noch einen anderen Soldaten, der heißt Vati. Manchmal kommt er zu Mutti und Mops nach Hause, er hat rote Haare, sein Gesicht kratzt, und sein Knie riecht wie das Knie von dem Herrn Gestapo. Auf Vatis Knie kann man herumklettern, weil Soldaten zuhause nicht Wache stehen, sondern auf dem Sofa sitzen.

Natürlich klettert Mops gewöhnlich nicht auf Vatis, sondernd auf Muttis Knien. Wenn sie sitzt und nicht putzen muss. Und am liebsten, wenn sie das blaue Kleid trägt mit dem Ausschnitt. Gelegentlich stopft er dort flink eins von seinen Nüsschen hinein, und sie macht "huch!" Aus einem Nüsschen ist nämlich er selbst gewachsen, war erst ein ganz kleines Baby. Womöglich klappt es wieder einmal, und es wächst noch eins, diesmal ein Schwester-chen. Das könnte er zum Spielen brauchen.

Da er aber bis heute kein Schwesterchen hat, da er allein hier sitzt und auf dem Töpfchen kippelt, möchte er, dass Mutti nun endlich aus der Küche kommt. Dass sie seinen Mund zwischen ihre Hände nimmt und mit ihm "Mopfange" macht!

"U-i-i-i..." Seine Sirene schneidet in den Ohren. Mutti betritt endlich das Zimmer.

Hebt ihn vom Topf. Sagt aber nicht: Mopswange, mein tüchtiger Junge. Sie ruft: "Puh!"

Und während sie seine Strickhosen zu einem kleinen Bündel legt und hinausträgt, sagt sie: "Jetzt ist der Krieg schon ein Jahr alt und du wirst bald fünf."

 

Krieg, das ist: Später schlafen. Mutti merkt gar nicht, wie man das Nachtgebet dehnt.

"Ich bin klein mein Herz ist rein soll niemand drin wohnen als unser Heiland allein."

Mutti hilft weiter: Lieber Heiland, beschütze Vati..."

"Und Mops und Mutti."

"Und wen noch?"

"Und Opa Gaul."

"Recht so."

"Mutti?"

"Ja, mein Mops?"

"Stimmt's Mutti, unser Heiland ist überall. Bei Vati, bei Opa Gaul, beim Onkel Meier im Radio, bei uns im Radio. Sogar wenn wir spazieren gehen. Überall. Aber wie kann er das?"

Mutti ist in ihren Gedanken versunken. "Er kann halt alles." Sie schaut auf ihre Uhr.

Aber nun setzt Mops eine Miene auf, die zeigt, wie sehr auch er in seinen Gedanken versinken kann: Er runzelt die Brauen und denkt: Wie fix muss Heiland laufen können, wenn er mal auf der Wiese bei den Nüsschen ist, mal im Radio. Und wer weiß, wo sonst noch. Und mal ist er groß, ein großer Junge mit Edelweißstrümpfen, mal klein, damit er in das Radio passt. Und warum sagt man tagsüber "Heitler" und hebt den Heitlerarm, und am Abend faltet man die Hände und sagt "Heiland"?

"Mutti, warum..."

"Pscht. Beim Beten soll man keine Privatgespräche führen, sonst hört der Heiland nicht mehr zu. Also, wen soll er noch behüten?"

"Onkel und Tante Meier."

"Hm. Na gut. Und bei der Gelegenheit kann der Heiland die reizende Tante überzeugen, dass sie wieder regelmäßig dienstags zum Saubermachen raufkommt. Der Teppich sieht aus... Aber wir schließen alle in unser Kindergebet ein."

"Auch die bösen Schweine?"

"Welche Schweine nun wieder. Schweine werden geschlachtet. Aber zum Schluss bitten wir noch einmal aus tiefem Herzen, dass Vati heil und gesund wiederkehrt. Und wir sagen zum Heiland: Mach, dass bald Frieden wird und Sieg. Amen."

"Amen. Und Mopfange?"

Sie machen "Mopfange".

Mutti geht auf Zehenspitzen, knipst das Licht aus und schließt leise die Tür von draußen. Er sieht, wie ihre Gestalt sich hinter dem Milchglas auflöst.

Wenn man beim Amen die gefalteten Daumen ganz, ganz, ganz, ganz, ganz toll drückt, dass es wehtut, dann soll es helfen, das Beten. Man weiß bloß nicht wann. Noch sicherer wäre bestimmt, wenn man das Beten direkt drüben, im Wohnzimmer, unter dem schönen Schrank erledigen würde. Damit Heiland, der tagsüber Heitler heißt und sich jetzt gewiss auch gerade schlafen legt, es auch wirklich hört in seinem Radiokasten im Schrankfach.

Das Beten hilft aber auch so.

Zum Weihnachtsfest, das zugleich Mopsens Geburtstag ist, kehrt Vati heim, heil und gesund.

"Vati, Vati, stimmt's, jetzt ist Sieg!"

Der Vati nimmt seinen Sohn aufs Knie: "Noch ein bisschen Geduld, mein großer Mops."

Vati nennt ihn immer Mops, Mutti und Mops selbst hingegen sagen mal Mops, mal Mopswange. Weil er diese dicken Mopswangen hat. Mops beißt seine tapferen Zähne zusammen und müht sich, einen silbernen Knopf von Vatis Uniformbrust abzudrehen. Mutti kichert und freut sich, wie gut Vati bei der deutschen Wehrmacht das Knöpfeannähen gelernt hat. Ihre Finger zausen den roten Schopf ihres Urlaubers. Die Sonne scheint durchs Fenster durch Vatis Haar, es glüht golden wie das schöne Feuer im Küchenherd, und sie hat ihr blaues Kleid an.

Der ganze Vati riecht wie das Knie vom Herrn Gestapo. Bestimmt riechen alle Soldaten so.

"Vati, warum hast du keinen Stahlhelm wie der Herr Gestapo?"

Gleich muss Mops erzählen, woher er diesen Herrn kennt. Vati macht ein bedenkliches Gesicht und meint, Mops soll nicht mehr so viel mit dem Onkel Meier zum Nüsschensammeln gehen. Mutti sagt, ja, wirklich, der Junge gewöhnt sich leicht das Hinken an.

Vati schmunzelt schon wieder. Bei den Franzosen, wo er jetzt Dienst schiebt, erzählt er, braucht er keinen Stahlhelm mehr, Weihnachtsmänner sind sie, die Franzosen, machen gleich Händehoch.

Am Abend poltert es mächtig gegen die Wohnungstür.

"Wer mag das sein?" Mutti traut sich gar nicht, aufzumachen. Und Vati ist gerade mal fortgegangen. Mops läuft öffnen. Da steht in einem roten Mantel...

Mops flitzt in Schlafzimmer. Dort liegen Vatis Sachen. Die Pistolentasche öffnet sich leicht. Der Weihnachtsmann steht schon im Flur. Dieser Franzose.

Mops muss die Pistole mit beiden Händen halten: "Händehoch!"

"Mops!" schreit Mutti.

Der Weihnachtsmann lacht mit Vatis Stimme: "Sie ist nicht durchgeladen."

Aus dem Weihnachtsmannsack kommt eine andere Pistole zum Vorschein. Eine aus Holz, mit bunten Ringen um den Lauf und einem Hahn zum Spannen. Mops bekommt einen deutschen, kratzenden Weihnachtsmannkuss von Vati und einen Geburtstagskuss vom Mutti. Und er wird ermahnt: Mit einer Pistole legt man nie auf Menschen an. Vor allem nicht zum Spaß. Das muss er aber dem Heiland ganz fest versprechen, da freut er sich, weil er auch gerade heute Geburtstag hat.

Nachher brennen die Lichter am Baum. Mutti erzählt Mopsens Spaß mit der Sirene. Sie und Vati sagen: "Du bist jetzt fünf Jahre alt, und wir sind deine Eltern." Die Eltern machen "Prost" mit rotem Wein, Mops mit Himbeersaft. Heitler singt im Radio "O Tannenbaum". Vati singt "Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt" und kann mit seiner Zigarette Rauchringe rauchen.

Einige Tage später schnallt er seine eiserne Pistole um, legt seinem Sohn seine rötlich gesprenkelte Hand auf den Kopf. Nimmt dann Mutti ganz eng in die Arme, dass gar kein Platz mehr ist für Mops. So steht Vati einen Moment, dann schiebt er Mutti von sich. Die Eisen unter seinen Stiefeln klingeln hell im Treppenhaus.

Diesen Vatiurlaub hat Mops gemacht. Durch tolles Daumendrücken beim Beten zum Heiland.

 

Was ist Heimatfront?

Heimatfront, das ist die Feuerpatsche: Ein Scheuerlappen an einem Besenstiel, dazu zwei Eimer voll Wasser und Sand im Treppenhaus.

Heimatfront, das sind schwarze Rollos an den Fenstern: Die Verdunkelung.

Und der neue flache Karton ist auch Heimatfront. Mutti hebt den Deckel ein bisschen ab, neugierig lugt Mops hinein. Und beginnt zu zittern. Aber unerbittlich zieht Mutti seine Hand zu dem Glotztier, das nun offen aus dem Karton schaut. Mopsens Fingerspitzen berühren die gläsernen Augen und etwas Kaltes, das ebenfalls zittert.

"Das ist doch nur Gummi!", sagt Mutti.

Mops aber schreit.

Mutti redet auf ihn ein: "Wir machen ei, wir machen ei, gute, liebe Gasmaske!"

Er reißt sich los, flieht zu Heitler unter den Schrank. Es dauert Tage, bis er sich das Glotztier übers Gesicht ziehen lässt. Das Gummi reißt an den Haaren, obwohl Mutti seinen Schopf extra gasmaskenkurz geschnitten hat. Innen riecht es streng und fremd. Mops erhält den Befehl zu atmen. Atmen ist: Rauschen, Schnarchen, Rauschen, Schnarchen. Ein Topf mit Löchern wird aufgeschraubt: Der Filter. Er lässt kein Gas in die Kinderlunge.

"Was ist Gas, Mutti?" Seltsam dumpf klingt die eigene Stimme.

"Böse Luft, die Menschen totmacht. Sie könnte in einer Bombe aus einem englischen Flugzeug abgeworfen werden. Obwohl die Engländer das nicht dürfen."

Wer beim Gasmaskeaufsetzen kein bisschen mehr weint, ist schon ein großer, verständiger Junge. Der heißt nicht mehr einfach Mops oder Mopswange. Wenn ihn einmal große Leute fragen, wie er heißt, und wo seine Mutti ist, nennt er ihnen seinen großen Namen: Justussallmannkölnehrenfelderstraßeeinundfünfzig.

 

Was ist eine Volksgenossin?

Eine Volksgenossin kommt nicht mehr zum Saubermachen.

"Ha, jetzt ist man Volksgenossin", schimpft Mutti mit Kirschenessenmiene und Putzturban, unter dem wirres schwarzes Haar hervor schaut. Sie kniet und bearbeitet den Teppich. Schrubb, schrubb, macht die Bürste. "Ha, wir haben es nicht mehr nötig, was, werte Volksgenossin Meier? Wir reden jetzt hochdeutsch und kündigen die Stellung. Sind auf einmal zu vornehm fürs Putzen!"

Schrubb, schrubb.

"Einen Pelzmantel haben wir uns schnell noch angeschafft! Wer hat den wohl bezahlt, hm?"

Schrubb, schrubb, schrubb.

Die Bürste schrubbt, als wäre der Teppich der Pelzmantel, und die Volksgenossin Meier steckte  darin: "Mal gründlich mit dem Ausklopfer, das täte uns gut..."

Früher hat Mutti mit Frau Meier gelacht. Jetzt ist sie böse auf sie. Sie will mit ihr keine Volksgenossin sein.

An einem kalten Abend klingelt ein Mann. Kinn und Nase verschwinden hinter einem Wollschal. Er friert, trotzdem trägt er seinen Mantel über dem Arm, den ausgefransten Innenstoff nach außen. Er ist alt und dünn, ein Brillenglas hat einen Sprung. Höflich lüftet er seinen Hut und macht sogar eine Verbeugung zu Mops herunter.

"Gestatten, Salomon", sagt er leise.

"Sallmann", stellt sich auch Mutti vor. "Sie wünschen?"

Er streckt seine Nase aus dem Schal: "Sie kennen mich wohl nicht? Ich hatte die Bäckerei an der Ecke."

"Das muss länger her sein. Denn ich habe nicht das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft. Dabei wohnen wir schon ein paar Jährchen hier. Und was wünschen Sie nun?"

Er guckt zur Seite und murmelt, kaum zu verstehen: "Ich könnte Ihre Fensterverdunklungen abdichten."

"Hat die Volksgenossin schon lange gemacht", sagt Mops.

"Oder ich könnte ihren Briefkasten festschrauben. Ich sehe, er hängt locker. Erledige alle Arbeiten in Haus und Keller..."

"Nicht nötig, auf Wiedersehen." Mutti will schon die Tür zumachen. Da kommt Mops ein guter Gedanke:

"Er kann den Teppich ausklopfen!"

Der Mann sagt: "Ja, selbstverständlich."

So kommt es, das der frischgeschrubbte Teppich außerdem noch mit dem Ausklopfer geklopft wird. Auch ohne die Volksgenossin. Und damit sie es gut sehen kann, geschieht es an der Stange im Vorderhof direkt vor ihrem Fenster.

 

Was ist Fliegeralarm?

Fliegeralarm ist u-u-u-i-i-i-u-u-u-i-i-i-u-u-u, das Heulen der Sirenen auf den Dächern.

Die haben das Heulen bisher bloß geübt. Tagsüber. Jetzt können sie es gut und tun es bei Nacht mitten in den Traum hinein, auf und ab, auf und ab.

Dann hebt Mutti ihren Jungen aus seinem warmen Bett, das seit Vatis Besuch nun alle Abende auf dem Wohnzimmersofa aufgeschlagen wird. Weil Mops jetzt groß ist, und ein großer Junge schläft nicht mehr im Elternschlafzimmer.

Schlüpfer, Leibchen, Strümpfe, Hemd, Pullover, Hose, Mantel, alles liegt griffbereit. Mutti hilft.

Aber während sie sich dann selbst hastig ankleidet, krabbelt er mitsamt seinem Kopfkissen unter den hochbeinigen Schrank, taumelig vor Schlaf.

Dabei weiß er, es gibt kein Entrinnen. Er muss den kleinen, grünen Rucksack mit Teddy und Gasmaske tragen. Mutti nimmt die großen, schweren Sachen.

Der Kellerraum hat weiße Wände. An einem Draht hängt eine Glühbirne. Onkel Meier, den alle Leute jetzt mit "Herr Luftschutzwart" anreden, steht im Eingang und ruft:

"E ren en et joode Stüffche! Tätä tätä tätä!" Er macht Spaß, denn mit rheinischem Humor klappt es noch mal so gut an der Heimatfront, findet er. Die Volksgenossin hat ihren neuen Pelzmantel an und muss die Schäfchen zählen, ob alle unten sind.

Zwei Liegestühle für Sallmanns haben ihren Platz an der frisch gemauerten Mittelsäule. Mops wird in seine himmelblaue Decke gehüllt und soll wieder schlafen.

Die Mieter haben sich längs den Wänden hingesetzt. Sie sind aber meistens alte Leute und keiner hat rheinischen Humor. Nur einer ist nicht alt: Rostecks Karl. Aber auch er hockt stumm auf seinem Koffer, die Ellenbogen auf den Knien, kümmert sich um niemanden. Seine Augenbrauen machen über der Nase einen Wirbel aus finsteren schwarzen Borsten. Karl ist schon ein großer Junge, so einer wie damals Mopsens Retter vor den Schweinen. Nur dass an seinen Kniestrümpfen kein Edelweißabzeichen steckt. Mops will, dass Karl lacht.

Er probiert es mit Fratzenschneiden. Mit Wangenaufblasen. Kurzum, mit rheinischem Humor, "tätä tätä tätä!" Er versucht es mit Gesang:

 

"Ran an den Feind, ran an den Feind,

Bomben aus Engeland!"

 

Jetzt hat der Humor gewirkt. Manche Leute, auch Karl, lächeln ein bisschen. Die Volksgenossin aber meint, es muss richtig heißen: Bomben   a u f   Engeland, nicht aus Engeland. Der Junge hat es wohl im Radio falsch verstanden, will sie hoffen. Sie sagt: "Ich möchte es für Sie hoffen, liebe Volksgenossin Sallmann."

Nachher verkünden die Sirenen mit langem Ton Entwarnung, und Onkel Meier erhebt sich aus seinem Korbsessel: "Ald widder blinder Alarm. Dä Tommy hätt ken Kurasch! Jo, onser Reichsmarschall Hermann Göring hätt et op sing Aat und Wies usjedröck: Wenn ein einziger Feind bei uns dazu kommt, seine Fliegerbomben abzuladen, dann will er Meier heißen."

Jetzt schmunzeln die Leute alle mit dem Herrn Luftschutzwart, der ja selbst der Herr Meier ist.

Ein paar Nächte später gibt es ein neues, interessantes Ge-räusch: Gelegentlich ein zorniges, abgehacktes Schimpfen, fast, wie wenn Heitler schimpft. Das sind unsere Flakgeschütze, die schützen die Stadt mit ihrem Schimpfen, und wenn sie Luft holen, ist fernes Brummen zu hören. Das sind die Engländer. Die lassen aber Köln links liegen und beharken wahrscheinlich Mannheim, erläutert Herr Meier.

Da kracht es plötzlich, die Glühbirne flackert und erlischt.

Der blaue Schein einer Taschenlampe huscht über die Rohre an der Decke, an den Mänteln der Leute leuchten große Knöpfe auf, die Leuchtplaketten. Eine Stimme spricht: "Jetzt sind wir angemeiert."

Gleich darauf brennt die Glühbirne wieder, und Herr Meier fragt: "Wer fühlt sich angemeiert?" Er fragt ganz lustig, mit rheinischem Humor.

"Die Mutti!", meldet Mops und zwinkert ihm mit dem Auge zu, wie Herr Meier es mal zu dem Herrn Gestapo gemacht hat.

Herr Meier knipst seine Taschenlampe aus. Seine Frau Volksgenossin macht schmale Augen: "Manche Herrschaften beschäftigen zum Teppichklopfen sogar Juden", spricht sie mit schmerzlichem Ton und ganz hochdeutsch: "Und unser Führer wollte das so gern endlich unterbinden."

"Ein Jude?" Mutti sitzt mit einem Ruck ganz gerade.

"Sie mussten doch wohl den Judenstern an seinem Mantel bemerkt haben, liebe Volksgenossin Sallmann. Groß genug ist der ja und noch dazu gelb und auffällig."

"Am Mantel? Ich weiß gar nicht..."

Aber Mops weiß es. "Den Mantel trug er ja über dem Arm!"

"So?" fragt die Volksgenossin und wendet sich an ihren Mann: "Man muss da vielleicht mal..."

"Gas, Gas, Gas", ruft es plötzlich.

Die Leute verwandeln sich in Glotztiere. Auch Mops bekommt seine Gasmaske über den Kopf gestülpt. Dumpfe Rufe, er fühlt sich in Muttis Arm gerissen. Er atmet tief und langsam, wie sie es geübt haben: Rauschen, Schnarchen, Rauschen, Schnarchen.

Später heißt es wieder: Blinder Alarm. Aber doch nicht ganz so blind: Ein Bömbchen hat sich verirrt. Durch die Erschütterung ist ein Gasrohr im Keller undicht geworden.

Rostecks Karl hat es als erster gerochen. Und hat das Rohr mit Pflaster umwickelt.

Von heute an ist er von Herrn Meier zum Luftschutz-Melder ernannt. Karl bekommt einen blanken, schwarzen Luftschuthelm, genau so einen, wie er stets griffbereit an Herrn Meiers Korbsessel hängt. Mops wird unbedingt auch ein Melder werden.

 

Nach Kellernächten schläft Mops in den hellen Tag hinein. Dann gibt es die heiße Frühstücksmilch und jedes Mal Ärger, weil er sich vor der faltigen Milchhaut ekelt. Die so gesund für Kinder ist. Mutti nimmt sie mit zwei Fingern aus der Tasse, und dann kommt der schlimme Moment. Die tapferen Soldaten müssen ebenfalls jeden Tag Milchhaut essen.

Nach dem Frühstück aber heißt es: Schnell hinauf auf den Hausboden. Eh nämlich die heimkehrenden Schulkinder aus der Nachbarschaft durchs Treppenhaus heraufgelärmt kommen und Mopsens Boden nach den Granatsplittern absuchen. Da muss Mops erster sein.

Die Sonne scheint durch das Dach wie durch ein Sieb, blinkt auf tanzenden Stäubchen und auf den herumliegenden Stücken von frisch zerrissenem Metall. Wenn Mops Glück hat, entdeckt er an einem vielleicht die Gewinderillen, wo die Flakgranate zusammengeschraubt war.

Mops sammelt die Splitter in seine Strickmütze. Den schweren, glitzernden Schatz trägt er in sein Geheimfach.

Jawohl, er besitzt ein Geheimfach. Im Holz unter dem Boden vom Schrank befindet sich ein unauffälliger kreisrunder Punkt, anzusehen fast wie ein Bretterast. Drückt man aber darauf, klappt ein Kästchen heraus. Eine Tüte mit Hornknöpfen lag darin, die hat Mops heimlich, nach und nach, im Klo fortgespült.

 

Bald, bald, nur noch einmal Weihnachten und dann Frühling, dann ist auch Mops ein Schulkind. Schon jetzt darf er ja allein hinunter auf die Straße.

Zu den anderen Kindern.

Manchmal machen sie Wettlauf. Mops ist immer letzter.

Manchmal machen sie Rollerrennen. Einen Roller hat Mops nicht.

Aber manchmal tauscht er einen besonders blanken Splitter gegen eine Runde Tretroller-Fahren. Mit dem Treten auf dem Tretbrett klappt es noch nicht ganz so gut, trotzdem ist das Rollern herrlich: Einmal bis zum Bäckerladen und zurück.

"Mutti, kauf mir einen Tretroller!"

"Es ist Krieg. Dinge aus Eisen werden jetzt in Deutschland nicht hergestellt, jedenfalls keine Spielsachen."

"Ich brauche aber einen!"

"Es gibt keine. Außerdem sind sie viel zu teuer. Bestimmt hundert Mark."

"Dann schreib Vati einen Brief: Er soll mir einen mitbringen."

"Ach Gott, mein kluger Mops."

"Ich will aber..." Er stampft mit dem Fuß.

Die Sache ist so. Das Rollerborgen klappt immer seltener. Oft lachen die Kinder ihn aus, selbst wenn er den größten, goldensten Granatsplitter seiner Sammlung anbietet. Und sie fahren ihm davon mit Geschrei.

Allein spaziert er dann vielleicht in Richtung Straßenecke, in Richtung Bäckerladen. Seine Schuhe stoßen Splitter aller Größen beiseite. Er sagt guten Tag zu den Frauen, die mit Besen auf dem Trottoir Fensterscheiben zusammenfegen. Ein leise Hoffnung auf süßen Trost macht dann seinen Schritt schneller.

Doch leider. Die eine, die Schaufensterscheibe ist leider immer heil. Dahinter türmen sich, appetitlich in Servietten gebettet, blanke, braune Kugeln. Immer vierzehn Stück, Mops zählt genau, er kann jetzt schon die Zahlen bis zwanzig. Die Kugeln heißen Mohrenköpfe.

Einmal bleibt ein Mann neben Mops stehen. Mops erkennt ihn im spiegelnden Glas: Die gesprungene Brille, die gerade noch auf der dünnen Nasenspitze hält. Heute hat er seinen Mantel an. Der ist ihm viel zu groß. Vorn sitzt ein gelber Stern.

Der Teppichmann, der mal ein Bäckermeister war.

"Mohrenköpfe", sagt Mops bedeutungsvoll. Für den Bäckermeister muss es ein Kinderspiel sein, hineinzugehen und die Mohrenköpfe zu kriegen.

"Pappzeug", sagt der Mann. "Schmecken nicht."

"Gar kein Pappzeug!"

"Für echte Mohrenköpfe mit guter Schokolade müsste deine Mutter eine Menge Marken von der Nährmittelkarte abschneiden lassen."

Mops drückt die Nase gegen die Scheibe. Er sieht genau: Stellenweise ist der braune Schokoladenüberzug aufgeplatzt, beim Hineinbeißen würde der Krem rosa und süß herausquellen. Die Mohrenköpfe sind auf keinen Fall aus Pappe.

"Du schwindelst ja, du Jude", sagt Mops.

Und in diesem Moment bimmelt wild die Ladenglocke, heraus stürmt eine Verkäuferin in weißer Schürze. Nanu, das ist ja Frau Meier, sie wirft die Arme hoch: "Eine Zumutung", klagt sie. "Muss man sich alles gefallen lassen? Ist man als Deutscher denn ganz wehrlos? Schon wieder der Jude vor dem Geschäft! Jetzt belästigt er auch noch kleine Jungen!" Gleich telefoniere ich nach der Gestapo!"

Der Jude strebt mit langen Schritten fort.

"Lor ens, wie dä renne kann", sagt Frau Meier zu den Besen-frauen. "Komm ens e ren, Jung", spricht sie zu Mops. Und sie holt zu seinem Trost aus dem Fenster einen kremduftenden Negerkuss. Mops sagt danke. Tante Meier ist also jetzt eine Verkäuferin. Wenn sie ihm einen Mohrenkopf gibt, mag er sie noch. Sonst nicht mehr, besonders nicht, wenn sie im Keller mit Mutti hochdeutsch redet und schmale Augen macht.

Lange ringt er mit sich, ob er in den Mohrenkopf hineinbeißen soll. Aber dann trägt er ihn zu den Kindern und tauscht er ihn gegen eine Rollerfahrt.

 

"Ich bin klein, mein Herz ist rein...Mutti?"

"Ja, mein Mops?"

"Warum kann Tante Meier den Juden nicht leiden?"

"Das verstehst du noch nicht."

"Und du, kannst du den Juden leiden?"

"Hm. Heiraten würde ich ihn nicht."

"Ich auch nicht. Mutti?"

"Ja doch."

"Und warum würden wir ihn nicht heiraten?"

"Juden sind geschäftstüchtig. Sie wittern überall ihren Vorteil und wollen immer nur Geld raffen. So sind wir Deutschen nicht. So, aber nun wollen wir beten ..."

Und Mops betet für Frieden und Sieg und, dass er seine guten Schuhe nicht mehr an den herumliegenden Granatsplittern kaputt stößt, und um einen Tretroller. Amen. Presst ganz fest die Daumen aufeinander, damit es hilft. Dann machen sie "Mopfange".

Manchmal aber, wenn Mutti leise hinausgegangen ist, um vielleicht noch am Küchentisch an Vati einen Brief zu schreiben, klettert er vom Sofa und zieht mitsamt dem Bettzeug unter seinen lieben Schrank. Die hohen Beine sind jetzt immer mit Decken verhängt, Strippen und Klammern halten das Ganze.

Hier ist Mopsens Keller. Sogar Licht gibt es: Eine Leucht-plakette, wie sie die Leute im richtigen Luftschutzkeller tragen. Die gelbliche Farbe, die im Dunkeln so schön leuchten kann, heißt Phosphorfarbe. Mops hat die Anstecknadel abgebrochen und die runde Scheibe mit Muttis Leim auf den Öffnungsknopf vom Geheimfach geklebt.

Mops liegt auf dem Rücken und blickt hinauf. Der Lichtfleck schimmert mit der Zeit immer heller. Das ist das Auge von Heitler. Das offene, das andere ist zugekniffen.

Heitler sagt nie: Das verstehst du noch nicht. Er wird auch nicht ungeduldig wie Mutti, wenn Mops beim Beten ein Privatgespräch anfängt. Und wenn er auch manchmal schimpft - schimpfen tut er bloß immer mit den Feinden, zu Mops ist er freundlich und antwortet auf all seine Fragen und erklärt ihm, was Mutti nicht sagen will.

Richtig heißt er Heil Hitler. Mit Vornamen Heil, mit Nachnamen Hitler.

So wie Mops Justus Sallmann heißt.

Heil Hitler oder Heitler oder Heiland. Je nachdem. Die meisten Menschen und Sachen haben zwei oder drei Namen. Vati zum Beispiel heißt manchmal auch "unser Leutnant" oder "unser Urlauber" oder Ulrich.

Onkel Meier: Herr Luftschutzwart.

Deutschland: Großdeutschland.

Reichsmarschall Hermann Göring: Meier.

Mutti heißt auch: Toni Sallmann, geborene von Beelzow.

Solche Dinge haben Mops und Heitler-Heiland schon miteinander besprochen, und Heitlers schimmerndes Auge hat die ganze Zeit aufmerksam auf den Jungen heruntergeblickt, der klein ist mit reinem Herzen.

"Heitler, warum können wir den Juden nicht leiden?"

"Weil er böse ist."

"Und wenn er wieder lieb sein will?"

"Das will er nicht. Er will nur seinen Bäckerladen zurückhaben und dann selbst viele Nährmittelmarken abschneiden. Das möchte er gern."

"Stimmt's, das macht jetzt die Frau Meier."

"Den Mohrenkopf hat sie dir aber umsonst geschenkt. Das hätte der Jude niemals getan. Juden sind geschäftstüchtig. Das werden wir ihnen abgewöhnen. Mit eiserner Faust."

"Ja", flüstert Mops, "ein für allemal."

"Dazu brauchen wir viel Kraft."

"Ja", flüstert Mops und ballt die Faust.

"Und frischen Mut!"

"Ja" flüstert Mops und beißt tapfer die Zähne zusammen.

 

Kurz bevor wieder Weihnachten kommt, passiert beim Einholen etwas Schlimmes.

Mutti ist in den Bäckerladen gegangen. Mops sollte draußen warten, weil sie eine Weihnachtsüberraschung einkaufen wollte.

Mops wartete. In der Auslage prangte wie immer der Teller mit genau vierzehn Mohrenköpfen. Im Fensterspiegel sah Mops, wie ein großer Junge sein Rad in den Fahrradständer schob. Rostecks Karl.

Mops folgte ihm in den Laden, gedeckt von Karls breitem Hosenboden. Es kamen gerade noch mehr Leute herein, Mutti merkte nichts. Sie reichte die rosa Nährmittelkarte über die Ladentheke: "Vier Negerküsse bitte!"

Frau Meiers Schere schnitt, schnipp, schnapp: "Vier Negerküsse möchten sie?"

Die Leute im Laden lachten.

Da hielt es Mops nicht länger: "Mohrenköpfe", rief er.

"Ich denke, du wartest draußen?" Ärgerlich hat Mutti ihn vor die Tür gesteckt. Sie musste noch einmal hinein, zum Bezahlen.

Zuhause packt sie die Einkäufe aus der Tasche. Kramt im Portemonnaie. Kramt und kramt.

"Unsere Nährmittelkarte ist geklaut!"

 

Es gibt etwas Neues. Den Durchbruch im Keller.

Luftschutzmelder Karl hat den Durchbruch gemacht. Natürlich bei Tage. Hat erst ein Loch gehackt in die dicke Mauer zum Nachbarhaus Nummer dreiundfünfzig, hat das Loch dann mit einer dünnen Ziegelwand wieder zugesetzt. Mops durfte aufpassen, wie gemauert wird. Und im Nachbarkeller war ein rothaariger Junge, der auch aufpasste und zu Mops herüberäugte, bis die Wand zwischen ihnen zu hoch wurde. Eine Spitzhacke hängt nun neben dem Durchbruch, zum Aufhacken, falls noch einmal ein Bömbchen sich verirrt, falls Gas ausströmt, falls das Haus brennt, falls der Weg ins Freie versperrt ist. Dann gibt es den Ausweg durch das Nachbarhaus. Falls, falls, falls. Mops wagt es schon nicht mehr zu hoffen: Wenn "Falls" nur endlich käme! Dann könnte er zeigen, wie stark und mutig er ist, und er würde das Gas als erster riechen, und Herr Meier müsste auch ihn zum Luftschutzmelder ernennen. Doch Herr Meier rechnet schon überhaupt nicht mit einem Bömbchen, er hat auf den Durchbruch die Russlandkarte gehängt.

Russland ist rosa wie die Nährmittelkarte. Wie bei dieser werden auch von Russland Zacken und Streifen abgeschnitten. Nicht mit der Schere, der Herr Luftschutzwart steckt Nadelfähnchen. Bis Schmolensk haben wir sie im Sack.

"Unser herrlicher Führer, er fackelt nicht lange", seufzt Frau Meier.

In das helle Geschimpf der Flack mischt sich jetzt oft dumpfes Wummern, bald nah, bald fern, auch mal ein langgezogenes Pfeifen, das mit betäubendem Krachen endet. Die Mauersäule in Mopsens Rücken bebt.

"Durch den Durchbruch, durch den Durchbruch", alarmiert er dann den Luftschutzwart. Doch der wiederholt nach jedem Einschlag: "Die me lang piefe hürt, komme woanders runger."

"Wie beruhigend", bemerkt Mutti dann manchmal. Doch einmal sagt sie leise: "Armes Deutschland."

Das aber hat Frau Meier gehört, denn der Lärm draußen setzt für einige Momente aus. Es ist, als lauschte die ganze Stadt Köln mit dem leise grummelnden Himmel darüber Muttis Worten nach: Armes Deutschland.

"Miesmacherei", sagt Frau Meier. "Zersetzung der Heimatfront." Sie hat ihre schmalen Augen.

"Hab ich nicht recht", erbost sich Mutti und schaut sich nach den stummen Nachbarn um. Sie hat ihr Kirschenessengesicht: "Nicht genug Kanonen, um uns den Engländer vom Hals zu halten, aber den Russen angreifen, einen Verbündeten..."

"Das schlägt dem Fass den Boden aus! "ruft Frau Meier, "alle hier im Keller sind Zeuge..."

"Ich bin die Tochter eines preußischen Offiziers", übertönt Mutti das erneut anschwellende Gebell draußen, "und mein Mann steht neuerdings selbst an der Ostfront, da darf ich mir wohl eher ein Urteil gestatten, als sie, Volksgenossin Meier!"

Die Zeugen ringsum blicken hierhin und dorthin, nur Rostecks Karl schaut geradeaus. Mops muss seiner Mutter helfen:

"Hast ja die Nährmittelkarte geklaut!", spricht er laut.

Keiner guckt mehr hierhin und dorthin, alle gucken ihn an, Mops. Sogar Karl. Aber warum runzelt der die schwarzen Brauen und wird weiß wie die Kellerwand? Mops reckt zum Zeichen, dass er nicht ihn gemeint hat, der Frau Volksgenossin die Zunge heraus.

Und wie ein mächtiges: Basta, keine Widerrede! setzt draußen das Krachen mit nie gehörter Wucht ein.

Schon im nächsten Moment entfernen sich aber die Einschläge, und bald heult die Sirene mit langem Ton Entwarnung.

Auf der Kellertreppe holt Mutti Frau Meier ein: "Das mit der Nährmittelkarte hat der Junge sich ausgedacht. Ich habe derglei-chen nie behauptet, glauben Sie mir doch..."

Nicht bloß die Augen von Frau Meiers sind schmal wie Striche. Auch ihr Mund. Sie wendet sich von Mutti ab.

"So hören Sie doch! Ich habe die Karte gewiss verloren!"

Frau Meier steigt weiter treppauf.

"Moment ens, Volksgenossin", ruft Mutti und läuft ihr nach, "mer scheint, sei han sech dä jode Pelzmantel an dr Wand wieß jemaacht, jestatten sei..."

Und sie putzt ihrer ehemaligen Kraft den Mantel sauber.

Zu Mops sagt sie, als sie ihm das Bett aufschüttelt: "Morgen kommen die Männer und holen uns beide ins Gefängnis ab." Mops schläft nicht.

 

Am Morgen, ganz früh, klingelt es.

Es klingelt noch einmal.

Mops sitzt im Bett, lauscht.

Endlich hört er, wie der Wohnungsschlüssel herumgedreht wird. Muttis Stimme. Und die von einem Mann. Es wird lange geredet. Und die Männerstimme kommt Mops bekannt vor. Ein wenig beruhigt tappt er zur Zimmertür, klinkt spaltbreit auf. Draußen steht der Jude. Mutti sagt gerade zu ihm: "Aber höchstens zwanzig Mark."

Etwas Großes, in Packpapier Eingeschlagenes wechselt den Besitzer.

 

Ein paar Tage vor dem Fest riecht die Wohnung wieder nach grünen Zweigen und Vati. Ganz Russland hat er noch nicht im Sack, vorläufig erst einmal echt russische Hirsekörner in einem selbstgenähten Säckchen. Ein großes Glück, wo doch die Nährmittelkarte futsch ist.

Nachts im Keller schraubt Herr Meier seine Thermosflasche auf, zwinkert mit dem Auge, gießt ein und bietet Vati einen Schluck an.

"Donnerletsch, brrr..." schüttelt sich Vati. "Wat e jot Bubbel-wasser, dä schmeck noh mie!"

Der Luftschutzwart genehmigt sich ebenfalls ein Schlückchen, aber nur eins, er ist im Dienst. Vati soll von Russland erzählen, aber der winkt bloß ab. Herr Meier wiegt den Kopf: "Un nüerdings han me wedder dr Ami am Hals..."

Seine Nase gleicht einer Erdbeere, aber voll von rheinischem Humor ist er nicht. Frau Meier schweigt heute ganz und gar und schickt ihrem Mann, Vati und der Thermosflasche schmale Blicke.

 

Am nächsten Abend, dem dreiundzwanzigsten Dezember, muss Vati "Käse zum Bahnhof" singen. Bei Sallmanns wird "vorgefeiert". Vorfeiern, das ist etwas ganz besonders Feines. Mutti hat ihr blaues Kleid an, sie sitzen unter dem Lichterbaum, lassen sich frische Hirsemakronen schmecken, gebacken nach russischem Rezept. Und dann kommt aus dem Packpapier Mopsens Geschenk zum Vorschein: Ein Roller!

Ein Tretroller, blitzblank geputzt, rot, mit einer Menge Abziehbilder auf dem Gestänge. Das Tretbrett, der gezahnte Eisenstab, der das Hinterrad antreibt, alles ist sauber und riecht nach Öl. Ein Tretroller! Bestimmt wird Mops auf der Straße bald der Fixeste sein! Er probiert die Schelle, an der schon ein wenig Blankes abgeblättert ist.

"Das war diesmal ein lieber Weihnachtsmann", lächelt Mutti, an Vatis Schulter gelehnt.

"Für zwanzig Mark", lacht Mops verschmitzt. Er weiß natürlich längst, das es keinen Weihnachtsmann gibt.

Da schellt es an der Wohnungstür. Die alte Frau Rosteck, die Hauswirtin. Sie kommt, die Miete kassieren. Doch sie ist nicht bloß wegen der Miete hier. Sie wollte schon lange mal ein Wörtchen reden, in aller Gemütlichkeit. Mutti bittet ins Wohnzimmer, bietet Makronen an. Aber Frau Rosteck lehnt ab, sie kann sie nicht beißen.

"Nehmen Sie im Keller ihren Mund in acht, gute Frau Sallmann", sagt sie.

"Wieso", meint Mutti, "Volksgenosse Meier war doch gerade letzte Nacht ganz ... leutselig?" Ihre Hand drückt unter dem Tisch Vatis Hand.

"Er schreibt Berichte, falls Sie wissen, was ich meine". Frau Rosteck betont jedes Wort: "Mich wollte er als Ohrenzeugin mit reinziehen. Unter uns, Frau Sallmann. Ich habe zu ihm gesagt: Die Frau Sallmann hat den Jungen zu versorgen, der Mann steht im Felde, aber sie zahlt regelmäßig ihre Miete. Im Gegensatz zu gewissen Leuten, hab ich gesagt."

Vati pfeift durch die Zähne: "Herr Meier zahlt wohl nicht?"

"Der Alkohol für seine Thermosflasche ist heutezutage nicht billig zu kriegen", meint die Wirtin bloß und nimmt nun doch eine Makrone: "Solange der Herr bei mir bis zum Hals in Schulden steckt, halt ich ihn an der kurzen Leine. Aber heute kann man für nichts garantieren. Ich will in meinem Haus keinen Knies, verstehen sie?"

Mutti versteht das und bedankt sich. Frau Rosteck bekommt das Mietgeld und eine kleine Spende für das Winter-Hilfs-Werk. Damit für unsere tapferen Feldgrauen an der Front warme Sachen gekauft werden können.

Plaudernd verabschiedet sie sich. Ihr Enkel Karl macht ihr Sorgen. Nein, vom Lehrmeister kommen keine Klagen, aber der Strupp treibt sich bis in die Dunkelheit irgendwo auf der Straße herum.

"Heil Hitler miteinander!"

"Heil Hitler, Frau Rosteck!"

Mops schmückt den Baum mit den hübschen Hans-im-Glück-Figürchen, die man für die WHW-Spenden bekommt. In der Schachtel findet sich auch ein Edelweißabzeichen, das eigentlich nicht dazugehört. Mops hängt es mit in die Zweige. Mutti und Vati sitzen eng und beratschlagen leise.

Irgendwann muss Mops auf dem Teppich neben seinem Roller eingeschlafen sein. Er wacht auf in seinem Bettzeug, die Verdunklung ist schon hochgezogen und draußen dämmert es. In der Nacht sind die Flieger nicht gekommen. Dafür ist Vati wieder fort. Heute ist Heiligabend, und Mops ist sechs Jahre alt.

 

Mops fährt Roller. Bei jedem Wippen des Tretrads ratzt leise die geölte Zahnstange. Mops steht fest auf den Standbein und lenkt. Nur das Schellen während der Fahrt will noch nicht klappen, zu fest umkrampfen die Daumen den Lenker. Mops muss höllisch aufpassen, denn es gilt, Splitter und Scherben zu umkurven und hier und da eine vereiste Pfütze.

Die Roller der anderen Kinder haben schon eine richtige Spur gefahren, die sich zwischen den Hindernissen durchwindet, bis zum Bäckerladen, dann scharf um die Ecke und weiter.

Ein Stück vor Mops fahren sie, die anderen Kinder, schreien und rufen "Platz, Platz!" Um den ganzen Häuserblock geht die Jagd, am Lanzengatter von Mopsens künftigem Schulhof entlang, und ein paar Verwegene dongeln mit Handschuhfingern im Fahren ein Konzert auf die eisernen Stangen. Sie lenken mit einer Hand! Hinterher!

Aber der Abstand wird immer größer, und eigentlich rollert Mops Runde um Runde allein. Leider ist er noch nicht der Fixeste. Noch nicht.

Auf der grünen Kiste mit dem Löschsand sitzt ein Zuschauer, der Junge aus dem Nachbarkeller, der, der beim Mauern des Durchbruchs mit zugeschaut hat. Mops hat ihn danach nicht wiedergesehen, der Junge darf wohl selten auf die Straße. Er hat eine Strickmütze mit zwei Zipfeln auf dem Kopf und haut mit einem Stöckchen gegen seinen hölzernen Sitz. Jedes Mal, wenn Mopsens Roller sich nähert, drischt er besonders laut zu.

Macht er sich über Mopsens Rollerkunst lustig? Warte mal, dir zeige ich was!

Mops hält bei der nächsten Runde den Lenker mit der Linken eisern fest und streckt in voller Fahrt die Rechte nach den Zaunlanzen aus. "Platz", schreit er, da schurrt er auch schon der Länge lang über eine gefrorene Pfütze.

Der fremde Junge ist von seiner Kiste gerutscht: "Dat es minge Roller!"

Mops heult nicht. Er fasst den Lenker wieder fest, steht auf.

"Gar nicht deiner!"

"Minge Roller!"

Der Junge hat den Lenker von vorn gepackt, seine Augen sind groß und schwarz. Er ist kleiner als Mops.

"Loslassen!"

"E nä!"

Mops stößt dem Gegner den Lenker vor die Brust, dem rutschen auf dem Pfützeneis die Beine weg, er strauchelt, stürzt. Zu Mopsens Verwunderung springt er nicht sofort wieder auf, sondern bleibt auf seinem Hintern sitzen.

"Do sin ming Abzehbelder drop", flennt er.

Die zweizipflige Mütze ist ihm über die Augen gerutscht, hat sich über dem einen Ohr hochgekrempelt. Sein rotes Struwwelpeterhaar schaut hervor.

"Deine Abziehbilder auf meinem Roller, ha ha", macht Mops. "Die waren schon drauf, als wir den gekauft haben." Er überlegt, welchen Beweis er noch nennen soll, dass das prächtige Fahrzeug richtig seins ist. "Zwanzig Mark hat es gekostet", trumpft er auf.

Da zieht der rothaarige Junge in der Nase hoch, steht auf und läuft davon. Gerade jagen wieder die anderen Roller heran, Mops stößt sich kräftig ab und fährt nun mitten unter ihnen.

 

Diesen Winter hat es nicht ein einziges Mal geschneit. Mutti meint, es liegt an der Hitze der Brände, die jede Nacht über der Stadt aufsteigt. Und der Frühling ist zeitig gekommen, am Einschulungstag standen wie zur Begrüßung der I-Dötzchen auf der Schulhofkastanie hundert weiße Blütenkerzen.

Aus dem fernen Sachsenland kam Festbesuch, Opa Gaul, Muttis Vater. Ein lieber Opa Gaul, der ein wenig stelzig daherspazierte und sich dabei sehr gerade hielt. Mops hat zuerst geglaubt, dass der graue Schnurrbart mit den geringelten Spitzen nur angeklebt sei. Unter der Bartbinde, die der Opa sich abends unter die große Nase band, damit der Leim bis zum Morgen antrocknen könnte.

Aber im Keller, mitten in der Nacht also, als der Opa sich die Binde mit einem ärgerlichen Ruck vom Gesicht riss, blieb der Bart fest unter der Nase. Der Opa entschuldigte sich bei der Volksgenossin, er hatte in der Eile vergessen, das dumme Ding abzunehmen.

Und sie sagte: "Sie sind also der preußische Offizier."

Da hat sein Kopf ein paar Mal ganz komisch geruckt, und er redete während des ganzen Luftangriffs kein Wort. Frühmorgens musste er wieder abreisen nach dem Sachsenland, der Dienst rief.

Eigentlich heißt er nicht Gaul, sondern Freiherr von Beelzow.

Er hat Mopsens Schultüte gebastelt blau, fast so groß wie Mopsens Teddy, mit goldenen Monden und Sternen.

Darin fanden sich niedliche rosa und gelbe Brotlaibe aus Zuckerschaum, die im Mund schnell zu winzigen Klümpchen vergingen. Andere Geschenke waren Sachen von bleibendem Wert, Ranzen, Griffelkasten, die gerahmte Schiefertafel.

Der Griffel quietscht über die Tafel. Das I-Dötzchen schnauft vor Anstrengung. Der erste Buchstabe ist das i.

Drei Zeilen i. Und manchmal kommt der Lehrer und schreibt mit Kreide eine große Eins quer über das Werk. Vom vielen Beugen über Schiefertafeln ist der Rücken von Herrn Haas krumm geworden. Die Kinder haben ihn gern.

Dass seine Nase so lang ist, kommt bestimmt vom vielen Schnuppern. Dann immer wieder gibt es empörte Gesichter: "Härr Lehrer, Härr Lehrer, de Rodolf, de hätt wedder ene fleje losse!"

Der Rodolf lässt immer mal einen fliegen.

Es ist Pflicht, solche Vorfälle zu melden. Dann senkt Herr Haas seinen Riecher zu Rodolfs Hinterteil hinab. Und findet er die Meldung bestätigt, bekommt der Übeltäter, was ihm zusteht: Den Hieb mit den Rohrstöckchen über den fadenscheinigen Hosenboden. "Dat deit jo jar nit wieh", flüstert Rodolf und zieht in der Nase hoch.

Große Schüler, die schon mit Tinte und Stahlfedern in Hefte schreiben, spotten die I-Dötzchen aus, verfolgen sie mit Püffen und Knüffen. Hohnvoll hallt ihr Chor über den Hof: I-Dötzchen, Bauklötzchen, I-Dötzchen, Bauklötzchen, und dann fliegen die schrumpeligen Kastanien vom letzen Herbst. Sie treffen auch Mops, besonders hart aber den kleinen, rothaarigen Miefer Rodolf mit den großen schwarzen Augen.

Rodolf Mahler, dem Jungen aus dem Nachbarhaus, dem angeblich mal Mopsens Roller gehört hat.

Schon seine blöde Strickmütze mit den zwei Zipfeln zieht die Kastanien auf sich wie ein Blitzableiter die Blitze. Sie wird ihm dann auch heruntergerissen, in Pfützen getrampelt oder mit Lehm gefüllt, dass sie aussieht wie ein Ziegeneuter.

Woher kommt Lehm auf einen Schulhof?

Eines Nachts hat eine Bombe das Lanzengatter getroffen, braunes Regenwasser sammelt sich in dem Krater. Lehm genug für tausend Rodolf-Mahler-Mützen.

Mehrere Tage kommt ein Arbeiter zum Zuschaufeln. Auch den kennt Mops lange: Rostecks Karl. Der schippt und schippt und bemerkt nicht Rodolfs Hetzjagd nach seiner verschandelten Mütze. Aber einmal gerät sie ihm unversehens auf die Schaufel, er klatscht sie, nass und lehmig, wie sie ist, in das Kraterloch. Und schippt weiter, klopft noch den Lehm fest.

Schultert seine Schaufel und schreitet mit Lehmklüten an den Stiefeln davon. Ein Lehmklecks klebt sogar in seinen finsteren Brauen, als er plötzlich kehrtmacht, als hätte er was vergessen. Der große Karl zieht ein dickes Schnittenpaket hervor und drückt es dem kleinen, schniefenden Rodolf in die Hand: "Sonderzutei-lung", brummt er.

Von nun an kommt er öfters in der Schulpause vorbei, bringt Rodolf eine Sonderzuteilung, die manchmal so reichlich ist, dass Rodolf sie allein nicht aufessen kann.

Manchmal bekommt Mops eine Schnitte ab. Dick Blutwurst ist drauf, Flöns, wie die Kölner sagen. Dafür darf dann Rodolf am Nachmittag eine Runde Roller fahren.

 

In den ersten Schulferien machen sie es sich mal so richtig schön. Sie fahren mit der Straßenbahn. Sitzen nebeneinander auf der braunen Holzbank und lesen im Struwwelpeterbuch die Geschichte vom brennenden Paulinchen. Aus dem Fenster der Bahn schauen sie nicht, das haben sie einander fest versprochen. Sie wollen gar nicht wissen, wie kaputt die Häuserrzeilen in einigen Stadtteilen sind. Jetzt haben sie einmal richtig Ferien! Vor der Stadt steigen sie aus und wandern Hand in Hand. Sie kommen an Orte, wo Mops früher schon mit Onkel Meier spaziert ist. Früher hieß er noch Onkel. Jetzt nur noch Herr. Mops findet die Stelle wieder, wo er Nüsschen sammelte, wo er die Schweine besiegte mit Heitlers Hilfe.

"Ich sehe hier aber nur Eicheln", sagt Mutti.

Der Baum über ihnen ist eine Eiche, das Symbol deutscher Kraft. An ihren Früchten mästen sich die Schweine gern.

Einmal begleitet Mops Mutti zum Friseur in der Elisenstraße. Ihre neue Frisur heißt Herrenschnitt. Der freundliche alte Friseur rät ihr zu: "In kürzerem Haar fällt das erste graue Strähnchen gar nicht auf, Madame", weiß er zu trösten. "Auch ist es wegen der Gasmaske bequemer."

Nicht weit vom Friseur zeigt Mops ihr das Haus vom Herrn Gestapo.

Mutti sagt: "Das ist das El-De-Haus."

"Warum heißt es El-De-Haus?"

"Ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen."

Sie zieht ihn schnell weiter.

Auf dem Heimweg verrät sie ihrem großen Jungen, was eigentlich sein Taufname zu bedeuten hat: Justus, der Gerechte. Der, der immer Treu und Redlichkeit übt und keinen Fingerbreit abweicht von Gottes Wegen. Nicht sie selbst hat diesen passenden Namen für ihn ausgesucht, sondern es war der Wunsch der verstorbenen Großeltern, Vatis Eltern.

"Wieso ist der Taufname passend, Mutti?"

"Weil er zum Familiennamen paßt. Ich erkläre dir das später."

"Ich will es aber jetzt wissen!"

Sie schließt die Wohnungstür hinter sich, schaut als erstes in den Korridorspiegel und murmelt: "Grauenvoll", dann nimmt sie ihn mit einem Seufzer bei der Hand und führt ihn feierlich in das Wohnzimmer. Mops wundert sich: Dort ist alles wie sonst. Von der Wand, aus goldenem Rahmen, blicken wie immer ernst und streng die verstorbenen Großeltern. Aber ein anderes Bild hebt Mutti herunter, jenes, das seit Urzeiten über Mopsens Schrank hängt, als gehörte es an keinen anderen Ort der Welt. Von Nahem hat Mops es noch nie gesehen. Sie wischt ein wenig Staub vom Glas: Es zeigt einen knorrigen Baum, einen Eichbaum, Mops  erkennt es nun, mit Blättern, wie sie als Einlegearbeit auch den Schrank schmücken, Eichenlaub. Hier nun steht auf jedem Blatt klein, mit akkurater Tuscheschrift etwas geschrieben. Mops entdeckt seinen Namen, den von Vati: Ulrich Sallmann, Vermessungsingenieur. Den von Mutti: Toni Sallmann, geb. v. Beelzow, Krankenschwester. Dann, tiefer, die Namen der toten Großeltern, dann kommen die Ur-, die Urur-großeltern. Die waren Ärzte, Apotheker, Bürgermeister.  

"Bürgerliche, aber immerhin gut bürgerlich", sagt Mutti zufrieden. Sie deutet auf die Wurzel des Baumes: Kunstvolle Verzierungen bilden ein verschnörkeltes Wort. Mops muss einen Schritt zurücktreten, um es buchstabieren zu können: TEUTONEN.

"Die Teutonen" , spricht Mutti, "lebten in der Vorzeit, ihr Name aber lebt im Wort Deutschland fort bis heute. Rau und kriegerisch waren die Männer, aber ehrlich und sauber, gerecht gegen andere und mit sich selbst."

"Alle waren so?"

Mutti räuspert sich: "Eine Handvoll Taugenichtse  muss es wohl gegeben haben." Sie wuschelt mit der Hand durch ihren neuen Herrenschnitt: "Die kamen vor Gericht. Gericht, das Wort kommt von Recht. Und nicht allein Mopsens Vorname, nein, sogar der Name der Sallmannschen Sippe hat damit zu tun: Die Richter der alten Gerichte führten den Amtstitel: Salmannen."

Muttis Miene wird ernst und amtlich, fast zur Kirschenessen-miene: "Die Bezeichnung rührt nämlich von dem Galgenstrick, gedreht aus Salweidenbast, den die Salmannen am Gerichtstag als Zeichen ihrer Macht über Leben und Sterben in der Hand hielten. Justus Sallmann, das bedeutet also: Der gerechte Richter."  Mutti hängt den Eichbaum wieder an seinen Platz: "Uff, das reicht vorläufig. "Wie gefallen dir meine Haare? Aber ehrlich!" 

"Ganz gut", urteilt Mops nach gründlicher Betrachtung. Er nimmt sich vor, künftig recht gerecht zu sein. Gerecht, das ist so etwas Ähnliches wie lieb und gehorsam. Denn warum sonst hat sie ihm die Geschichte erzählt? Zum Beispiel verlangt sie seit Tagen, dass er endlich mal seinen ersten Brief im Leben schreibt. An Vati.

Heute macht er sich ans Werk. Mutti hilft.

Oho! Es klappt so über Erwarten gut, dass er gleich einen zweiten Brief verfertigt. Heimlich. An Mutti. Kramt selbst die Marke aus dem Fach, klebt sie akkurat auf das Kuvert, schreibt die Adresse und trägt ihn zum Kasten. Alles allein. Und heimlich. Es soll eine ganz große Überraschung für Mutti werden. Im Brief steht: Liebe Toni ich bin im krig Ostfront mir get es ser gut dein Ulrich.

Sie wartet nämlich schon wieder seit Tagen auf Post. Läuft mehrmals am Tag zur Wohnungstür. Sie ist jedes Mal sicher: Eben hat sie deutlich das leise Schaben gehört, das ein Brief macht, der durch den blechernen Kastenschlitz geschoben wird. In zwei, drei Tagen wird sie nicht umsonst laufen. Wie wird sie sich dann freuen.

 

Im Keller der Ehrenfelder Straße einundfünfzig fällt seit Wochen immer wieder das Wort "Kesselschlacht". Der Luftschutzwart erläutert, wie die deutschen Panzerdivisionen in der Stadt Stalingrad die Feinde von allen Seiten eingekesselt haben und den Kessel nun von Tag zu Tag enger ziehen. Und das, obwohl der grimmige General Winter im Osten schon Einzug gehalten hat und auf der Seite der Feinde kämpft.

"Ävver mer maache däne Dampf!", versichert Herr Meier mit rheinischem Humor und steckt Fähnchen in der Russlandkarte. Auch erkundigt er sich bei Mops, ob schon ein Brief von seinem Vati kam.

"Ja", sagt Mops und guckt schnell zu Mutti.

Denn es hat zwischen ihr und ihm ein Gespräch gegeben. Das war, als "Vatis" Brief eintraf. Beinahe wäre die Überraschung gelungen, Mutti hätte nicht gemerkt, dass der Brief von ihrem Jungen stammte, aber beim Kontrollieren des Poststempels hat sie dann doch Verdacht geschöpft. Sie fand den Brief riesig lieb, aber in Zukunft wollen sie doch besser weiter auf einen echten Brief hoffen.

Und es geht niemanden etwas an, auch Herrn Meier nicht, wenn keine Post kommt.

"Warum nicht?"

Auf diese Frage hat Mutti erst nicht geantwortet.

Dann hat sie "Mopfange" mit ihm gemacht und gemeint, was auch passiert, ihr Mops bleibt immer Muttis männliche Stütze. Und der Herr Luftschutzwart und seine Frau Volksgenossin sollen sie nicht weinen sehen.

An ihrer einen Hand, dort, wo der Daumen anfängt, spürt er beim "Mopfange" neuerdings eine Warze. Mutti sagt, es ist eine Sorgenwarze, die verschwindet, wenn wieder regelmäßig Feldpost im Kasten steckt. Wenn die Post es wieder schafft, all die vielen Soldatenbriefe zu befördern.

"Ja", sagt Mops zu Herrn Meier, "ja, Vati hat geschrieben."

Im Keller passiert unterdessen nichts Aufregendes, die Flak ballert aus allen Rohren, die Anglo-Amerikaner - so heißen jetzt die Feinde in der Luft - beharken die Stadt, Straße für Straße, Haus für Haus. Aber die Ehrenfelder Straße wurde nach ein paar Kratzern glatt wieder vergessen.

Die Bewohner von einundfünfzig müssen nicht durch den Durchbruch.

Mops ist immer noch nicht zum Luftschutzmelder ernannt.

 

Muttis männliche Stütze muss dieses Jahr den Baum schmücken. Womit kann Mops ihr möglichst viele Freuden bereiten? Erstens mit den Hans-im-Glück-Figürchen vom Winterhilfswerk. Sie erinnern sie daran, dass ja die Soldaten im Felde warme Schals und Socken und Kopfschützer haben.

Womit noch?

Da wäre noch das Edelweißabzeichen in der Schachtel. Er steigt auf den Stuhl und befestigt es ganz oben auf der Spitze.

Womit noch?

Er holt aus seinem Geheimfach die Splittersammlung. Liebevoll umwindet er die eisengrauen, die silbrigen, die goldglänzenden Stücke mit Wollfäden und hängt sie in die Zweige.

Mutti trägt ihr blaues Kleid, mit dem Lichteranzünden wartet sie bis abends um acht. Ein Gefühl sagt ihr, dass Vati noch kommen wird.

O du fröhliche, singt es im Radio.

Mops kriegt zu Weihnachten, das zugleich Geburtstag ist, eine Pistole.

"Schon wieder eine Pistole?"

Mutti sieht ihn lange an und zuckt die Achseln. Sie war dieses Jahr bei den Weihnachtseinkäufen nicht recht bei der Sache.

Immerhin, die alte Pistole war sowieso hin, und die neue kann richtig schießen. Spannt man den Hahn und drückt auf den Abzug, treibt eine Feder das hölzerne Geschoss heraus, dass es mit Wucht durch das ganze Zimmer fliegt.

Beim Mittagessen am ersten Feiertag erwischt es den Porzel-lanhenkel an der Soßiere. Die Ohrfeige hat ebenfalls Wucht.

"Jetzt komm her und sieh dir an, was du angestellt hast! Iß jetzt!"

Was soll er nun machen: Sich den Schaden ansehen oder essen?

"Kannst du nicht hören?"

Er schiebt die Gabel weg: "Ich mag keine grünen Bohnen!"

"Du magst grüne Bohnen. Sie sind mit guter Mehlschwitze!"

"Ich esse keine Mehlschwitze!"

"Und du isst Mehlschwitze. Mehlschwitze und Bohnen und Kartoffeln und Hammelfleisch und Soße und hinterher Himbeersaft! Wird's bald?"

Mops leert das Saftglas über seinem Teller aus, dass Saft und Soße breit auf das weiße Tischtuch laufen. Da sieht er es unter Muttis Auge glitzern. "So", spricht sie, "und diesen ganzen Matsch löffelst du jetzt auf, bis zum letzten Bissen. Dein Vater wäre froh..."

Sie läuft aus dem Zimmer.

Mops greift zum Löffel und löffelt.

Nach langer Zeit kommt sie wieder herein: "Außerdem möchte ich erfahren, wo meine Hornknöpfe geblieben sind!"

Mops ist jetzt sieben.

 

In den nächsten Wochen vergisst Herr Meier immer öfter, die Fähnchen zu stecken. In der Zeitung finden sich seitenweise  Heldenkreuze. Mutti sagt Heldentodkreuze. Mops kann es längst fließend lesen: Gefallen für Führer und Vaterland. Und einmal kommt im Radio langsame Musik.

Beim Abendgebet erklärt Mutti, warum. Die Russen haben in Stalingrad um den Kessel aus deutschen Soldaten einen zweiten Kessel gebildet, lauter Panzer und Kanonen, von allen Seiten kamen sie. Eine Übermacht.

"Mach, dass bald Frieden wird und Sieg", beten sie.

 

Manchmal bleiben die Anglo-Amerikaner nachts aus, es ist dann, als ob sie ausschlafen wollten für den nächsten, noch frecheren Angriff. Zur gewohnten Stunde wacht Mops auf und wartet.

Absolut schwarz, wegen der Verdunkelung, ist das Fenster, zu hören ist nur ein Klopfen und Rauschen. Das ist das eigene Herz. Ich bin klein, mein Herz ist rein. Aber er weiß, mit sieben ist man nicht mehr klein. Und der Heiland, auch das weiß Mops längst, ist nicht Heitler, sondern viel weiter fort, hoch über den Flugzeugen. Er kann einen kleinen Jungen nicht hören.

Wenn das Herz so laut rauscht und pocht, zieht Mops samt Bettzeug unter den Heitlerschrank. Ja, bei Tage, da ist der Schrank einfach der schöne Schrank mit den hohen, gedrechselten Beinen und dem Eichenlaubmuster. Der Schrank, in dem das Radio steht, aus dem manchmal der Führer spricht oder der Doktor Goebbels oder Hermann Göring. Bei Nacht aber, bei Nacht ist der Schrank wieder Mopsens wunderbarer Heitlerschrank, sein Keller.

Und Heitler ist da, ganz nah, zwinkert ihm zu, das offene Auge schimmert.

Mops zeigt seine Pistole, die richtig schießt.

"Und Porzellanhenkel trifft", sagt Heitler. Er weiß alles.

"Ist Vati totgeschossen?" Lange und bang wartet Mops auf die Antwort. Endlich lacht Heitler:

"Dein Vati lässt sich nicht totschießen. Der schießt als er-ster!"

"Und wenn er nicht trifft?"

"Der trifft. Wenn sogar sein Sohn schon trifft."

Mops spannt den Hahn. Aber worauf soll er zielen? Das schimmernde Auge tanzt kleine Kreise. Heitler kichert: "Zielst du etwa auf mich? Du traust dich nicht..."

"Und wenn ich mich traue?"

"Dann erfüllt sich ein Wunsch."

"Frieden und Sieg", wünscht sich Mops.

Das Krümmen des Zeigefingers kostet seine ganze Kraft.

Blendene Helle.

Die kommt von der elektrischen Zimmerlampe. Mutti, mit Zaushaar.

"Mopfange", verlangt er quengelig.

Die Warze kratzt. Mutti riecht freundlich nach ihrem warmen Bett. Ausnahmsweise darf er heute nacht mit ins Schlafzimmer. Obwohl das keine Erziehung ist für einen richtigen Jungen.

 

 Der Frühling kommt. Das Leben in der Schule geht seinen gewohnten Gang.

Irgendwer hat für Regenwettertage, an denen man nicht auf den Hof hinunter kann, ein haasträubendes Pausenspiel erfunden. Es heißt: Dreckelige Wörter. Einer beginnt:

"Du Schwein!"

Ja, das Spiel ist haarsträubend, nun muss der, der Schwein genannt wurde, dem Gegner in die Haare fahren:

"Du Sauschwein!"

Bei der Antwort wird er selbst gezaust:

"Du Hundesauschwein!"

Sieger bleibt der, dem immer noch ein schlimmeres dreckeliges Wort einfällt.

Nach solchen Pausen erblickt Herr Haas vor sich eine Klasse voller Struwwelpeter. Am struwweligsten sieht jedesmal Rodolf aus: Der Hundesauschweinlinksfurz.

Der Linksfurz. Dieser Spitzname bleibt an Rodolf Mahler hängen. Weil er ein Miefer ist und ein Linkshänder dazu.

Der rothaarige Linksfurz kann Mops nur leid tun.

Aus Mitleid lässt er ihn manchmal nachmittags auf dem Roller fahren, auch umsonst, dass heißt, auch wenn Rodolf ihm keine Schnitte aus seiner "Sonderzuteilung" an Flönsbroten abließ.

Ja, Sonderzuteilung, noch immer nämlich bekommt der Linksfurz Esssachen zugesteckt, und zwar nach Schulschluss, und zwar heimlich, am Schulhofgatter, und zwar von Rostecks Karl. Nicht immer sind es allerdings fertig mit Flöns belegte Schnitten: Meistens sogar ist es einfach ein Viertel Brotlaib.

Den trägt der Linksfurz dann zu seinem Großvater.

Einmal kriegt er auch eine Tüte Zucker.

Mops wüsste gern, ob Rodolf die ebenfalls zum Großvater schafft. Sie haben ja den gleichen Heimweg. Unterwegs sagt Rodolf: "Su, ich jon jetz he ren. He wonnt minge Jroßvatter."

Mops schickt sich an, mit ins Haus gehen, aber Rodolf macht ein Gesicht wie ein Dackel, wenn er mal muss. Druckst herum, sein Opa leidet keinen fremden Besuch. Nichts zu machen, Linksfurz, Justus Sallmann kommt trotzdem mit. Er will diesen Großvater, der eine ganze Tüte Zucker kriegen soll, mal kennen lernen.

Rodolf klingelt an einer Kellerwohnung. Sie warten.

Jetzt klingelt Mops. Und zwar kräftig.

Eine Frau mit einem Eimer voll Herdasche sagt im Vorbeigehen: "Das könnt ihr lassen." Sie riecht nach der Asche und nach Sauerkraut.

Rodolf klingelt Alarm. Die Frau kommt zurück: "Sie haben ihn abgeholt."

"Wohin denn?" fragt Mops.

Die Frau ist schon fort, Rodolf presst den Daumen in die Klingel, es schrillt durchs ganze Haus. Rodolf heult.

Mops liest das Namensschild. SALOMON.

"Der Jude", entfährt es ihm.

Rodolf hört auf zu klingeln und tritt Mops gegen das Schien-bein, immer wieder, er hört gar nicht auf zu treten, und Mops tritt zurück, und sie reißen sich an den Haaren, knallen zu Boden, ein, heulendes, schimpfendes Bündel. Rodolfs Ranzen hat sich geöffnet und die Tüte mit dem Zucker fällt raus und platzt. Das bringt sie zur Besinnung, Rodolf hält plötzlich still, lehnt sich an die verschlossene Tür und flennt und stippt die Fingerspitze in den verschütteten Zucker und leckt sie ab und heult und leckt seinen Zucker.

Mops schnauft noch. Er setzt sich daneben. Er schiebt den Finger erst ganz tief in den Mund und zieht ihn in ganzer Länge naß wieder heraus, erst dann tunkt er ihn in den Zucker. Er zeigt Rodolf, wie er den Finger regelrecht im Zucker wälzen muss, und Rodolf macht es nach.

"Du hast mit Kloppen angefangen."

"Nä, do."

"Du Hundesauschweinjude."

"Du Hundesauschweinrusse."

Auf das Haareraufen können sie schon verzichten.

"Dann war der Roller also wirklich deiner", sagt Mops.

Rodolf tunkt jetzt sämtliche Finger in den Zucker, steht auf und läuft los, einen Daumen im Mund. Mops rennt hinterher:

"Gemein von deinem Opa, den Roller einfach zu verkaufen!"

"Hä hätt mer doför en blau Taschenlämp metjebraacht!"

Rodolf stößt mit einem Ranzenschlenker Mopsens ausgestreckten Arm weg, ohne den Zeigefinger aus dem Mund zu nehmen.

Eine Taschenlampe, ganz schön, denkt Mops, aber gegen einen Roller? Betrug, typisch jüdisch! Ob sie ihn deshalb abgeholt haben? Er stellt sich den dürren Juden vor, die gesprungene Brille, die kaum auf der Nase hielt. Was er, Mops, dagegen für einen tadellosen, lieben Opa hat. Seinen Opa Gaul.

"Bist du also auch ein Jude?" fragt er im Laufen.

Rodolf nimmt den Mittelfinger aus dem Mund: "Ne Vierteljod, do Arschloch!" Und rennt.

Stimmt das? denkt Mops und bleibt im Lauf zurück. Der Linksfurz hat den deutschen Namen Mahler, und sein Vater ist an der Front. Und außerdem geschieden, das ist bekannt. Rodolfs Mutter müsste also die Jüdin sein, aber wieder bloß eine halbe, sonst wäre Rodolf kein Vierteljud. Wenn es stimmt, was er da behauptet, wenn er sich nicht mit Lügen herausredet. Aber mal angenommen, Frau Mahler ist diese halbe Jüdin... Dann war nur die eine Großelternhälfte von Rodolf verjudet. Großvater Salomon.

Solche Sachen muss jedes Kind ausrechnen können, aber schnell geht das nicht, wenn man im ersten Schuljahr sitzt. Und: Was kann der arme Linksfurz für seinen Judenopa?

 "Wir tauschen!", ruft Mops seinem Klassenkameraden hinterher. "Roller gegen Taschenlampe!" Und eine große, edle Gerechtigkeit ist in seinem Herzen.

Aber aus dem Tausch ist dann nichts geworden. 

 

Mutti war gerade losgegangen zur Sparkasse, da hörte Mops das  blecherne Schaben am Briefkasten. Dabei war es schon spät am Tage. Die Post kommt neuerdings ganz unregelmäßig, manchmal sogar erst zur Schlafenszeit.

Er hat den Kasten mit dem Schlüssel aufgeschlossen und den Brief herausgeholt. FELDPOST. Er hat ihn aufgemacht. Vatis kleine, akkurate Schrift liest sich fast so leicht wie die Schreibschrift im Lesebuch, Mops musste kaum den Mund bewegen beim Lesen:

 

Im Felde, 25. Dezember 1942. Weihnachtsgruß, mein liebes Herz! In der Aussicht, nach vier Tagesmärschen heute endlich einen ganzen Rasttag zu bekommen, haben ich meine Kiste vom Fahrzeug holen lassen, um Dir wieder einmal einen ausführlichen Bericht zu geben. (Mit dessen Einzelheiten Du das Bärengemüt gewisser Volksgenossen nicht belasten wirst.)

Wir kamen durch Städte, die völlig in Trümmern liegen. Nur Brände, Schutt, Asche. Nach unheimlichen Frösten haben wir heute nur zwanzig Grad unter Null auf unserem Vormarsch, dafür trieb uns ein scharfer Wind von West Rauch und Geschrei aus einem Dorf entgegen. Wie wir ankamen, verlohte gerade knisternd die hölzerne Kirche, wir trafen nur motorisierte SS, die gerade abrückte. Die Bauernkaten waren sämtlich menschenleer.

Der russische Ofen, auf dem ich hier liege und schreibe, ist noch warm. Auch gekochtes Essen stand auf dem Tisch, aber selbst die mehligen, fast noch heißen Kartoffeln ließen Freude schwerlich aufkommen. Und nicht einmal die vom Kompagniechef gestifteten Kerzen auf unserem Tannenbäumchen heben meine Stimmung und die der Männer, alles redet nur von der brennenden Kirche... Wie mögt Ihr daheim das Fest verbringen, Du und mein lieber Mops? Dem ich für seinen allerersten Brief recht sehr danke. Wann werden wir drei uns ...

 

So weit ist Mops mit dem Lesen gekommen, da kehrte Mutti von der Sparkasse zurück.

Sie hat den Brief an sich gerissen und die Zeilen wieder und wieder mit den Augen durchflogen. Als sie ihn endlich in den Schoß sinken ließ, war sie nah am Weinen.

Das Datum machte sie traurig. "Weihnachten", sagt sie, "da haben wir uns wegen des abgebrochenen Porzellanhenkels gezankt, wir beide." 

Mops weiß es noch.

Jetzt ist Mai. Der Brief war fünf Monate unterwegs.

"Immerhin ein Lebenszeichen", sagt Mutti.

Auch Mops ist traurig. Was er da las, passt so gar nicht zu seinem lustigen Vati, der zu Weihnachten "Käse zum Bahnhof" singt. Und etwas anderes wundert ihn an dem Brief noch: "Wieso stand heißes Essen auf dem Tisch, und die russischen Leute aus dem Dorf waren alle fort?

Die Angsthasen. Vor der SS werden sie ausgerissen sein. Und haben auch noch vorher die eigene Kirche angezündet.

Und wieso haben die deutschen Soldaten auf ihrem Vormarsch den Westwind von vorn?

Vati muss sich da geirrt haben, es muss Ostwind heißen.

 

Diesen Sommer krachen die Einschläge von Nacht zu Nacht lauter.

Die Hausbewohner müssen sich anschreien, um ein Wort zu verstehen. Die Kellerluft ist zum Schneiden. Herr Meier und Rostecks Karl haben sich die schwarzen Luftschutzhelme übergestülpt, Herr Meier ruft: "Wir lassen uns den Schneid nicht abkaufen!"

"Was?" ruft Mutti.

"Den Schneid!"

"Aha!"

Aber den Reden des Luftschutzwarts fehlt jeder rheinische Humor. Seine Frau ist mit ihrem Korbstuhl zu Sallmanns an die Mittelsäule gerückt, denn es ist erwiesen, solch ein Stützpfeiler bietet den sichersten Schutz im ganzen deutschen Reich. Der Krieg lässt die Volksgemeinschaft enger zusammenrücken, so hat es der Doktor Goebbels im Radio gesagt. Mutti und ihre ehemalige Kraft reden wieder freundlich miteinander.

"Die Nährmittelkartengeschichte damals, Sie erinnern sich?" Frau Meier beugt sich über Mopsens Kopf herüber zu Muttis Ohr. Mutti hebt die Hände, als wollte sie sagen: Ich bitte Sie, Moment, ich muss mich erst erinnern...

Frau Meier hilft ihr: "Sie sagten, sie hätten sie veloren..."

"Gewiss..."

"Gute Frau, das war nicht der einzige Fall von Verlieren in den letzten Monaten!" Die Augen der Nachbarin blitzen zornig.

"Diebstahl etwa?...Sie wollen doch nicht sagen..." Mutti stellt sich ein bisschen ahnungslos. Frau Meier formt ihre Hand zum Trichter:

"Was ich Ihnen jetzt anvertraue, bleibt vorläufig..."

Mops ist ganz Ohr, nun kommt bestimmt ein ganz geheimes Geheimnis. Ja, Frau Meier hat gerade heute persönlich Meldung erstattet, sie erachtete es als ihre staatsbürgerliche Pflicht... Ihre Augen huschen schmal durch den menschenerfüllten Raum: "Der Lump ist jemand, den wir alle hier gut kennen und - "

Das Pfeifen war nur kurz.

Daran erinnert sich Mops als erstes. Staub knirscht zwischen den Zähnen. Er kriegt schwer Luft, sieht aufgesperrte Münder, verwundert, dass er gar nichts hören kann. Direkt neben ihm sind Steine aus der Säule gebrochen, und ein Mauerstück liegt in Frau Meiers Nacken und kippt langsam zu Boden. Das Poltern hört er wieder.

Er spürt Muttis Hände, sogar die kleine Warze. Durch Staubwolken sieht er Rostecks Karl an der eisernen Eingangstür hantieren. Die hat sich verkeilt, Karl stößt und zerrt.

"Die Gasrohre!", schrillt eine Frauenstimme.

"Durch den Durchbruch", ruft Mops.

 Von irgendwoher zieht es brenzlig herein, es würgt im Hals. Mutti hat von hinten Karls Jacke gepackt: "So machen Sie doch,  sehen Sie denn nicht, hier ist ein Kind..."

"Durch den Durchbruch", schreit Mops.

Doch da sind von nebenan wuchtige Schläge zu hören, ein Riss erscheint in der Russlandkarte, die den Durchbruch verdeckt, die Spitze einer Spitzhacke, stürzende Ziegelbrocken reißen die Karte vollends mit sich herunter. Der Durchbruch ist offen!  

Gestalten klettern herein, es sind die Leute aus Nummer drei-undfünfzig, Frauen, Großväter, zwei Mädchen, ein Soldat, zuletzt der fremde Luftschutzwart, auch im schwarzen Helm. Alle stumm.

"Hier ist voll!", kreischt jemand aus einundfünfzig, "wir sind verschüttet!"

"Weg da!" Karl wirft sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Eisentür. Diesmal gibt sie ein Stück nach, der fremde Luftschutzwart und der Soldat helfen mit der Hacke, sie hebeln und dreschen die Tür beiseite.

"Frauen und Kinder!"

Nasser Stoff klatscht über Mopsens Kopf, er wird von kräftigen Armen empor gerissen, hört die hastenden Schritte des Mannes, der ihn trägt, da sind die Kellerstufen, der Hausflur.

Rauch. Hustende Leute stürzen an Mops vorbei, weiter die Haustreppe hinauf zu ihren Wohnungen. Jemand reißt ihn um, er rollt zur Wand, springt wieder auf. "Lore, Lore Mahler, melde dich!" schreit eine Frau. Noch immer kommen Leute nach oben, jetzt krächzen und husten alle.

"Mutti?

Mutti!

Mutti!" Er ruft die Kellertreppe hinab.

Keine von den Frauen ist Mutti.

Und jetzt bleibt die Treppe leer.

Aber ihm ist, als hätte er im Entwarnton der Sirene ihre Stimme gehört.

Da wirft er die nasse Decke von der Schulter und rennt zurück in den Keller. Hier ist der Rauch gar nicht so schlimm.

Unten im Gang schleppen Herr Meier und der Soldat die Frau Meier, ihr Pelzmantel schleift über den Schutt. Mops drängt sich vorbei.

Noch ein Mensch wird vorbeigetragen. Aus dem einem Ohr sickert etwas Schwarzes. Mops kennt das Gesicht, es gehört einer von den Besenfrauen, die manchmal die Fensterscherben von der Straße kehrten.

Umgekippte Stühle, Koffer, Mopsens Rucksack.

Er lauscht. Nur ein feines Zischen ist zu hören, es riecht durchdringend nach Kappessuppe. Mops weiß sofort: Das ist ein kaputtes Gasrohr. Als graue Brühe hängt der Staubschutt unter der flackernden Lampe.

"Mutti?"

Die halblaute Stimme ist nicht Muttis. Er klettert in den Durchbruch.

"Hier?" fragt er.

Im Nachbarkeller atmet es sich wieder schwerer, der stickige Mief würgt in der Brust und brennt in den Augen. Auch ist hier drüben das elektrische Licht erloschen. Nur ein blauer Schein irrt dicht am Boden umher. Da sind die eisernen Beine von einem Bettgestell, zwei davon sind schief abgespreizt. Und von dort, unter dem verbeulten Bett hervor dringt Jammern und Schniefen, immer wieder zwei Worte, die Mops nicht versteht.

Rodolfs Stimme. Er liegt auf dem Bauch, Kopf und Körper stecken unter der Stahlfedermatratze, die unter herabgefallenem Schutt tief durchhängt.

Die Jungenbeine ragen hervor, sind voller Leben, sie strampeln und scharren, während die Hand mit der Taschenlampe zwischen Ziegelschutt herumfuhrwerkt.

"Linksfurz, was machst du da?"

"Ming Aap, ming Aap", jammert Rodolf.

Jetzt entdeckt Mops den Plüschaffen, im blauen Schein der Luftschutztaschenlampe sieht er selber tintig aus, sogar seine glä-sernen Augenknöpfe blinken blau, irgendwie voller Tücke.

"Ming Aap..."

Der Affe klemmt unglücklich zwischen Mauer und dem verbogenen Bett, und Rodolf hängt selber fest unter der durchhängenden Matratze und langt nicht bis hin.

Mops kriecht von der Seite ebenfalls unter das Bett. Er er-reicht den Affen, reißt daran, aber das Tier steckt fest, sein Holzwollebauch ist eingedrückt, quillt in zwei Wülsten rechts und links hinter dem Bettbein hervor.

"Laß den Aap! Wo ist deine Mutter?"

"Ming Aap, ming Aap", flüstert Rodolf.

Der huschende blaue Lichtfleck erfasst noch weitere Spielsachen, ein hölzernes Schwert, Abziehbilder an den Bettbeinen, ein winziges Kopfkissen. Der Linksfurz hat sich im Keller unter seinem Luftschutzbett eine richtige Höhle eingerichtet.

Mops schiebt sich zurück, steht auf, zerrt an Rodolfs Bein. Spürt plötzlich eine Schwäche in den Händen. Und Rodolf widersetzt sich, tritt wild um sich.

"Ming Aap!"

Etwas anderes fällt ihm nicht ein.

Noch einmal kriecht Mops zu ihm hinunter. Er weiß plötzlich, wie er es anstellen muss, um den Dummkopf zu kriegen. Er greift ihm in sein Haargestrubbel:

"Du Sauschwein!"

Rodolf hört auf zu flennen. Seine dunklen Augen öffnen sich zu einem matten Leuchten.

"Do Hundesauschwein!" antwortet er und packt Mopsens Haar.

"Du Hundesauschweinlausejude!" Am Schopf zerrt Mops Rodolf von dem Affen weg und seitlich unter dem Bett hervor. Nur ein paar Fäden aus Rodolfs Jackenrücken bleiben in den Matratzenspiralen zurück.

Irgendwo draußen, vielleicht vom Hof her, hallen Kommandos, irren Rufe umher. Jetzt hört Mops wirklich die Stimme seiner Mutter, ganz deutlich, nur merkwürdig hoch und schrill, sie ruft seinen Namen, sie ruft "Justus Sallmann, hat jemand einen Jungen gesehen?"

Mops ruft ebenfalls, so laut er kann, und mit dem Ruf steigt ihm Brechreiz in die Kehle. Muttis Stimme scheint sich zu ent-fernen.

Rodolf heult und hustet, aber er lässt sich jetzt willig durch den Durchbruch ziehen.

Oben ist dann Mutti. Sie hält einen kantigen Gegenstand an sich gepresst, Mops kann nicht erkennen, was es ist. Sie greift nach der Hand ihres Sohnes und fängt an zu rennen.

Durch das Stimmengewirr dringt noch Rodolfs Geplärr: "Ming Aap, ming Aap..."

Mops stolpert vorwärts. Schon unter dem Durchgang von Vorderhaus schlägt ihm Hitze ins Gesicht: Die Ehrenfelder Straße brennt. Ganz in der Nähe platzt ein Fenster, aus dem Zimmer schlagen hohe Flammen. Leute laufen, schleppen, schieben, das Feuer faucht. Aus der Bäckerei pufft ein dumpfer Knall, die Vorderfront des Hauses wölbt sich zur Straße und knickt in einer Funkenwolke zusammen.

"Das Mehl explodiert!" ruft ein Mann.

Sie laufen, wohin alle laufen.

Auf der Rheinbrücke verwehren Hitlerjungen den Durchgang: "Blindgänger!"

Die Leute hasten vorbei, mitten auf der Brücke kommt ein brennendes Lastauto angerast. Sie pressen sich gegen das Geländer. Weiter...Mops keucht hinter seiner Mutter her, vom raschen Atmen weicht allmählich die Übelkeit. Nur im Kopf sitzt noch ein dumpfes Gefühl.

Auf der anderen Seite, am Sockel eines Reiterstandbilds halten die Leute wie auf Kommando in ihrer Flucht ein und verschnaufen. Hier drüben ist alles dunkel. Das Ufer, das hinter ihnen liegt, lodert, die brennenden Häuser spiegeln sich im trägen Strom. Schwarz ragen die beiden Domtürme in den roten Himmel, dahinter kreuzen sich die Strahlen der Flakscheinwerfer, kehren die hochgetürmten Wolken nach feindlichen Flugzeugen ab. Es ist fast still, verschlafen gluckst der Rhein gegen die Ufermauer, und Kühle steigt herauf.

"Mutti, sind wir jetzt fliegergeschädigt?"

"Ja, ja", antwortet Mutti, "Sicher". Ihre Stimme klingt heiser und ein bisschen erstaunt. Sie schauen über das Wasser, Mutti drückt seine Schulter an sich. Er spürt den kantigen Gegenstand, den sie noch immer bei sich hat. Er ist aus Blech.

Der Briefkasten. Mutti weiß nicht, wie ihr der in die Hände geraten ist. Sie entsinnt sich bloß, dass sie auf der Suche nach Mops die Treppe hinaufgerannt ist, bis vor die Wohnung.

Sie zieht ihr Schlüsselbund aus der Manteltasche und schließt auf. "Mir war wohl, als müsste ein Brief darin sein", murmelt sie.

Es ist aber keiner drin. Nur eine herausgerissene Holzschraube klappert in dem Kasten.

 

Der schöne Schrank steht jetzt eingekeilt zwischen anderen Möbeln und fremdem Hausrat unter dem Durchgang des Vorderhauses Nummer einundfünfzig. Der Heiland hat nicht erlaubt, dass die Wohnung total ausbrannte. Das hat Mutti nur geglaubt im ersten Schrecken.

Als sie den Briefkasten von der Tür riss.

Durch den Morgenregen, der regelmäßig nach schweren Luftangriffen niedergeht - das macht der Heiland extra, damit der Regen löschen hilft - durch dicke Regenschnüre blinzelt Mops unter seinem Schrank hervor hinauf in den ersten Stock des Hinterhauses: Dort oben nimmt Mutti die Großelternbilder und den Familienstammbaum von der Wohnzimmerwand. In einer fremden Küche hebt gerade Rostecks Karl zusammen mit zwei unbekannten Männern den Herd von seinem Platz. Alles ist gut zu sehen, denn die Außenmauer des Hauses fehlt. Die liegt jetzt zerborsten im Hof, ein Schuttberg, und ganz nah bei Mops spießt ein Balkongitter in den grauen Morgen.

Er zieht seine warme Schlafdecke bis ans Kinn, kuschelt sich auf seinem Matratzenstück zurecht und schließt die Augen. Er verspürt ein leises Kribbeln auf seinem Kopf, ist aber schon zu müde, um sich zu kratzen. Danke, Heitler, dass Du es regnen lässt und dass Mutti nicht tot ist und Vati auch nicht, sondern nur vermisst. Mach, dass bald Frieden wird und Sieg.

Zwei Wochen vergehen.

Vorläufig kommen Sallmanns in Frau Rostecks Kammer im Vorderhaus unter, das wie durch ein Wunder heil blieb. Mutti läuft von Amt zu Amt und verlangt energisch ein Möbelauto, bevor der Herbst kommt.

Was sie ergattert, ist eine Bescheinigung. Darauf ein Stempel: TOTAL FLIEGERGESCHÄDIGT. Obwohl das "total" nicht ganz stimmt.

Dieser Schein, wie eine Nährmittelkarte, berechtigt zum Einkauf von Mehl, Seife, Zucker und sogar von zwei Konserven Bohnen.

Die Sachen kriegt Frau Rosteck, die für Mops mit kocht, wenn Mutti nach dem Auto unterwegs ist.

Da Ferien sind, spielt er den ganzen Tag im Hof. Klettert über die Trümmer, wippt an dem verbogenen Balkongeländer oder stöbert zwischen den Möbeln umher. Rodolf ist nicht da, er wurde von fremden Leuten in ein Kinderheim geschafft. Mops findet den kaputten Roller und macht für ihn ein schönes Begräbnis.

Oder er spielt mit sich allein das Spiel Dreckelige Wörter und scharrt sich ausgiebig auf dem Kopf. Oder sitzt einfach unter dem Schrank und schimpft in ausländischer Sprache vor sich hin. In der Sprache, in der alle Russenjudenangloamerikaner reden: Arra, barra, brdadarra, raboti, rabota.

 

Eines Tages findet er in einem aufgeplatzten Karton zwischen verschiedenen Wollsachen einen Schatz. In einem Lederetui, in rotem Samt. Einen Revolver, ladenneu, und ein Zettel aus der Fabrik liegt noch dabei, darauf steht: SCHRECKSCHUSS, GANZVERNICKELT. Herrlich blinkt der Lauf, schwer liegen die hölzernen Griffschalen zwischen den Händen. Ein Geruch von Waffenöl entströmt dem Mechanismus der Trommel, die beim Drehen leise klickt. Links, das muss der Sicherungshebel sein. Der Hahn spannt sich fast von allein. Mops setzt die Mündung ans Ohr, beißt die Zähne zusammen und drückt ab. Keine Patrone im Lauf, stellt er fest.

Er kippt seine alte Splittersammlung aus dem Geheimfach vom Schrank und legt den Revolver an ihren Platz. Jetzt gehört er ihm.

Ein Junge mit einem Revolver ist fast schon ein tapferer Soldat.  

 

Als Mutti eines Morgens Mopsens Kopf abseift, sagt sie plötzlich "Moment mal" und geht sich Frau Rostecks Brille borgen.

Da hilft keine Kernseife, Mops hat Läuse, Petroleum muss gekauft werden.

Weil sich keine einzige Reichsmark mehr im Portemonnaie findet, muss Mutti vorher Geld abheben. Mops begleitet sie. Die Sparkasse, wo sie sonst immer hingingen, ist ausgebrannt. Sie fahren mit der Straßenbahn hinaus nach Ehrenfeld.

"Eine Abhebung, zehn Mark bitte!"

Den Mann hinter dem Schalter kann Mops von Anfang an nicht leiden. Er sieht aus wie manchmal böse Witzzeichnungen in der Zeitung. Ein kleiner Dickwanst, schwarze Haarsträhnen quer über die Glatze geklebt, die Hängenase schnauft und tunkt fast in das rote und feuchte Maul. Sein dicker Finger stochert im Sparbuch herum: "Name, Sallmann, Vorname Toni", liest er schmatzend.

"Jawohl!" sagt Mops. Und denkt: Wenn Sie nichts dagegen haben.

Ohne Antwort watschelt der Dicke davon. Als er endlich wiederkommt, ist in Muttis Sparbuch ein weiterer Vorname eingestempelt: SARA. "Hiermit ist das Buch gesperrt", quäkt die fette Männerstimme: "Erraffte Guthaben von Juden sind grundsätzlich gesperrt. Außerdem hat nun mal jeder Jud einen jüdischen Vornamen zu tragen. Männlich: Israel. Weiblich: Sara. Selbst, wenn das Judentum, wie in diesem Fall, schon eindeutig aus dem Familiennamen zu ersehen ist: Sallmann oder Saalmann oder Salomon..."

Mutti färbt sich dunkelrot: "Woher nehmen Sie das Recht..."

"Werden Sie hier nicht noch üppig! Ich wundere mich nur", wendet sich der Dickwanst an die Wartenden, "wie manche sich immer noch durchmauscheln wollen. Ohne Stern am Mantel. Sie nutzen den Krieg aus und unsere Gutmütigkeit. Der nächste bitte!"

"Wir brauchen das Petroleum", schreit Mops den Mann an, "ich habe Läuse!"

Jemand lacht laut auf: "Da hilft nur: Rübe runter!"

Die anderen Leute in dem Schalterraum bleiben still.

Mutti läuft wieder von Amt zu Amt. Bis sie ihr Recht hat: Ein neues Sparbuch ohne SARA. Und Petroleum. Das beißt sehr auf Mopsens Kopf.

Und um sicherzugehen, greift sie zur Schere. Unerbittlich, auf der Haut kommen rotentzündete Stellen zum Vorschein. "Ich lasse mich nicht zur Sara stempeln", schimpft sie, und knackt überlebende Läuse zwischen den Nägeln. Mops schlägt vor, das restliche Petroleum für Rodolf aufzuheben und in das Kinderheim zu schicken.

"Zum Dank, wie?" empört sich Mutti von neuem. "Von diesem Lausepack haben wir doch die Viecher erst!"

In der Nacht, kurz nach einem leichten Luftangriff, den sie im Keller des Vorderhauses abwarten, wird Rostecks Karl von drei Männern abgeholt.

Mops wird Karl nicht wiedersehen. Und auch Rodolf nicht. Denn Mutti hat endlich ein Lastauto aufgetrieben, das die Möbel zur Bahn schafft. Die reisen als Expressgut.

 

Es geht nach Osten, in den schönen Sachsengau.

Bis nach Dresden dauert die Fahrt mehr als einen halben Tag. Hier verkündet die Fahrplantafel langen Aufenthalt, man kann gemütlich die Hauptstadt von Sachsen besehen: Die heilen Türme und Erker Im Abendsonnenglanz, das königliche Schloss, die Frauenkirche mit der mächtigen Kuppel. Mutti erklärt: Unter diesen Dächern sind unermessliche Schätze versammelt. Vor denen haben die Flugzeuge nun doch den nötigen Respekt, es ist einfach die Ehrfurcht vor der Kultur. Den Kölner Dom lassen sie ja auch stehen.

"Was ist das, Kultur?"

"Alles, worauf wir Deutschen stolz sind."

"Sind die Feinde auch auf was stolz?"

"Möglich. Warum?"

"Das ist aber dann keine Kultur?"

"Hm. Ich glaube, wir müssen zurück zum Bahnhof."

Sie holen ihr Handgepäck und klettern wieder in einen Zug. Viele Soldaten steigen mit ein, Fronturlauber, Frauen stehen auf den Bahnsteig, und zu einer sagt ein Soldat mit fast weißem Haar: "Wir kloppen sie kurz und klein." Dabei laufen ihm Tränen über das rote Gesicht, und die Frau weint auch.

Er tut Mops leid. Der weißhaarige Soldat möchte vielleicht gar nicht in den Krieg, er hat Angst, dass die Feinde ihn totschießen. Aber er will tapfer sein, darum sagt er: Wir kloppen sie kurz und klein. Mops nimmt ihn bei der Hand:

"Unser Vati ist bloß vermisst!", tröstet er.

Der Schaffner hat es gehört und überlässt Mutti und Mops Sitzplätze im Dienstabteil. Ein schmaler Sichelmond begleitet sie wie ein treuer Hund, wartet, sooft der Zug steht. Auf eine Station steht er aber so lange, dass der Mond ungeduldig wird und weiterzieht.  Güterzüge donnern durch, die Schatten riesiger Panzer mit rückwärts gedrehten Geschützrohren. Räder müssen rollen für den Sieg, seufzt der Schaffner.

Mopsens Kopf liegt auf Muttis Schoß. Er kann nicht schlafen.

"Stimmt's, Mutti, 'vermisst', das ist 'in Gefangenschaft'?"

Mutti schweigt lange. "Gewiss, mein Mops. Sonst hätten wir längst eine Nachricht von Vatis Hauptmann."

"Schneiden die Russen Vati die Haare ab?"

"Das dürfen die nicht. Vati ist schließlich deutscher Offi-zier."

Sorgenvoll betastet Mops die Stoppeln auf seinem Kopf. Bald muss er in eine neue Schule, unter lauter fremde Kinder.

"Mutti, sind Haare auch Kultur?"

"Nun hör auf damit. Sie wachsen ja wieder. Schlaf!"

"Mutti?"

"Psch..." Sie streichelt seinen Kahlkopf. Er fühlt ihre Sorgen-warze, aber eine kleine Ruhe kommt doch über ihn. Er schließt die Augen:

"Und warum haben die Männer Rostecks Karl abgeholt?"

"Karl soll Nährmittelkarten gestohlen haben."

"Das ist ganz, ganz schlimm, ja?"

"Sie werden ihn wohl ein paar Tage dabehalten. Und dann geht's ab zum Arbeitsdienst. Die werden ihm die Hammelbeine schon langziehen."

 

Auf einmal ist er Sälämi und ein Dorfjunge.

 

"Aufwachen! Wir sind da! Unsere neue Heimat!"

Um die Bahnhofsuhr flammt im Glitzertau herbstrotes Blattgerank. Auf dem einsamen Bahnsteig warten zwei Herren. Opa Gauls Manschettenknöpfe blitzen beim Winken. Und während er seinen Enkel und die Gepäckstücke aus dem Zug hebt, knöpft der andere Herr seine grüne Joppe zu, lüftet ein ulkiges durchlöchertes Hütchen und hilft Mutti vom Trittbrett. Er küsst ihr die Hand.

"Entschuldchen Sie mei Räuberzivil, gnädche Frau, ich komme geradewegs aus Büschchens Busche!"

Seine stämmigen Beine stecken in breiten Offiziershosen. Der Herr Baron v. Roch, er ist der ehemalige Regimentskamerad von Opa Gaul und sein jetziger Brötchengeber. Er redet in dem lustigen Dialekt der Sachsen, den die Leute im Zug schon gesprochen haben: „Nu freilich, unser braver Gaul ist unsre unentbehrliche rechte Hand bei dem ganzen Bürokremplich.“

Er öffnet vor Mutti den Schlag seines Autos.

Mopsens erste Autofahrt im Leben. Mit angezogenen Knien hockt er auf dem Rücksitz. Zu seinen Füßen liegt ein Sack gebreitet, und darunter lugt ein Reh hervor. Das goldgelbe Auge ist offen. Das Tier wackelt und schaukelt in den Kurven und Löchern der Feldstraße, und Stück für Stück rutscht der Sack beiseite.

Mutti unterhält sich in höflichem Ton. Sie dankt, dass der Herr Baron trotz der langen Zugverspätung ausgeharrt hat mit seinem wunderschönen Automobil.

Der Baron dreht das Lenkrad: Er hat die Wartezeit genutzt. Dem Frühaufsteher lacht das Jagdglück.

"In diesem herrlichen morgenfrischen Wald", seufzt Mutti. "Ich liebe Kiefern."

"Alles meine", schmunzelt der Herr Baron.

Das Reh hat einen prallen Leib, das Fell ist an der Bauchseite weißlich, verfilzt. Mops wüsste gern, ob das Reh womöglich noch lebt. Das gelbe Tierauge schaut.

"Diese Wiesenpracht", unterhält sich Mutti. "Sie reicht ja bis zum Horizont!"

"Alles meine", versetzt aufgeräumt der Herr Baron. Mops meldet sich:

"Es ist wie beim Gestiefelten Kater!"

"Bloß, da gehörte alles dem Herrn Grafen", lacht der Baron. Mops lacht laut mit und schielt nach dem Reh. Das Auge ist wie Glas.

"Sekunde", sagt der Baron, bremst scharf und hält. steigt be-hende aus. Hinten am Auto ist ein Kasten, daraus holt er eine doppelläufige Flinte. Stiefelt durch die sich setzende Staubfahne zurück, springt vom Weg ab ins blühende Kraut. In einer Ackersenke arbeiten Männer, ein gutes Dutzend, braun wie die Erde, wie Baumwurzeln. Sie gabeln Kartoffeln in Säcke.

Der Baron steht hinter dem Kartoffelberg und beobachtet die Arbeit, tritt unversehens hervor und reißt einen Kerl hoch, der neben der Sackwaage gefaulenzt hat. Dreht ihn am Kragen herum und versetzt ihm einen Tritt.

Mutti dreht sich zu Opa Gaul um: "Ist das hier die Umgangssprache mit den Gefangenen?"

Der Großvater antwortet leise: "Daran werdet Ihr euch gewöhnen müssen. Übrigens ist der Bursche kein Gefangener, sondern ein Hiwi, ein Hilfswilliger. Unser sauberer Herr Nechluda, irgend so ein Halbrusse."

Neben dem Bestraften hat sich noch ein anderer aufgerappelt, er tritt eilig eine Zigarette in die Erde, schließt seine feldgraue Litewka. Ein Wachtposten, Mops muss an seinen alten Herrn Haas denken, so krumm steht er vor dem Baron und kriegt seinen Anschnauzer.

Der Baron kommt zurück, verstaut die Flinte, steigt ein:

"Andauernd muss man der Bande Beine machen." Er wendet sich an Opa Gaul, während er den Motor aufbrummen lässt: Und was unseren Hiwi angeht - man hätte diese Sorte gleich in ihrer Ukraine an die Wand stellen sollen."

"Da kann ich nur beipflichten", sagt der Großvater. Sein Kopf macht den kleinen Ruck, den sein Enkel schon in Köln einmal an ihm bemerkte.

Mops grübelt. Das waren also richtige Gefangene, mit Stoppelglatzen. Und der eine ist freiwillig hier, er will uns Deutschen helfen. Aber warum faulenzt er dann? Wahrscheinlich, weil alle Russen oder Halbrussen Faulenzer sind.

Faulenzer. Und Feiglinge dazu, die sich Fußtritte gefallen lassen.

Das Reh ist bestimmt tot. Ein deutscher Junge fürchtet sich nicht vor Totem. Seine Gasmaske kommt Mops in den Sinn. Damals hat Mutti seine Furcht überwunden, indem sie ihn zwang, die Gasmaske zu streicheln.

Er beugt sich vor und tippt an das halbgeöffnete Rehmaul. Es fühlt sich kalt an und etwas feucht. Das Auge blickt gläsern und unnahbar. "Liebes Reh", flüstert er, "liebes, gutes Reh."

Entschlossen hebt er die Füße vom Polster, setzt sie fest auf den prallen Tierleib.

Dann sehen sie den Kirchturm von Büschchen. Beim Näherkommen dann flache Bauernhöfe mit grünen Toren. Bald folgen langgestreckte Gebäude, über schmalen Mauerluken Schwärme von Fliegen: Die Stallungen des Gutshofs. Zuletzt, verborgen unter hohen, alten Bäumen das Herrenhaus.

Eine Schar Kinder, barfuß. Sie gaffen nach dem Auto. Mops fasst unwillkürlich nach seinen Haarstoppeln. Der Baron errät sein Unbehagen, nimmt den Hut ab und drückt ihm den beim Aussteigen bis auf die Ohren: "Kennen wir! So paar Krabbeldiere komm' in den besten Familchen vor!"

So zieht Mops in ein richtiges Schloss ein.

"Woher ist denn der Hut so durchlöchert?" fragt er.

Da lacht der Besitzer und fängt mit komischer Stimme ein Liedchen an.

"Da haben die Genossen

mit dem Gewehr geschossen,

da hatte er ein Loch,

ja wo denn, wo denn, wo denn?

Im Hut, der Herr von Roch.

Sie - Schrot im Hosenboden."

 

Und er spießt gutgelaunt den alten Hut auf einen messingnen Haken.

 

Opa Gaul hat ein paar Tage später - Mops hatte bereits ein wenig die Gegend erkundet - die Geschichte zu dem lustigen Lied erzählt. Vor zwanzig Jahren wurde es gedichtet, in einer fröhlichen Runde von Weltkriegskameraden, die zum Fest des "Eichenmessens" ins Schloss geladen waren.

"Was ist das, Opa Gaul?"

"Das Eichenmessen? Wir haben Glück. Abwarten bis nächsten Sonntag!

Vor zwanzig Jahren - oho, das waren aufregende Zeiten.

Eine Handvoll verhetzter Spießgesellen, Rote, bis aus dem Erzgebirgischen kamen sie, probierten das Fest, eben das Eichenfest, zu stören. Wollten es mit aller Gewalt platzen lassen! Glaubten, sie wären wer weiß wie schlau. Der Sauhaufen versuchte im Schutz der Dunkelheit über die Freitreppe vorzudringen, einer aber, der Rädelsführer, der sich  für einen begnadeten Scharfschützen hielt, stieg mit seiner Flinte in die Eiche.

Dazu muss man wissen:   D i e   B l u t e i c h e ,   der mächtigste Baum ringsum im flachen Land, tausend Jahre alt, ist das Wahrzeichen von Büschchen. Sie steht bei der alten Sandgrube, und früher war das Gestrüpp dort noch nicht so hoch wie heute. Aus der Eichenkrone heraus hatte der Kerl das herrlichste Schussfeld von der Welt, direkt bis in die Salonfenster des Schlosses.

Aber das Gesindel hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Im Salon befand sich nämlich - und befindet sich noch heute - der Gewehrschrank des Barons, und die kleine Gästeschar, alte Soldaten, vom Oberleutnant aufwärts, war noch nicht ganz aus der Übung..."

Opa Gauls freundliche blaue Augen funkeln belustigt hinter der Goldbrille, und mit einem kleinen Ruck wirft er wieder den schmalen Kopf seitlich in die Höhe. Wie ein Pferd. Dieser Ruck, das weiß Mops inzwischen, ist eine alte Nervensache, ein Tick, eine Kriegsfolge, gegen die nichts zu machen ist, und dafür bekam der Großvater von den Kameraden seinen Spitznamen Gaul. 

"Und weiter?" wollte Mops erfahren.

"Was weiter. Das war's fast. Fensterglas hat dran glauben müssen. Die einzige gefährliche Kugel kam aus Richtung Eiche, wohl mehr ein Glückstreffer, und durchlöcherte den Hut des Hausherrn. Die Kameraden schwärmten aus und vertrieben die Angreifer. Den Rädelsführer, ein grünes Bürschchen, haben sie aus der Eiche abseilen müssen. Mit Hasenschrot im Hosenboden."

"Da waren alle froh, stimmt's?"

"Er selber sicher nicht. Aber die Festgäste haben nach dem kleinen Zwischenfall einem Dutzend Flaschen die Hälse gebrochen, sich am Flügel versammelt und das Lied auf das Loch im Hut gedichtet. Und am nächsten Tag die Eiche gemessen."

Und du warst unter den Gästen, Opa Gaul?"

"Ich hatte in der Eile eine Schrotpatrone geladen..."

"Und seitdem", hat Mutti hinzugefügt, die gerade den Tisch deckte, "und seitdem ist unser guter Gaul ein friedlicher Bürogaul auf dem Buchhaltersessel von einem sächsischen Rittergut. Schöne Welt, du gingst in Fransen."

 

Es ist nicht so, wie Mops im ersten Moment geglaubt hat, nämlich, dass er fortan in einem Schloss wohnen würde. Das Herrenhaus haben sie nur bei der Ankunft betreten. Um der Frau Baronin die Hand zu geben und ein Tässchen Morgentee zu trinken. Die Frau Baronin hat gütig gelächelt, Mops die Hand auf den kahlen Kopf gelegt und gesagt: Mein armer Junge. Sie ist eine schöne, hochgewachsene Dame mit schlohweißer Frisur, und sie duftet nach Veilchen. Auch besitzt sie einen Hund, einen Welshterrier, der hat Mops die Pfoten auf die Schultern gelegt und ihm mit seiner großen Zunge den Mund abgeschlabbt. Barons haben sich über Mopsens Miene hell amüsiert:  Asta ist das gutmütigste Tier von der Welt. Solange sie im Haus bleibt. Nur draußen muss man sie straff anleinen, sie hat eine Abneigung gegen Gefangenengeruch entwickelt, sie wittert die Kerle auf hundert Meter, je nach Windrichtung. Deshalb darf sie auch nicht mehr mit zur Jagd, sonst gibt es ein Unglück.

Der Hund hat mit verständigem Bernsteinblick zugehört, solange man über ihn sprach, dann ist er ruhig durch die dunkel getäfelte Halle davon geschritten: Unter dem schwarzlackierten Konzertflügel steht sein Korb.

Ja, schön und interessant ist es im Schloss, aber wohnen werden Sallmanns fortan im Comptoirhaus. COMPTOIR steht an der gläsernen Tür im Erdgeschoß: Gauls Büro. Eine Holztreppe höher gehen von einem langen, knarrenden Dielengang Holztüren ab. An einer hängt das Namensschild BEMMANN. Herr Bemmann, so heißt Mopsens zukünftiger Lehrer. Frau Bemmann waltet als guter Geist in der Schlossküche, so hat die Baronin sich ausgedrückt, und ein Söhni, Hartwig, ist auch da. Gewiss ein netter Spielkamerad für den armen Jungen aus Köln.

Weitere Türen gehören zur Buchhalterwohnung. In der kleinen Küche wird Mutti künftig für drei Personen haushalten. Im Wohn- und Schlafzimmer wird man sich einschränken, und wenn mit der Bahn die geretteten Möbel eintreffen, ist noch der Dachboden da.

Den Zweck der letzten Tür im Gang kann man leicht riechen. Das Klo heißt bei Gaul mal Retirade, mal Plumps.

 

Es ist Sonntag. Mops kniet auf dem Bett unterm Schlafzimmerfenster, draußen weht die Hakenkreuzfahne, hinter ihm plätschert der Großvater am marmornen Waschtisch, noch in Bartbinde. Leise verwünscht er das Biest von einem Anknöpfkragen.

"Gaul, warum hast du keine Frau?"

Mops weiß sehr gut, dass der Großvater geschieden ist. Und er weiß auch, was das ist: geschieden. Aber er ist auf die Antwort gespannt.

"Weil ich geschieden bin. Und davon kein Wort mehr."

"Von meinem Freund Rodolf die Eltern waren auch geschieden. Weil Frau Mahler eine Halbjüdin war."

"Papperlapapp! Meine Frau war keine Halbjüdin, auch keine Halbrussin, sondern ein ganzer Besen. Das ist auch schlimm genug. So, und nun guck lieber aus dem Fenster, ob das Auto vom Baron noch vor dem Schloss steht!"

Das Auto wartet noch vor der Freitreppe. Sie haben Zeit. Mops spielt tapferes Schneiderlein. Die Fliegen krabbeln in Scharen über die sonnenheiße Fliegengaze, er muss kaum zielen. Unter dem Drahtfächer der Klatsche kann er die breitgequetschten Hinterleiber gut beobachten. Und hebt er die Klatsche, torkeln die Erschlagenen noch eine Weile das Drahtgitter hinauf, eh sie aufs Fensterbrett fallen. Reglos liegen, plötzlich wieder wie rasend die Beinchen bewegen. Angewidert schlägt er noch einmal zu, zählt.

Mutti kommt aus dem Wohnzimmer. Sie hat ihr Reisekostüm an. Für Mops hat sie einen Tirolerhut mit einer braungetigerten Feder besorgt. Zu dritt ziehen sie hinaus zur Eiche.

Unter dem berühmten Baum wurden Pfähle in den Sandboden geschlagen, ein Scheunentor darüber gelegt: Die Festtafel. Grüppchenweise haben sie die Leute versammelt, die Mägde, Bauersfrauen mit Wangen wie rotes Leder, mit weißen Stirnen, die alltags von Kopftüchern bedeckt sind. Ein Chor stellt sich auf, die gewienerten Schulterriemen auf den Braunhemden des Jungvolks glänzen militärisch, allenthalben leuchten die weißen Blusen des Bundes Deutscher Mädel.

Über jedermann aber breitet der Eichbaum schattenspendend seine Äste. Mops überlegt, wie damals der rote Rädelsführer mit der Flinte da hochgeklettert sein kann. Wahrscheinlich an dem dicken Draht, der an dem gewaltigen Stamm hinaufführt und im Blattwerk verschwindet. Ein Blitzableiter, die gleißende Spitze hat er schon beim Näherkommen gesehen.

Ein Fanfarensignal schmettert.

Das Auto des Barons kommt angefahren, eine elegante Kurve, es hält. Der Herr Baron trägt Uniform, er öffnet den Schlag für die Frau Baronin und für Asta, die schon im Herausspringen losbelfert wie eine Flak und an die Leine genommen wird.

Und nun geht es los.

"Liebe Volksgenossen, liebe Büschchener!" Ein rosiger Herr mit schwarzem Anzug und blankem, blondem Scheitel erhebt seine Stimme und räuspert sich mehrmals. Es ist Herr Lehrer Bemmann, auf seinen Wink hin schubsen die Angesprochenen einander näher zur Festtafel, um es ihm gleichzutun und ein Henkelglas zu ergreifen: "Ich erhebe dieses erste Glas auf das Wohl unseres heißgeliebten, herrlichen Führers Adolf Hitler, den die Vorsehung gerade vor einem Jahrzehnt, da wir uns das vorige Mal zu diesem Fest vereint, an die Spitze unserer verschworenen Volksgemeinschaft gestellt hat. Zum Wohlsein!"

Mops beobachtet die hüpfenden Kehlen der Trinkenden. Er strebt hin zu den Gläsern auf der Tafel, aber Gaul erwischt ihn und sagt: "Pscht! Wir kriegen nachher was."

Herr Bemmann tupft sich mit dem Taschentuch den Mund: "Dieses Fest, ursächsisch, ein echtes Stück völkischen Brauchtums, von dem unsere Eiche, könnte sie nur sprechen, so manche Schnurre, so manches saftige Stücklein von echtem Schrot und Korn..."

Die Lache des Herrn Baron überdröhnt Schrot und Korn, der Rest geht unter im allgemeinen Gläserklingen. Der Chor aber, dirigiert von Herrn Bemmann, stimmt das Lied an vom Loch im Hut.

Die Baronin, in einem dunkelroten Samtkleid, ein einfaches Band um den Hals, an dem ein kleines, edelsteinbesetztes Hakenkreuz glitzert, ist in das Rund getreten. Das Blatt in ihrer Hand zittert leicht. "Nicht zu allen Zeiten", spricht sie lächelnd, "hat unsere liebe Eiche nur lustige Schnurren erlebt. Denn der Grund, in dem sie wurzelt, ist getränkt vom Blut eines Ahnen deren v. Roch, welcher, dies verbürgt die Legende, sein Leben verröchelte für seinen Sachsenkönig Wittekind."

"Daher der Name Hase", unterbricht sie der Baron, "Ihr Leuteln, mach'mrsch nich so feierlich!"

Sie aber fährt unbeirrt fort:

"Zum eigentlichen Akt des Eichenmessens muss nun, so will es der Brauch, ein Anzahl gedienter deutscher Männer Schulter an Schulter, straff untergehakt, den Baum umspannen. Womit symbolisch festgestellt wird, wie er wuchs und erstarkte im letzten Jahrzehnt. Das vorige Mal waren es sieben Mann. Die Eiche ist das Wahrzeichen des Glücks von ganz Büschchen."

"Und des Schusterpechs seiner Feinde", redet wiederum der Baron seiner Gattin dazwischen. Mit lächelndem Verweis schüttelt sie den Kopf zu ihm hin, sagt etwas von Gottes Segen. Er aber gibt sich nicht geschlagen und erwähnt den soliden Blitzableiter.

"Ich rufe zur Eiche", spricht die Baronin: "Herrn Oberst-leutnant v. Roch!"

"Zur Stelle!", meldet der sich.

"Herrn Rittmeister Freiherr von Beelzow!"

"Zur Stelle." Gaul tritt vor.

"Ich rufe unseren bei Jung und Alt geschätzten Herrn Lehrer Bemmann!"

"Hier!"

"Unser Gemeindeoberhaupt, Ortsbauernführer Brümmer!"

Aus der Menge löst sich ein älterer Bauer. Mops biegt einen Finger nach dem anderen um. Jetzt sind es vier.

"Herr Hufschmied Geißler bitte!"

"Zu Befehl!" Die knotigen Hände des Aufgerufenen ragen überlang aus den Ärmeln seines dunkelblauen Rocks. Er hat eine spitze Nase und eine schiefe Schulter. Fünf.

"Schuhmacher Dünnebier!" Ein kleiner Mann drängt sich mit kurzen Schritten nach vorn. Sechs.

"Herrn Altbauer Reichmann!"

Nichts rührt sich.

Hälse werden gereckt: Wo steckt er, der alte Reichmann? "Krank", meldet jemand und einer in der Menge witzelt: "Eichen-loob stinkt'n am Ende."  Die Stirn der Baronin umwölkt sich. Geflüster. Dass der alte Reichmann nicht erschienen ist, steht nicht im Festprogramm. "Eine Panne", Gaul hat sich zu Mutti umgewandt, "der Brauch verlangt, dass der Mann Soldat ist oder wenigstens war."

Von irgendwoher, hinter Sträuchern hervor kommt in ehrerbietiger Haltung eine verwegen angezogene Gestalt. Lächerlich umbeutelt eine viel zu große, knopflose Wehrmachtslitewka seinen braungebrannten, muskulösen Oberkörper. Mops erkennt den Mann wieder, es ist der Hiwi.

"Sie, Herr Nechluda?" Die Baronin ist einen Schritt zurückgewichen, aber im gleichen Moment hat Asta angeschlagen und zerrt sie an der Leine auf den Hiwi zu. "Pfui, Asta, sitz", ruft sie und knurrend gehorcht das wohlerzogene Tier.

Da ist für den Augenblick nichts zu machen. Alle gedienten Büschchener sind im Krieg. Die sieben Männer stellen sich mit dem Rücken gegen den Baum, haken sich unter. Die Fanfare schmettert, Frau Baronin fotografiert rundherum, aber als sie die Ansicht mit Herrn Nechluda drauf knipsen will, klemmt etwas in ihrem Apparat. Das war es schon, das Eichenmessen. Die Gastgeberin bittet nun jedermann zu einem zünftigen Schlag Eintopf. Frau Bemmann, die Schlossköchin, steht schon mit der Schöpfkelle neben dem dampfenden Zuber.

In etwas leiserem Ton lädt Frau Baronin noch zu einer bescheidenen Nachfeier in kleinerem Kreis.

Im Salon des Schlosses ist schon gedeckt. Blumen, Kristall. Auf die Vorsuppe, lächelt die Hausherrin, wurde umständehalber verzichtet. Man muss sich einschränken. Die gespickten Rehrückenscheiben wurden warmgestellt.

Neben Mops sitzt Beine baumelnd der stupsnasige Lehrerssohn Hartwig. Die Art, wie er sich bei Tisch bewegt, soll zeigen, dass er im Schloss so gut wie daheim ist: Auf seinem Hinterkopf stehen zwei dunkelblonde Haarwirbel munter in die Luft.

Mops ärgert sich, dass er bei Tisch den Tirolerhut nicht aufbehalten durfte. Hartwig probiert, bei seinem Beinegeschlenker Mopsens Knöchel zu treffen. Sein Vater muss ihn ermahnen.

Bei der Karamelspeise wendet sich der Baron höflich an Mutti mit der Frage, wo ihr Gatte zur Zeit Dienst schiebt.

"Zuletzt Mittelabschnitt", antwortet Mutti mit dem Blick in ihrer Karamelspeise.

"Vermisst!", sagt Mops.

"Oh, ich vergaß", entschuldigt sich der Baron.

Mops wüsste gern, welchen Dienst der Herr Baron selber schiebt. Denn einen Dienst muss er ja schieben, sonst hätte er keine Uniform an. Er klopft auf den Busch:

"Herr Baron, Sie haben aber lange Urlaub!"

Mutti weist ihn zurecht: "Kinder reden nicht ungefragt bei Tisch!"

Der Baron aber hakt gemütlich seinen Waffenrock auf. Wählt eine Zigarre, beißt die Spitze ab, spuckt sie auf den Parkettfußboden und lässt sich von Herrn Bemmann Feuer reichen. Kneift ein Auge zu und macht: "Pssst, mein Junge! Ich eröffne dir ein militärisches Geheimnis: "Der alte Krauter Roch mimt zur Zeit an der Heimatfront den Kommandanten der Außenstelle vom Stalag dreihundertvier."

Er sagt es ganz gemütlich. Aber hochdeutsch.

Mutti möchte nun aber wissen, was ein Stalag ist.

Der Baron erklärt es knapp: "Stammlager. Vorwiegend Russen. Ein kleines Konzertlager, wenn Sie so wollen. Kein Zuckerlecken für ein altes Frontschwein, mit Verlaub..."

Mutti glaubt das gern. Für einen Moment entdeckt ihr Sohn hinter ihrer freundlichen Miene das Kirschenessengesicht. Hartwig aber stößt ihn in die Rippen und feixt: "Konzertlager!" Mops feixt zurück. Sie fangen an zu flüstern: In der Mitte vom Konzertlager sitzt der Baron am Flügel und übt mit den Russen das Lied vom Loch im Hut.

Wenn sie fertig sind mit ihrer Karamelspeise, dürfen sie auf-stehen.

 

Die Schule besitzt nur ein einziges Klassenzimmer. Schuljahre eins bis vier heißen: Zug eins.

Schuljahre fünf bis acht, das Jungvolk also, die, die schon Uniform tragen dürfen: Zug zwo.

Mops gehört zu Zug eins, Unterricht von acht bis zehn, manchmal bis elf.

Betritt der Lehrer den Raum, stehen fröhlich alle stramm, viel strammer als bei Herrn Haas, auch die Mädchen in der Ofenreihe, und die Klappsitze poltern hinter ihnen hoch, heben der einen oder anderen das Kleid bis über die Kniekehlen, und die Jungen gucken hin und finden den Anblick "verhaun". 

"Ruhe und Fenster auf!", ruft dann Herr Bemmann, "Sind wir denn hier in einer Judenschule?"

Dann platzen sie alle noch einmal heraus, und danach ist wirklich Ruhe. Adolf Dünnebier, ein dicker, dunkelhaariger Junge mit kugelrundem Schädel, marschiert nach vorn, stößt das Fenster auf, baut sich vor den Lehrer hin und wirft den Arm in die Höhe: "Schmelde Zug eins zum Unnerrischt ankedrädn. Kronk: Niemand. Heilitler!"

"Heil Hitler. Danke."

Nur am ersten Tag hat sich Mops vor der Schule gefürchtet. Nämlich, dass sie ihm den Namen Stoppelrusse anhängen könnten. Doch alles ist gutgegangen: Der Name war schon vergeben an Peter Nechluda, den Sohn vom Hiwi: Luda Stoppelrusse. Obwohl er einen normalen deutschen Haarschnitt hat, den Offiziersschnitt, wie ihn alle Mütter schneiden. Luda seiner ist vielleicht bloß ein bisschen stufiger im Nacken. Luda ist rötlichblond, einen Schein heller als Rodolf in Köln. Luda Stoppelrusse, der Größte und Stämmigste im Zug eins, niemand, nicht mal er selber, weiß, in welches Schuljahr er eigentlich gehört, womöglich schon ins vierte oder fünfte. Dennoch muss er sich in die engste Bank quetschen, neben die A-Be-er, wie die I-Dötzchen hier heißen. Ganz vorn, damit er von Herrn Bemmann wenigstens etwas lernt, wenigstens ahnungsweise.

Heute wendet sich Herr Bemmann an die reiferen Jahrgänge in der Klasse. Er erzählt jetzt einmal ein Beutemärchen, welches deutsche Soldaten aus Russland mitgebracht haben, woher ja auch unser Luda stammt. Der soll mal gut aufpassen, dann bekommt er vielleicht einen Schimmer von der deutschen Silbentrennung.

Herr Bemmann lächelt Luda aufmunternd zu und beginnt:

"In einem Tal des Kaukasusgebirges lebte die wunderschöne Prinzessin Ührei. Sie war klein und rundlich von Gestalt und von kalkweißer Haut. Sie liebte den Prinzen Salamir, der war krumm, aber lang, und seine Zierde war eine Schleife aus Bindfaden um seinen Schopf. Er liebte die Prinzessin wieder, aber zwischen ihnen erhob sich ein hoher Berg, darauf hauste der bitterbitterböse Riese Fritze Frissauf. Eines Tages nun machte sich der krumme Prinz auf den Weg, auf einen Schleichweg, um die Prinzessin zu freien. Aber der bitterbitterböse Riese Fritze Frissauf ertappte die beiden, warf sie miteinander in sein Kochgeschirr und entfachte ein lustiges Feuer unter ihnen. Hei, wie das bruzelte und duftete! Fritze Frissauf aber zückte sein Feldbesteck und putze das Kochgeschirr ratzekahl leer. So waren sie schließlich in seinem Bauch vereint, das feine Prinzenpaar Salamir und Ührei."

"Salamirührei", lacht Mops. Er hat den Witz des Märchens gleich begriffen. Der Lehrer guckt überrascht.

"Aha!" freut er sich, "Endlich mal einer, der nicht 'Solomi-rihrei' sagt, sondern das Wort hochdeutsch ausspricht, wie es sich im Unterricht gehört! Kinder, was können wir außer der richtigen Silbentrennung heute noch dazulernen? Na, unser Neuer sagt es uns noch einmal!"

Stolz steht Mops in der Bank und öffnet den Mund zu einem klaren, hochdeutschen A: "Sa-la-mi-rühr-ei!"

Alle müssen ihm nachsprechen und dazu in die Hände klatschen. "Sä-lä-mi-rühr-ei" wiederholt langgezogen der Chor. Aber Herr Bemmann ist mit dem "Sälämi" noch nicht ganz zufrieden. Und damit die Klasse das Hochdeutsche lernt, wird Justus Sallmann in Zukunft die Morgenmeldung erstatten.

Mops ist zum Melder ernannt!

Melder, wie gern wollte er schon im Luftschutzkeller ein Melder werden, wie Rostecks...nein, nicht wie dieser Nährmittelkartendieb. Ein viel besserer Melder wird er sein.

Nach der Deutschstunde ist Rechnen dran und nach der Pause Turnen. Dann ist Schluss, denn vor dem Schulhaus versammeln sich schon die Größeren vom Zug zwo. Sie knöpfen sich Luda vor, und die Kleinen helfen nach Kräften mit. Das Spiel heißt Schinkenklopfen. Luda muss sich vorbeugen, die Augen in die Hände von Adolf Dünnebier oder Hartwig Bemmann oder sonstwem legen. Errät er, wer ihm auf den Hintern haut, ist er frei. Aber immer rät er falsch. Auch Mops kommt dran mit Draufhauen.

Mops holt groß aus.

"Sälämi", rät Luda auf Anhieb.

Einige meinen, es gilt nicht, aber Adolf sagt, doch, es gilt, warum drischt Sälämi nicht richtig zu. Er kann wohl bloß fein melden. Nun ist Mops der Schinken. Gottlob schaut gerade Herr Bemmann aus dem Fenster: Benötigt Zug zwo eine Extraeinladung zum Unterricht?

 

Eines Nachmittags, nach den Schularbeiten, steckt Hartwig Bemmann den Kopf zur Küchentür herein: "Los, komm, heute bohr'n se Kwiewans Friedel uff!"

Kriewans Friedel kennt Mops schon, sie ist eine Idiotin. Die kleinen, wasserhellen Schlitzäuglein unter schweren Augendeckeln, den dicken Kopf starr geradeaus, stolpert sie mit offenem Mund den lieben langen Tag durch Büschchen. In der Hand hält sie stets einen Paukenschlegel, von dem sie sich nie trennt. Und wenn die Kirchturmuhr schlägt, bleibt sie stehen, zieht ihre heruntergerutschten Strümpfe hoch und zählt: Eimfe, feie, kreie, elfe, fieme. Ton to pät! Und sie stürzt mit raschen Watschelschritten weiter.

Die Leute sagen: "Nu, Elfriede, verbasse dein'n Baukenschlog ni!"

Dann bleibt sie wieder stehen, und die Strümpfe sind ihr wie-der heruntergerutscht bis in die eklig weißen Waden.

Man hat sie kürzlich in eine Heilanstalt abgeholt, und nun ist sie offenbar wieder da. Das Aufbohren darf Mops sich auf keinen Fall entgehen lassen. Wieso wird sie aufgebohrt? Und an welcher Stelle ihres Körpers? Am Kopf, um die Ursache ihrer Krankheit zu finden?

Hartwig führt ihn zu Kriewans Scheune. Das Tor steht offen. Unter einem Berg später Gartenblumen, die stark nach Herbst und Erde riechen, liegt etwas auf einem Wagen, sauber und wie weißes Wachs, ein Zwergengesicht in einem viel zu großen Kopf. Friedel ist in der Heilanstalt gestorben. nicht mal ihren Paukenschlegel hält sie in den gefalteten Händen. Und Mops dämmert, dass es mit dem Aufbohren ein Missverständnis war.

Dabei glaubte er schon, er hätte sich an die Büschchener Sprache vollständig gewöhnt. Aber sie ist tückisch, diese Sprache. Aufgebohrt, aufgebahrt, da hört man keinen Unterschied.

Sie werfen ein paar Kletten in Friedels Richtung, wie sie es zu ihren Lebzeiten gemacht haben, aber nur so in die Richtung, als Abschied, und rennen los. Hartwig rennt viel schneller als Mops.

Gerade beginnt im Wirtschaftshof des Gutes das Schlachtfest. Im Wasserzuber sprudelt kochendes Wasser, drei Gefangene, es sind aber Blaue, Franzosen, halten die vor Fett und Angst schon wie Sülze wabbelnde Sau an Ohren und Schwanz. Mehrmals bricht sie quiekend aus, endlich zwingen sie sie auf die Seite, die Zitzen an dem schwarzen Bauch stehen unanständig ab. Herr Nechluda, der Hiwi, wiegt in den Händen das Beil.

"Gleich", flüstert Hartwig. Seine Augen sind schmal und glit-zern.

Der Beilrücken trifft die Schweinestirn. Ein Ruck geht durch die Fleischmasse, und ein Zittern läuft in Wellen die Zitzen ent-lang.

"Jetzt das Blut!", stößt Hartwig hervor. Ein letztes, unerträg-liches Schreien, es bricht ab in einem tiefen, zufriedenen Gurgellaut.

"Sieg!", schreien Hartwig und Mops, werfen die Arme hoch und hüpfen. Die Franzosen drehen sich nach ihnen um und blicken sie seltsam an.

An diesem interessanten Nachmittag gibt es noch ein Sensation. Auf der Koppel bei der Feldscheune wird eine Stute gedeckt. Davon bekommt sie später ein Fohlen. Der Hengst zeigt das Weiße im Auge, ein schwarzer Rüssel wächst unter seinem Bauch. Die Stute, ein Falbe, tänzelt nervös. Der schiefe Hufschmied Geißler ist bei den Helfern, und der Baron selbst hält das weibliche Pferd, seine Langschäfter müssen sich fest in das Gras stemmen: Die beiden Tiere werden zu einer keuchenden, stampfenden Maschine.

"Gradso machen's die Menschen", lacht Hartwig aufgeregt.

"Ha, ha, ha", lacht Mops albern. Unversehens fangen sie an zu raufen, ohne ersichtlichen Grund. Als sie endlich zerkratzt und schnaufend voneinander ablassen, wissen sie, dass sie gleich stark sind. Von jetzt an sind sie Freunde, Kameraden.

 

Gaul sagt oft: Kinder, wie die Zeit vergeht. Kaum hat man sich von einem Weihnachtsfest erholt, folgt schon das nächste. Für Mops aber war die Zwischenzeit lang wie alle seine Lebensjahre zuvor, die sich in blauer Ferne verlieren. Wie viele Ereignisse haben ins verflossene Jahr hineingepasst: Der letzte Heiligabend ohne Vati, die Himbeersaftbohnen, die Stalingrader Kesselschlacht, die Brandnacht und die Läuse. Die Trennung von Rodolf. Die deutsche Kultur in Dresden.

Büschchen. Das Eichenmessen, die neue Schule. Das ehrenvolle Melderamt, für das er vor Gauls Rasierspiegel extra übt: Ich melde den ersten Zug zum Unterricht angetreten. Der Rasierspiegel hat zwei Seiten, in einer sieht er sich doppelt groß und kann sich noch wachsen lassen, indem er den Spiegel immer weiter vom Gesicht entfernt, bis es riesenhaft zerfließt. Ich mel-de Zug eins zum Un-ter-richt an-ge-tre-ten. Heil Hitler! Seine dicken Mopswangen stören bei der Meldung, sie sehen aus wie bei einem Mädchen, und er übt, am Schluss des wichtigen Satzes schnell die Zähne zusammenzubeißen, damit die Muskeln die Wangen straff und tapfer aussehen lassen. Damit nicht der neidische Rodolf Dünnebier sagen kann: Hätt'ch  ma lieber mei Omt beholten.

Mops versucht inzwischen übrigens, wenn er nicht gerade Meldung macht, etwas weniger hochdeutsch zu sprechen.  Mehr so ein Mittelding zwischen a und o. Denn in seinem Zug äffen sie ihn nach, und das Wort "Sälämi" klebt an ihm wie ein Paket Kletten.

Ja, was ist alles passiert. Und erst jetzt kommt wieder Weih-nachten, das deutscheste aller Feste, das Julfest neunzehnhundertdreiundvierzig.

 

Schöne Bescherung! Ausgerechnet am vierundzwanzigsten Dezember früh kommt der Anruf vom Bahnhof: Expressgut sofort abholen! Die Möbel sind eingetroffen. Nach Monaten. Räder müssen rollen für den Sieg.

Abholen, aber wie? Der Baron hat die Schultern gehoben: Pferde und Lantz-Bulldog benötigt er sogar heiligabend, und zwar für die Kartoffelfuhren zur gutseigenen Spiritusbrennerei: Die ist mit ihren Wehrmachtslieferungen im Rückstand, und alle Soldaten wollen doch in den Feiertagen ihre wohlverdiente Pulle Schluck. Höchstens, überlegt der Baron, ein halbes Dutzend Russen könnten die Möbel ziehen.

"Das nun nicht", hat Gaul gesagt. "Es sind Kriegsgefangene, keine Zugtiere."

"Die Möbel sind ja nicht meine", hat der Baron geantwortet. Aber dann waren doch Pferde da. Und eineinhalb Russen zum Abladen.

Der eine steckt in dem abgerissenen wurzelbraunen Zeug, das sie Sommer wie Winter tragen, der unrasierte Adamsapfel spießt aus einem mageren Hals. Der halbe ist der Halbrusse, der Hiwi, er hat wenigstens einen Schal um. Richtig warm steckt jedoch nur der krumme Posten, er hat den Kragen seines Wintermantels hochgeklappt und hustet erkältet.

Ihm hat Mutti die Hand gereicht. Zum Hiwi sagt sie nur Heil. Dem Gefangenen nickt sie zu. Die Möbel müssen auf den Boden gschafft werden. Mops trägt Stühle, die Stehlampe. Eine Weile hilft auch Hartwig, dann verkrümelt er sich.

Traurig sehen Sallmanns Sachen aus. Das schöne, ins helle Holz von Mopsens Schrank eingelegte Eichenlaubmuster ist heraus gequollen und rissig. Vergebens versucht Mops, einen unbewachten Augenblick abzupassen, um im Geheimfach nach seinem Revolver zu fahnden. Stets ist jemand in der Nähe, mal der Gefangene, mal der Hiwi.

Die beiden arbeiten nämlich jeder für sich, sie buckeln und asten und gucken aneinander vorbei. Und obwohl sie doch beide Russen sind, wechseln sie kein Wort. Mops hat zumindest erwartet, dass sie beim Schuften ihr bekanntes "Raboti, rabota" vor sich hin schimpfen. Aber nichts.

Einmal glaubt er, er hat für sein geheimes Vorhaben den geeigneten Moment erwischt. Der Schrank steht einsam vor der Haustür. Mops duckt sich unter die altvertrauten gedrechselten Beine, sie kommen ihm kürzer vor als früher. Eben will er ...

Da ist schon wieder der Russe. Beugt sich herunter, sagt:

"Nu?"

Mops weiß in seiner Verlegenheit nicht, was er antworten soll, so fragt er streng: "Wie heißt du?" und kriecht schnell hervor.

"Ich Simon. Stoljar. Du?"

"Ich Justus Sallmann."

Sie sehen sich ins Gesicht. Die Stoppeln auf Kopf und Wangen des Mannes sind von dem gleichen Flammenrot wie das von Vatis Haar. Unwillkürlich zieht Mops den fremden Menschengeruch tief ein, da ruft der Posten "Dawai!"

Den schweren Schrank müssen die Russen nun doch gemeinsam tragen. Sie bewegen sich langsam, stoßen an, bleiben im Treppenknick stecken. Auf Simon Stoljars eckiger Stirn stehen Schweißperlen. Von dem bisschen Schrank. Russen sind eben faul. "Los, los", ruft der Posten und hustet.

Der Schrank hat sich verkantet, regelrecht verkeilt, geht nicht vor, nicht zurück. Endlich bewegt er sich. Ist es nun tückische Absicht von Simon Stoljar oder nicht - ein Schrankbein steht auf Herrn Nechludas Fuß. Mit einem Fluch stemmt der die Schulter gegen das Möbelstück, ein Ruck, das Schrankbein poltert treppab.

"Bis zum Abendbrot ist es wieder dran", droht Mutti. Der Posten sagt, Simon ist Tischler.

Der Tischler bekommt Werkzeug.

Mops wird in die Küche abkommandiert, er muss den großen Kochtopf beaufsichtigen, damit die Suppe nicht anbrennt. Er rührt. Es ist eine Kartoffelsuppe, Mutti hat auch Möhren und eine Speckschwarte mitgekocht, die erzeugt Fettaugen und einen nahrhaften Duft. Mops rührt. Im Gang hört er den Tischler hantieren.

Dann kommt Gaul aus dem Comptoir herauf. Mutti hat den Wohnzimmertisch für die Familie und für den Posten gedeckt. Und weil es schon dunkel zu werden beginnt, zieht Gaul die Verdunkelung herab und zündet die Lichter auf dem Kiefernbäumchen an. Mutti hat unter den angekommenen Sachen ihr blaues Kleid entdeckt, es ist ein bisschen zerknittert, aber sie hat es angezogen, zur Feier des Tages, und sie wünscht dem Soldaten frohe Weihnachten. Er zeigt Bilder von seinen Enkeln. Die Wohnung ist längst erfüllt von seinem Pfeifenknaster.

Der Gefangene, der die Reparatur zur Zufriedenheit erledigt hat, bekommt seine Schüssel Suppe in der Küche, von dort kann er nicht weg, Mutti hat die Tür zum Gang abgesperrt. Und der Herr Nechluda möchte vielleicht jetzt heim zu seiner eigenen Familie?

Herr Nechluda wird verabschiedet.

Der Schimmer des Weihnachtsbaums dringt durch die offene Verbindungstür hinaus zu dem Gefangenen. Mutti wünscht auch ihm einen guten Appetit, und er antwortet: "Danke gut, Frau". Er schlägt ein Kreuz, bevor er zum Löffel greift.

Er greift aber nicht zu dem Löffel auf dem Tisch. Er hat seinen eigenen. Den hat er irgendwoher aus der Tiefe seiner Lumpenuniform gezogen. Dieser Löffel interessiert Mops. Deshalb rutscht er vom Stuhl und schlendert hinüber, als müsse er aus der Küche etwas holen, vielleicht das Salz. Der russische Löffel ist aus Holz, offensichtlich selbstgeschnitzt. Ein Löffel, ganz aus Holz! Und der Esser muss gar nicht in die Suppe pusten, obgleich sie noch sehr dampft, er kühlt sie durch viel Luft beim Einschlürfen. Langsam, als sollte die Schüssel Weihnachtssuppe drei Tage reichen, verschwindet halbgefüllt eine Löffelhöhlung nach dem anderen in dem Männermund.

Im Wohnzimmer ist das Gespräch verstummt. Mops schaut hinter sich. Mutti guckt her. Ganz still sitzt sie und schaut, in ihren Augen glitzern nur die Lichtfünkchen vom Kerzenschein. Auch sie interessiert sich für den Löffel des Russen. Sie sieht sehr schön aus unter dem grünen Baum in ihrem blauen Kleid. Und durch die Wand hindurch klingt aus Bemmanns Radio das Lied: O du fröhliche.

Da legt der Russe den Löffel hin. Hebt die Hand. Sie liegt schwer auf Mopsens Kopf.

Muttis Teller klirrt: "Das geht denn doch zu weit!"

Die Hand zuckt zurück.

Nach dem Abmarsch der Hilfskräfte aus dem STALAG wird rasch der Rest der Sachen auf dem Hausboden verstaut. Der Schrank aber bleibt auf dem Gang neben dem Plumps stehen. Einmachgläser sollen darin Platz finden.

 

Das ist er gewesen, der vierundzwanzigste Dezember, Mopsens achter Geburtstag. Mal abgesehen vom Geschenk, einer Zigarrenkiste voll grauer Bleisoldaten, mit der Mutti als Kind schon gespielt hat. Und natürlich gab es noch Weihnachtsplätzchen. Den ganzen Abend haben die Erwachsenen vom Krieg geredet, von nichts anderem. Dass die Russen die gefangenen deutschen Offiziere anständig behandeln müssen, da gibt es internationale Verpflichtungen, und man selbst behandelt seine Gefangenen schließlich ebenfalls menschlich.

Mops hat verlangt, dass Gaul "Käse zum Bahnhof" singt. Aber das Lied konnte der Großvater nicht. Stattdessen haben sie schließlich "Wer will unter die Soldaten" angestimmt:

Wer will unter die Soldaten,

der muss haben ein Gewehr,

der muss haben ein Gewehr,

das muss er mit Pulver laden,

und mit einer Kugel schwer.

 

Der muss haben einen Revolver.

Jetzt ist Nacht. Heilige Nacht. Im anderem Bett faucht und pfeift Gauls Riechorgan. Mops erhebt sich. Die Zehen ertasten die Pantoffeln. Die Tür knarrt, und im Gang knacken sämtliche Dielen. Aber sonst bleibt alles ruhig. Es ist rabenfinster. Immer der Nase nach, der Schrank steht neben dem Plumps. Die Hand ertastet das feuchtgewordene Holz, das nun stellenweise Risse aufweist. Mops geht in die Hocke. Wo ist das Lichtfleckchen geblieben? Er hat doch einst die Leuchtplakette auf den Geheimverschluss geleimt... Ach, die Phoshphorfarbe wurde wohl auf der langen Reise, beim Herumstehen auf den Bahnhöfen vom Wetter abgewaschen.

Und was ist das?

Die Hand erstarrt. Leer schaukelt das heruntergeklappte Geheimfach im Scharnier. Mops hockt eine Minute, tastet noch einmal gründlich nach, dann lässt er das Fach zurückschnappen und tappt wieder in sein Bett.

Simon Stoljar, denkt er bitter.

Das Schrankbein hat er gut wieder festgemacht. Nichts zu sagen. Und dann stielt er einen Revolver. Zu Weihnachten, bei Leuten. Isst in aller Ruhe Kartoffelsuppe mit Speckschwarte. In der Tasche die Diebesbeute. Und jeder achtet nur auf seinen Holzlöffel. Russen. Da hat man es wieder. Aber warum hat er nach der Tat das Geheimfach nicht wieder zuschnappen lassen? Das offene Fach macht ihn doch gleich verdächtig? Könnte es sein, dass schon vorher, auf der langen Zugfahrt jemand... ach was.

Simon. Wer soll es sonst gewesen sein. Etwa Hartwig Bemmann? Freilich, der Schrank steht neben dem gemeinsamen Plumps, aber warum sollte Hartwig heiligabend auf die Idee kommen, an Sallmanns Schrank rumzumurksen?  Nein, Hartwig war's nicht.

Simon. Gleich morgen wird Mops ihn melden müssen.

Dabei handelt es sich nur um einen Schreckschussrevolver. Mops hat sich schon vor Wochen - rein interessehalber - bei Gaul nach der Waffengattung SCHRECKSCHUSS erkundigt: Die Patrone hat kein Geschoss: Der Zünder in der Hülse lässt bloß eine Art Knall- und Stinkpulver explodieren.

Doch nicht mal solche Sorte Munition lag dabei. Simon kann jedenfalls nicht im Ernst schießen. Aber warum hat er die Waffe dann überhaupt eingesteckt? Womöglich ist er selbst auf das echte, militärische Aussehen hereingefallen?

Seine Mitrussen werden ihn auslachen, wenn er sie in der Ba-racke herumzeigt. Mops schmunzelt bei dem Gedanken, wie auch er lachen würde.

Aber da hilft alles nichts. Der Baron wird eine Untersuchung anordnen. Simon muss vortreten, der Posten klopft seine Taschen ab. Und auch, wenn sie nichts finden - sie werden den Dieb schlagen, bis er sein Versteck verrät. Denn so macht man das. Der Baron fackelt nicht lange, das hat ja sogar der Hiwi erfahren müssen, und der ist nur ein Halbrusse.

Wohin werden sie schlagen? Auf die Nase oder in den Unterbauch? Und was, wenn Simon den Revolver doch nicht hat, vielleicht nicht einmal davon weiß? So einen kann man dreschen, so lange man will, so lange, dass es sogar blutet.

Simon hätte rote Haare wie Vati.

Oder wie Rodolf.

 

Am Morgen meint Gaul beim Frühstücksei: "Der Junge war aber unruhig. Die halbe Nacht hat er sich herumgewälzt und schwer geatmet. Zuviel Gebäck gefuttert, was?"

Mops muss es nun melden. Er berichtet wahrheitsgetreu, wie er den Revolver in den Trümmern fand und sicherstellte. Und das weitere. Die Erwachsenen schauen sich an. Gauls Kopf ruckt:

"Man wird den Burschen verhören."

"Wenn es wirklich nur eine Schreckschusswaffe war?" fragt Mutti.

"Es bleibt eine Waffe. Und Feindbegünstigung", sagt Gaul.

"Wieso Feindbegünstigung?" entrüstet sich Mutti.

"Wir haben einem Feind Gelegenheit zu dem Diebstahl verschafft. Punkt eins: Wieso blieb der Gefangene auch nur eine Minute ohne Aufsicht?"

"Ich musste die Suppe rühren", verteidigt sich Mops.

"Ha, Suppe!", lacht Gaul ärgerlich. "Suppe, für wen? Wenn der Kerl entsprechend gründlich verhört wird, kommt auch das Essen zur Sprache. Da hätten wir Punkt zwo: Es ist bei strengster Strafe verboten, sowjetische Gefangene zusätzlich zu verpflegen."

Mutti macht sich nun nachträglich bittere Vorwürfe: "Man ist immer wieder viel zu gut mit der Aasbande", klagt sie.

"Werden wir eingesperrt?" fragt Mops bang.

"Nicht, wenn der Junge reinen Mund hält", sagt Gaul leise und bestimmt und schraubt den Salzstreuer so fest zu, dass der Deckel einen Sprung bekommt.

 

Es riecht nach Erde. Hinter den Pflugscharen her hüpfen Vögel, zerren Regenwürmer aus der aufgebrochenen Krume. Die Bauernkinder schwitzen in der Frühlingssonne beim Auslegen der Kartoffelsaat.

Mops und Hartwig haben die Tage zum Stromern.

Hartwig ist nicht stärker als Mops, doch er klettert gewandter, trifft öfter, rennt schneller. Manchmal schlagen seine flitzenden Haxen den Weg zur alten Sandgrube ein.

Die alte Sandgrube ist eine weitläufige, zerklüftete Senke, sie liegt einen guten Gewehrschuss weit vom Schloss, umstanden von jungen Kiefern und Birken, die allesamt überragt werden von der berühmten Büschchener Bluteiche. Unweit der Eichenlichtung führen die rostigen, von Brombeerranken überwucherten Gleise einer stillgelegten Feldbahn zu der Stelle, wo lange vor dem Krieg Sand und Kies abgebaut wurden. Sandwände umgeben heute als sicherer Wall die beiden Baracken der STALAG-Außenstelle. Die Leute sagen zu diesem Ort nur "die Grube".

In der größeren Baracke hausen die gefangenen Russen, in der kleineren sind die Franzosen untergebracht und die Wachstube, vor der öfters das Auto vom Baron hält, der ja hier der Kommandant ist.

Sonntags zum Beispiel transportiert er höchstpersönlich ein Blech Kuchen hinaus, den Hartwigs Mutter nach Sonderrezept backen musste. Sie beschwert sich, was sie als Schlossköchin mit dieser Bagage für zusätzliche Arbeit hat.

Vorschrift, sagt aber der Baron.

Den Kuchen bekommen die Wachmänner und die Franzosen, pro Kopf ein Stück. Und wenn Mops und Hartwig rechtzeitig zur Stelle sind, fällt für sie ebenfalls eins ab, vielleicht ein saftiges, aus der Mitte, mit viel Rhabarber: Sauer macht lustig.

Noch jemand wohnt in der Grube. Nicht hinter Stacheldraht, sondern weiter drüben, umgeben von Müll und Gerümpel, in dem alten Maschinenhaus, wo der Mörtel zwischen den Ziegeln so stark verwittert und herausgebröckelt ist, dass man bei dem Anblick an Hungerrippen denken muss. Nechludas wohnen hier, der Hiwi, seine Hiwi-Alte, sein Hiwisohn. Wo sonst sollten sie auch wohnen? Im Dorf hätte niemand Platz für solche.

Manchmal, nach der Schule, wenn den Jungen vom Zug eins die Hände wehtun vom Schinkenklopfen, treiben sie den großen Luda Stoppelrusse mit kleinen Tritten in die Kniekehlen heimwärts. Mit gesenktem Schädel stolpert er dann vor der Meute her, niemand kriegt ihn dahin, dass er sich wehrt, dass er mal Wut bekommt, dass er seine Kraft gegen den ganzen Zug loslässt. Wie würden sie ihn dann verprügeln!

"Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Volksgenossen", höhnt und spottet der Chor, oder auch: "Luda, Judas Stoppelrusse, Luda, Judas Stoppelrusse".

Judas ist eigentlich der Name des einen Jüngers, der unseren Heiland Jesus Christus verraten hat, sodass die Juden ihn fangen und ans Kreuz schlagen konnten. Auch Luda, oder jedenfalls sein Vater, hat ja Verrat geübt. Steine fliegen in die Fenster der Hiwileute, und gelegentlich haben die Steinewerfer Glück: In der Tür erscheint keifend Ludas Mutter, das Kopftuch tief in der Stirn, und schwingt die knochige Faust. Im Dorf sieht man sie nie, die Hiwihexe, alle Besorgungen erledigt ihr Mann.

"Luda, Judas, Stoppelrusse!"

Mops und Hartwig und ein paar andere rufen nicht mit, treten Luda nicht in die Kniekehlen. Sie gucken bloß zu und sind sich einig: Hiwis sind zwar Verräter, aber sie verraten ja ihre Sowjet-heimat, ihren Führer Stalin. Und nicht Deutschland und seinen Führer Adolf Hitler.

 

Am heutigen Sonntag ist es nichts mit dem Blechkuchen für Mops und Hartwig. Der Baron ist übler Laune wegen irgendwas, er schnauzt den Posten an.

Dieser Sonntag hält eine größere Überraschung bereit.

Ein Stück weg vom Lager und vom Hiwihaus, gar nicht weit von der Eiche, liegen im unebenen Gelände Hügel aus verrottetem Stroh, wie kleine Misthaufen. Es sind eigentlich auch welche, sie stammen vom Ausmisten der Baracken, plattgelegene Strohschütten, die sich als Streu für die Viehställe ja nicht mehr eignen.

Die schwache Rauchfahne hat als erster Mops gesehen. Er macht Hartwig aufmerksam. Ein Schwelfeuer? denken sie und stochern mit Stöcken. Die lassen sich unerwartet leicht und tief senkrecht durchstecken. Unter dem Stroh ist es hohl.

Hartwig legt Stufen frei, Latten, die das Strohdach tragen. Eine Art Unterstand, die Wände sind mit Knüppelholz und Reisig ausgekleidet.

Luda kauert auf einer Sitzbank aus Ziegeln und guckt mit offenem Maul, keineswegs erfreut. Besinnt sich, sucht hastig einen Gegenstand zu verstecken. Hartwig greift schnell zu: Es ist ein hölzerner Löffel.

"Luda, wo hast du den geklaut?"

Die Augen in dem flachen, ostischen Gesicht sprechen Bände vom schlechten Gewissen, sie ducken sich unter ihren zwei strengen Augenpaaren. Mops aber zweifelt gleich, ob Luda den Löffel wirklich gestohlen hat. Solches Essbesteck schnitzt Simon Stoljar.

"Keine Angst, Luda, du Löffel behalten!" sagt er.

Mit Luda muss man recht einfach sprechen, damit er das Deutsche versteht, wenigstens ahnungsweise.

Ludas rötliche Wimpern blinzeln, seine Unruhe bleibt, die Pupillen huschen unsicher von einem zum anderen.

"Möchtest Besuch rausschmeißen, was, Luda?"

Sie kauern sich vor ihm nieder, kieksen mit ihren Stöcken auf ihm herum und machen "na? na? Gib es zu!" bis er es zugibt. Wenn Luda nur wollte, könnte er jetzt zuhauen, das ist gerade das Spannende. Aber dann würden sie den halben Zug zusammentrommeln. Klar wie Kloßbrühe, die Entdeckung seiner Strohbude kann ihn nicht freuen. Denn er lebt nicht schlecht hier. Es gibt sogar ein Schlaflager aus sauberem, trockenem Heu, und das Interessanteste ist der Herd: Ein Ziegelstapel mit einer Eisenplatte darüber. Ein Stück Ofenrohr führt nach draußen. Mit Zweigen getarnt, nur der Rauch hat das Versteck verraten.

Der Herd ist so gesetzt und mit Lehm verfugt, dass es hier drinnen kaum nach Qualm riecht, und wie Hartwig Bemmann die Eisenplatte beiseite schiebt, duftet es aus der Asche appetitlich nach gebackenen Erdäpfeln.

"Du frisst also hier, Luda", stellt Mops fest.

"Geklaute Saatkartoffeln wahrscheinlich", fügt Hartwig hinzu.

Der Ertappte hält die Augen zu Boden geschlagen: "Ich Hunger."

"Los, biete den Gästen was an!"

Zögernd bequemt sich Luda. Mit einem angespitzten Holz spießt er zwei schwarze Knollen aus der Asche. Sie werfen sie von einer Hand in die andere, brechen die Kruste auf. Im Innern liegt gold-gelb, dampfend, die mehlige Köstlichkeit. Sie graben die Zähne hinein und verbrennen sich den Mund.

"Verfluchter Sauhund, Luda! Du auch essen, los!"

Gehorsam spießt sich Luda ebenfalls eine Kartoffel heraus. Nimmt seinen Holzlöffel, gräbt ihn in das heiße Zeug und schiebt es sich in kleinen Portionen in den Mund. Die Hitze macht ihm nichts, er pustet nicht mal.

Es muss an dem Löffel liegen: "Du uns auch geben russisch Löffel, Luda!"

 Aber er besitzt kein Besteck für Gäste. Sie müssen pusten. Er ist schon fertig mit Essen.

"Du noch mehr Kartoffeln, Luda?"

"Nix noch mehr."

Sie kontrollieren das, graben mit ihren Stöcken die Asche um. Zum Schluss liegen auf dem Herdrand dreiundzwanzig schwarze Knollen aufgereiht.

"Ich eben viel Hunger", druckst Luda.

"Dann du mal viel fressen, dawai, raboti, rabota!"

Sie machen es sich auf dem Heu bequem und lassen sich seinen Hunger vorführen. Anfangs klappt das auch ganz gut, er schaufelt gehorsam zehn Kartoffeln in sich hinein, mimt sogar Heißhunger. Aber dann lässt er Gutes in den Schalen. Das geht ihm natürlich nicht durch.

Er arbeitet schweigend weiter an der Mahlzeit, die er sich mit seiner Lügerei selbst eingebrockt hat. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Plötzlich wischt er in einem Wutanfall die restlichen Kar-toffeln vom Herd. "Na, na?" sagen sie und lassen sie ihn aufklau-ben. Essen sie großmütig selber.

Ist es das überheizte Erdloch, ist es die Anerkennung für Ludas Leistung, ist es der eigene satte Bauch - die Großmut in Mops und Hartwig verwandelt sich in Frieden und versöhnliche Gesinnung. Sie strecken die Beine von sich, es wird gemütlich wie in einem Soldatenunterstand. Luda hockt mit prallem Hosenbund überm Magen, schluckt angestrengt, was von dort wieder herauf will.

Mops erklärt das kölsche Spiel Dreckelige Wörter, darauf kommt das Gespräch auf Läuse und das Leben und den Krieg und die Unerschrockenheit und den Mut der Deutschen.

Da fällt Luda aus der Rolle und behauptet, Russen wären auch mutig.

"So", sagt Hartwig. "Russen sind also auch mutig. Aber Seeche sauft Ihr nicht."

Vielleicht sagt er es anfangs nur, um Luda auf die Probe zu stellen. Aber der antwortet ohne zu Zögern, "jasno, wir saufen Seeche."

Da knöpft Hartwig seinen Hosenschlitz auf, langt nach einer herumliegenden Blechbüchse und seecht ein bisschen hinein. "Aber jeder seins", sagt er, "sonst ist es Schweinerei". Er trinkt und reicht das leere Gefäß weiter. Mops tut es ihm nach, es schmeckt ein bisschen salzig, unerwartet warm, sonst aber ganz so, wie es riecht.

"Das mach erst mal Luda!"

Luda nimmt die Büchse und wirft sie in die Asche.

Hartwig sagt plötzlich, er muss heim.

Mops muss auch heim. Ihm wird so komisch.

 

In der Kirche zieht es immer etwas, selbst im Sommer, denn einige Scheiben sind eingeschlagen. An Sonntagen spielt Herr Bemmann das ächzende, pustende Harmonium. Unsern Eingang segne Gott, unsern Ausgang gleichermaßen, hinter den schönen Melodien her schleppt sich der hohe Zittergesang der alten Frauen. Der Pfarrer ist ein kleiner Mann mit pomadeglattem Haar, und wenn er aus dem Nachbardorf angeradelt kommt, sieht man seinen Klumpfuß im hohen Schuh. Mutti sagt, das ist ein Goebbelshuf.

Zu Gaul hat sie es gesagt, aber Mops hat es gehört.

Sie geht nicht oft zur Kirche, obwohl Sallmanns neben Barons einen festen Platz haben. Sie mag den Pfarrer nicht. Er predigt ihr zu salbungsvoll.

"Was ist salbungsvoll?"

"Wenn die Rede hingleitet wie geölt und der Redner tut, als wäre alles in Butter."

"Redet der Doktor Goebbels auch salbungsvoll?"

Mutti erschrickt: Wie er nur darauf wieder kommt!

Wer der Doktor Goebbels ist, weiß jedes Kind: Der Reichspropagandaminister. Er spricht jetzt oft im Radio, muss den Führer vertreten beim Redenhalten. Den Führer, der in diesem schicksalsschweren Jahr Wichtiges zu arbeiten und zu entscheiden hat in seinem Führerhauptquartier.

Ja, ein schicksalsschweres Jahr ist es, das Jahr vierundvier-zig. Die Anglo-Amerikaner sind mit Fallschirmen in Frankreich gelandet. Sie möchten dem deutschen Volk Frankreich wegnehmen.

Die letzte Führerrede, die Mops gehört hat, liegt schon länger zurück. Mops hat sie nicht bis zum Ende ausgehalten. Das Schimpfen wurde gar zu arg, Mops wartete schon regelrecht darauf, dass auch der eigene Name fiel unter denen der Verräter, Handlanger und Feindbegünstiger. Die Stimme überschlug sich, krächzte und bellte. Mit Stumpf und Stiel, hat der Führer gebrüllt und richtige Räuberwörter gebraucht, Mopsens Dreckelige Wörter waren Kosewörter dagegen.

Doktor Goebbels - schimpfen tut der auch, aber anders, mit einer schmiegsamen Melodie. Nennt man das salbungsvoll? Aber Mops sitzt gern an der Wand, wenn Herr Bemmann sein Radio laut dreht: Ja, es ist wirklich alles in Butter, solange der Reichspropagandaminister redet, unbeugsamer Siegeswille überkommt Mops und sicherlich das gesamte deutsche Volk an den Lautsprechern. Falls die Feinde auch bis an Großdeutschlands Grenzen vorrücken sollten - auf Heimatboden würde sich unser fanatischer Abwehrkampf vertausendfachen!

Bis Büschchen werden sie niemals kommen.

Es gibt noch genügend deutsche Männer im Dorf, die ein Gewehr zu schultern wissen. Herr Bemmann hat es mal mit dem Zug eins durchgerechnet: Da wären erst mal die sieben oder sechs, die beim Eichenmessen mitgemacht haben, dazu sämtliche Jungen ab vierzehn. Und die Reserve - das Jungvolk, das heute noch als Zug zwo die Schulbank drückt. In reißende Wölfe würden die sich verwandeln auf ihrem Opfergang, in der Stunde höchster Bewährung, ob sie nun die Silbentrennung beherrschen oder nicht.

"Und wir?" fragen zu Recht enttäuscht die Jungen vom ersten Zug.

"Ihr macht Silbentrennung und Schinkenklopfen", spöttelt Herr Bemmann.

Nicht der geringste Grund zur Beunruhigung jedenfalls. Die Absetzbewegungen an der Front sind nur Atempausen vor neuen Vormärschen, und besitzen wir nicht jetzt die neuartigen V-Waffen, V, wie Vergeltung? Riesenbomben, die selbstständig, wie Flugzeuge, hunderte Kilometer durchrasen, die britische Hauptstadt in Schutt und Asche legen?

Doch eines Tages im Juli geschieht das Unerwartete, das Entsetzliche.

Wer im Dorf ein Radio hat, dreht es laut. Hinterhältiger Verrat hat sich ereignet. Eine Clique eid- und treuvergessener Offiziere aus des Führers nächster Umgebung hat ihn mit einer Zeitzünderbombe ermorden wollen.

Wenn es noch Feinde gewesen wären.

Der Führer spricht persönlich zum deutschen Volk. Er hat nur ein paar Kratzer an der Hand. Die Verräter werden ausgerottet. Mit Stumpf und Stiel.

Mops fühlt bebenden Zorn. Aber auch Zerknirschung. Denn er hat von der vorigen Führerrede nicht gut gedacht. Wie recht der Führer hatte! Jawohl, mit Stumpf und Stiel!

Unser lieber Führer!

Unser tapferer Führer!

Mein Heitler.

 

Nach der Schule hatte Mops für Mutti den Weg zur Bäckerei Böhmisch zu erledigen. Deshalb war er nicht mit dabei: Luda wurde vom Zug eins mit Tritten nach Hause begleitet. Hartwig Bemmann war es, er hat die Jungen zu Ludas Versteck geführt. Sie haben alles kurz und klein geschlagen, und Luda musste zusehen. Solcher Zorn erfüllt jetzt das ganze Dorf, das ganze Volk wegen dem Anschlag auf den Führer, da wird nicht gefackelt.

 

Dass anglo-Amerikanische Panzerspitzen im Oktober bis nach Aachen vorstießen, war ein militärischer Wahnsinn von ihnen, den sie noch bitter bereuen werden, sagt Herr Bemmann. Auch war wieder einmal Verrat im Spiel. PST! FEIND HÖRT MIT, so warnt die Schrift auf jeder deutschen Streichholzschachtel, und da ist er auch abgebildet, der Feind, sein gefährlicher Schatten. Besonders jede militärische Schwachstelle, unvorsichtig ausgeplaudert - hinter dem nächsten Baum lauert er mit gespitztem Ohr und verrät sie seinen Panzerspitzen. So nehmen sie in einem günstigen Augenblick eine deutsche Stadt. Selbstverständlich werden sie wieder vertrieben und aufgerieben.

Zu den militärischen Schwachstellen zählt zweifellos auch das Abhandenkommen von Mopsens Revolver. Wie gut, dass er damals zu niemandem in der Schule darüber sprach: Wie leicht hätte er ungewollt den Dieb aufschrecken, zu übereilter, verzweifelter Tat treiben können.

Den Dieb oder die Diebe.

Jeder kann dazugehören. Der Tischler Simon Stoljar. Der Hiwi. Der krumme Wachtposten, selbst der kann mit den Feinden gemeinsame Sache machen. Vielleicht auch Hartwig: Warum spielt er in letzter Zeit so selten mit Mops, seinem Nachbarn, mit dem er doch Wand an Wand wohnt? Und rennt stattdessen mit Adolf Dünnebeil draußen rum, der vor Neid platzt, dass er nicht mehr Melder ist? Nein, nach so viel Verrat wird Mops keinem Menschen mehr trauen.

Und schon gar nicht etwas anvertrauen.

Einmal den schlimmsten Fall angenommen, die Gefangenen, Russen, Franzosen, überrumpeln nachts ihre Wache mit dem täuschend echten Revolver, erbeuten einen oder mehrere geladene Karabiner. Ein Scharfschütze klettert vielleicht in die Eiche, die übrigen schleichen zum Schloss. Sie stehlen die Waffen aus dem Gewehrschrank, dann rufen sie Panzerspitzen herbei, natürlich russische...

Mops kann das Schlimmste verhindern. Nur er weiß von dem gestohlenen Revolver. Er kann die Feindbegünstigung wiedergut-machen. Falls irgendwo Gefahr für Büschchen lauert, droht sie aus der Grube.

 

Er stapft durch hohen Schnee. Der General Winter kämpft an diesem Jahresende, ein paar Tage vor Silvester neunzehnhundert-vierundvierzig, schon auf deutscher Seite. Die Soldaten in Tarn-anzügen aus Bettlaken, operieren wendig und schnell auf ihren Wehrmachtsschi. Gerade solch ein Paar Schi, weiß mit grünen Streifen, bekam Mops zu Weihnachten, zu seinem neunten Geburtstag.

Vom Büschchener Schlittenberg her hallt das Wintergeschrei der Dorfkinder. Nicht dorthin marschiert er. Einsam, die Bretter geschultert.

Sondern hinaus zur Grube. Hier wird er seine ersten Schritte als wendiger Schifahrer wagen, allein, ohne spöttische Zuschauer, ohne Hartwig. Und dabei wird er seine Augen offen halten.

Die Sonne glitzert auf dem frischen Pulverschnee, der bläulich schimmert unter dem blauen Himmel. Nur das bekannte Geräusch ist in der Luft, das tiefe, hundertstimmige Dröhnen, die Stimme des Feindes. Wenn Mops die Lider zusammenkneift, kann er sie am Himmel sehen, silberne Läuse, die Staffel um Staffel in endloser Folge über seinen Kopf hinwegziehen. Gottlob muss Büschchen sich ihretwegen nicht beunruhigen. Mit Herrn Bemmann haben sie es vom Schulhof aus beobachtet: Wie plötzlich unter den Pulks nadelspitz weiße Striche auftauchen, die länger und länger werden. Das sind die Bomben, die ihre Spuren in den Himmel zeichnen. Sie fallen scheinbar langsam, wachsen der Erde zu. Die hohe Geschwindigkeit der Maschinen bewirkt, dass sie im Bogen fliegen. Über Büschchen ausgeklinkt, explodieren sie sonstwo.

Geblendet von dem endlosen, strahlendblauen Himmel senkt Mops den Blick ins dunkle Grün der Kiefern, hebt die Schi auf die andere Schulter. Nicht sofort sieht er Luda.

Luda. Bei einer verdächtigen Beschäftigung. Er kniet, macht irgendwas im Schnee und hält das Ohr in das Weiß, als gäbe es da was zu lauschen.

Mops ist unschlüssig, was er tun soll: Vorspringen, Luda irgendwie überrumpeln, dingfest machen? Oder warten, Verstärkung heranholen... Immerhin ist Luda nach wie vor der größte Junge im ganzen Zug...

Urplötzlich ist ein Schmettern in der Luft, eine einzelne Jagdmaschine, eine Naht aus kleinen Schneefontänen spritzt quer durch das Gelände, tack, tack, tack...Das Flugzeug steigt, fliegt eine Schleife und kehrt zurück. Der Russenstern, rot, weiß umrandet. Luda rennt an Mops vorbei, Mops folgt, Zeit zum Überlegen bleibt nicht, er rutscht auf Stufen aus - und findet sich wieder unter der Erde, im Dämmerlicht eines strohgedeckten Unterstandes. Tief donnert die Maschine über sie hin, diesmal ohne zu schießen.

"Ein Tiefflieger, Mensch", japst Mops. Er blickt sich um. Bank, Heubett, Ziegelherd. Hier sieht es alles ganz ähnlich aus wie in Ludas alter Bude, der, die verwüstet wurde, der Sauhund hat sich an anderer Stelle neu eingegraben, dieses Miststroh zum Abdecken liegt ja überall herum.

"Der hat meine Wehrmachtsschi gesehen, da hat er gedacht..."

Luda antwortet nicht, er drischt mit seinem Holzlöffel nervös auf dem Herdblech herum. Vor Wut und Ratlosigkeit, dass sein neues Versteck so fix schon wieder entdeckt wurde.

"Nu, gib schon Kartoffel, Luda!"

Luda besinnt sich, spießt in die Asche, nimmt sich selbst ebenfalls eine von den schwarzen Knollen. Es ist erkennbar, dass in dem Ascheberg auch heute ein hübscher Vorrat gart.

"Weiß dein Vater davon?" beginnt Mops.

Ludas rötliche Wimpern blinzeln.

Mops weiß genug. "Stimmt's, Luda, du füttern Gefangene!"

Die Gefangenen werden sich satt essen, schießt es ihm durch den Kopf. Werden Kräfte sammeln. Und dann ausbrechen. Mit Hilfe des Revolvers selbstverständlich.

"Nix füttern", murmelt Luda.

"Mir kannst du es sagen. Wir kochen selbst Suppe für die Russen. Mit Speckschwarte, frag deinen Vater."

Ludas graue Augen bleiben voller Mißtrauen. Für heute mag es genug sein. Mops wird weiter nichts Brauchbares über den Fluchtplan herausbringen. Er kriecht nach draußen und sucht seine Schi. Luda folgt ihm zögernd. Als er die Bretter sieht, kriegt er Stielaugen. Angeblich besaß er zu Hause auch welche.

Mops ersteigt den steilsten Hügel, stößt die Schuhe in die Bindungen und klappt gekonnt die Riemen fest. Das hat er schon daheim in der Küche trainiert. Die Abfahrt gelingt nicht ganz so elegant... Luda steht unten, tatsächlich, er grinst, der freche Hund, und hilft ihm auf die Beine. Macht vor, wie man mit dem Arsch federn muss. Um ihn auf die Probe zu stellen, lässt Mops ihn einmal fahren. Dazu müssen sie die Riemen vier Löcher weiter schnallen. Luda stößt sich mit den Stöcken ab, federt, der Schnee pulvert unter den Brettern. Luda fällt auf den Arsch.

Ein Krachen begleitet den Sturz.  

"Das klang fast wie ein Furz", lacht Mops.

Aber das Krachen kam von woanders her, von irgendwo aus dem Dorf.

Es wird schon dunkel, als er eisverkrustet wie ein Schneemann im Comptoirhaus die Treppen hinauftorkelt. In den Beinen lauert schon ein gewaltiger Muskelkater.

Mutti und Gaul waren schon außer sich vor Sorge. Er verrät mit keiner Silbe, wie nah er dem Tiefflieger heute war, der das Dorf in helle Aufregung versetzt hat.

 

Am nächsten Tag erscheint er wieder in der Grube und am folgenden ebenfalls. Und einmal, als er später kommt als sonst, so dass Luda wohl nicht mehr mit ihm rechnet, beobachtet er ungestört jene rätselhafte Beschäftigung im Schnee, die ihm kürzlich schon so verdächtig vorkam.

Was Luda da freikratzt, ist eine der Schienen der alten Feld-bahn. An die er das Ohr legt um zu lauschen. 

Es ist die Zeit des Sechsuhrläutens, der Mond steigt schon empor. Luda richtet sich auf und klopft mit einem Stein dreimal ein Signal gegen das Metall. Lauscht erneut.

Alles klar wie Kloßbrühe. Das Gleis führt weiter hinten durch das Barackengelände. Eine geheime Nachrichtenleitung.

Kurze Zeit später schleudert Luda etwas Dunkles im hohen Bogen über den Stacheldraht. Es landet mit leisem Plumpsen in einem der Barackenfenster, das weit offen steht und gleich darauf geschlossen wird. Sekunden später stapft der Wachtposten um die Ecke, seine Zigarette glimmt auf, er schlägt beim Gehen die Stiefel aneinander.

"Pst, Luda, jetzt hab ich dich!"

Luda fährt herum: "Sälämi?" Auch er flüstert.

"Ja, ich!" Mops überlegt flüchtig, dass er jetzt eigentlich sa-gen müßte: Dein Sälämi bin ich noch lange nicht, Luda, Judas. Stattdessen duckt er sich zusammen mit dem Verräter in diese Erdmulde, in der kein Schnee liegt, und wo es nach Waldboden riecht und ein bisschen nach Kacke.

"Jetzt du wissen", flüstert Luda. "Nu geh bei Bemmann melden."

"Wer da?" kommt die leise Stimme des Postens. Der Mond ist inzwischen hinter Wolken verschwunden, als wollte er von allem nichts wissen. Sie kauern reglos, hören den Soldaten in sein Taschentuch schnauben und stiefelschlagend seinen Rundgang fortsetzen. Wind kommt auf.

Sie kriechen zurück zu Ludas neuer Bude. Der Herd strahlt noch Wärme ab. Luda zündet ein Inseltlicht an. Sie hocken sich nebeneinander ins Heu. Luda, der nie Handschuhe hat, haucht Atemdampf in seine gekrümmten Finger.

"Du sagen nicht noch mal Sälämi zu mir", sagt Mops. "Sonst..."

"Gehen ja so und so melden", spricht Luda trübe.

"Kann schon sein, Luda, Judas."

Luda pustet in seine Hände.

Aber plötzlich ist Mopsens Joppenstoff in seinen Fäusten, Mops spürt ihre steinerne Kälte unter seinem Kinn. Ludas graue Augen sind Schlitze: "Ich heiße mit Namen Petr", zischt er. Sein Atem riecht nach Zwiebeln. Vergeblich müht sich Mops freizukommen.

Unvermittelt lässt Luda wieder los.

"Zu Hause mich Kinder rufen Kulak", knurrt er böse, schiebt die Herdplatte beiseite und stochert mit einem Scheit die Asche auf.

"Und was bedeutet das: Kulak?"

Luda beißt sich auf die Lippe. "Ich noch viel wissen. Zuhause Sowjet wegnehmen Hof, Kuh, alles. Mit Papa und Mama leben in Semljanka. Dann - kommen deutsche Soldat, wir Deutschland." 

"Moment. Was ist das nun wieder: Semljanka?"

"Haus in Erde." 

"Haha, du und deine Eltern haben da richtig drin gewohnt? In Semljanka?"

Luda starrt mit zusammengekniffenen Augen in den letzten rötlichen Schein aus dem Herd und schweigt. Mops aber fühlt plötzlich Scheu, ihn noch länger auszuhorchen, so, als müssten weitere Fragen den großen Jungen kränken und beleidigen. Irgendwie hat er das Gefühl, dass Luda im Moment nicht lügt. Eine ganze Familie, und wohnt in der Erde. Wie die Wühlmäuse. Mops unterdrückt ein Kichern: Leute, die in der Erde wohnen, werden am Ende zu Wühlmäusen...Er stellt sich vor, wie seinem Nebenmann allmähnlich ein grauer Mauseschwanz hinten raus wächst, und wie er anfängt zu knabbern... Jetzt wühlt Luda in deutscher Erde, gar nicht weit von Büschchens Eiche, fast zwischen ihren Wurzeln. Wehe ihm, wenn er die erst anknabbert... Kulak, das heißt sicher Wühlmaus.

"Ich heiße Justus, ein für allemal", sagt Mops.

Heute hat er seine Schi überhaupt nicht angeschnallt.

Am nächsten Tag ist Silvester. Mutti hat sich ausbedungen, dass er nicht wieder so spät heimkommt, er bricht sich noch die Beine auf dem dunklen Schlittenberg. Denn sie glaubt, er treibt sich den ganzen Tag mit den anderen Kindern auf dem Schlittenberg herum.

Und in der Tat begibt er sich zuerst einmal dorthin.

Jetzt kann er schon mit langen Schritten auf den Brettern durch das Dorf laufen, ohne hinzufallen, kann sich mit seinen Schi bei Hartwig Bemmann, Adolf Dünnebier, Helga Bonkwitz und den anderen Kindern sehen lassen. An allen bammeln die Schneeklunker, sie sind nicht weniger nass als er.

Beim Beginn des Sechsuhrläutens aber macht er sich auf den Weg hinüber zur Grube. Er trifft Luda diesmal nicht an. Nicht bei seiner Klopferei an der Schiene, nicht in seiner Semljanka.

Er setzt sich in Ludas Heubett um zu warten.

Neben dem Herd steht ein kleiner Sack, ein löcheriges Kinderhemd, unten zugenägt, halb voll Kartoffeln, die noch schwach dampfen.

Luda kommt nicht.

Die Kartoffeln werden langsam kalt, von Luda keine Spur.

Mops nimmt den Sack, klettert ins Freie, deckt den Eingang ab. Eben klingt das Läuten aus, und nun kann er das Geschrei und Gefluch hören, das vom Maschinenhaus herüberdringt: Luda bezieht Prügel. Und was für welche, deutlich unterscheidet Mops in dem Lärm hölzernes Poltern, wie wenn jemand gegen ein Möbelstück kracht. Zwischendurch sind auch die Jammerlaute der Mutter zu vernehmen.

Der Hiwi ist seinem Sohn auf die Schliche gekommen. Wer weiß wie.

Mops schleicht weiter, unschlüssig, was er jetzt machen soll. Er setzt den Sack in den Schnee. Fast augenblicklich bildet sich schwarzes Schmelzwasser um ihn herum, und ein Stück Schiene zeigt sich. 

Zufall, auch ein handlicher Stein liegt da. Spaßeshalber nimmt Mops ihn auf. Wiegt ihn in der Hand. Man müsste mal sehen, denkt er. Mal sehen, was passiert, wenn... Und spaßeshalber klopft er dreimal gegen das Eisen. Beugt sich nieder, um zu horchen. Die Schiene hat sich nicht erwärmt, das Ohr friert beinah fest.

Noch einmal.

Keine Antwort.

Schon will er sich aufrichten, da ist es seine Hand, die dieses Ticken, diese winzige Erschütterung der Schiene wahrnimmt. Unzweifelhaft: Das ist die Antwort aus dem Lager: Die Luft ist rein...

Er kriecht zum Stacheldraht. Nicht zu erkennen, ob das Fenster offen steht, der Mond hat sich ganz verkrochen.

Das Herz schlägt bis in den Hals hinauf. Er wiegt den Sack in der Hand. Wenn ich mich traue, erfüllt sich ein Wunsch.

Was für ein Wunsch?

Vati kommt heil aus der Gefangenschaft.

Er schleudert. Der Sack plumpst gegen die Barackenwand. Er wirft sich flach in die Erdmulde. Sollte der Posten kommen, hilft nur Bewegungslosigkeit, Einswerden mit dem Untergrund.

Aber kein Posten kommt. Unwahrscheinlich Schwein gehabt: Zwischen den beiden Baracken, vor dem Eingang der Wachstube, startet ein Automotor. Wortfetzen: "Danke, Herr Baron. Und Prost Neujahr auch der Frau Baronin..." Die Wache hat ihre Silvesterration in Empfang genommen. Mops kriecht langsam weg vom Zaun, stößt die Schuhe in die Schibindungen. Den Heimweg nimmt er mit großen Gleitschritten. In seinem Rücken ist langgezogener, fremdartiger Gesang. Die Gefangenen feiern Silvester.

 

"Ich melde Zug eins zum Unterricht angetreten", meldet Mops  mit vorschriftsmäßig erhobenem Arm. "Krank..."

"Petr Nechluda", ergänzt die Klasse im Chor. Denn Luda wurde seit vielen Tagen - oder sind es nun schon Wochen? - nicht mehr gesehen. Wie es heißt, hat ihn sein Hiwivater krumm und lahm gedroschen, wofür, ist unbekannt. Wahrscheinlich liegt er zuhause auf dem Bauch und sehnt sich zurück nach dem gewohnten Schinkenklopfen bei Zug eins uns zwei.

Mops war Anfang Januar noch einmal draußen: Ludas neugewühlte "Semljanka" war kaum noch zu finden, sie lag ebenso gründlich verwüstet wie seine frühere. Diesmal hat wohl sein Vater die Arbeit besorgt. Mops hat sich an das Hiwihaus herangepirscht: Den Blick in die beiden einzigen Fenster verwehrten vorgehängte Zeitungen.

Er allein ahnt den Grund für Ludas Bestrafung.

Doch hat er Ursache, über diesen Grund nicht zu reden. Über das, was er, Mops, selbst getan hat, seine erneute Feindbegün-stigung, verspürt er mal tiefe Reue, mal eine unerklärliche, sicherlich strafwürdige Freude. Er hat noch den langgezogenen Russengesang im Ohr, der ihm nachträglich vorkommt wie ein Dank. Auf jeden Fall darf die Sache nie, nie herauskommen. Er meldet Luda krank, basta.

"Danke", sagt Herr Bemmann. "Heil Hitler. Setzen."

Die Russkis, so erklärt er heute den Kindern, haben bei Küstrin die Oder erreicht. Sie setzen Tiefflieger ein, weil ihre primitiven Maschinen es einfach nicht höher schaffen. Feige nutzen sie den Überraschungseffekt und feuern aus nächster Nähe auf alles, was sich bewegt.

Jener Flieger, der noch im alten Jahr über Büschchen auftauchte, hat allerdings keinen Schaden anrichten können. Im Gegenteil, nur Nutzen, und Herr Bemmann erinnert sich noch einmal ausführlich an das Ereignis. Über das ganz Büschchen in heller Aufregung war, und das den Namen erhielt: Der große Plauz nach Weihnachten. 

Nämlich, nach einer Schleife über der Grube - ganz Büschen hat das Bord-MG rattern gehört - ist er über die Häuser gerast und hat eine Bombe abgeworfen. Die ist aber ins Hamperloch gefallen, in den Ententeich neben der Schule. Ist nicht explodiert. Ein Blindgänger. Der aber jede Sekunde hochgehen konnte.

Dicht bei der Schule!

Gottlob war schon Nachmittag. Nur Herr Bemmann war noch im Hause, hat gerade die Fensterpflanzen gegossen und den Einschlag beobachtet.

"Was schnell tun in so einer Lage?" fragt Herr Bemmann.

"Zum Baron!" ruft die Klasse.

Tja, aber der Herr Baron war dienstlich unterwegs! Nein, Herr Bemmann ist ohne Säumen losgeradelt, zur Baustelle. Am östlichen Ortseingang werden ja bekanntlich unter der Leitung vom alten Hufschmied Geißler beiderseits der Straße tiefe und breite Ausschachtungen vorgenommen. Die eine Grube war an dem Tag gerade fertig.

"Gegen die Panzer..." Die vorlaute Helga Bonkwitz schlägt sich auf den Mund.

"Pst, Feind hört mit", lächelt Herr Bemmann. Ja, also Huf-schmied Geißler, oho, der hatte nicht immer diesen kleinen Ver-druß, diese schiefe Schulter. Im vorigen Krieg war er sogar Unteroffizier. Und versteht etwas von Granaten und Sprengstoff, wie sich Herr Bemmann zur rechten Zeit besonnen hat.

Gemeinsam sind sie hin und haben sich die Sache von nahem besehen. Die kleine Bombe hatte das dicke Eis auf dem Hamperloch glatt durchschlagen und war im Schlamm steckengeblieben. Das Hinterteil mit dem Leitwerk ragte aus dem Loch.

Herr Geißler hat sich unter der Mütze gekratzt und sich eins gepfiffen. Endlich hat er in seiner bedächtigen Art gesprochen: "Wenn ihr's Eis nischt ausgemacht hat...Schätze, 's sind höchstens vierz'sch Kilo...Das Ding ham'r glei..."

Und er hat mit seinen langen Schmiedarmen den Blindgänger umschlungen und aus dem Modder gedreht hat. Er hat ihn getragen wie einen Riesensäugling, behutsam, Schritt für Schritt, außenrum, ums halbe Dorf, an der Feldscheune lang bis zur Baustelle.

Die Schachtungsarbeiten an der zweiten Grube gingen ja leider nicht so flott von der Hand. Wegen dem gefrorenen Erdreich und wegen fehlender Arbeitskräfte. Herr Geißler hat die Bombe an günstiger Stelle abgelegt.

Hat das nächstbeste anrollende Wehrmachtsauto angehalten. Mit dem Hauptmann verhandelt. Absperrmaßnahmen. Ein Soldat hat hinter dem Erdwall hervor eine Panzerfaust abgefeuert: Doppelte Sprengkraft: Panzerfaust plus Fliegerbombe. Den Plauz hat man noch in den Nachbarorten gehört. Das Loch war fertig, musste bloß noch glattgemacht werden.

"Deutsche Tapferkeit, unerschrockener Mut, gepaart mit pfif-figer Klugheit", hat Herr Bemmann geendet.

 

Herr Geißler wurde zum Kommandeur des Büschchener Volkssturms ernannt. Jetzt hat er selbst die Befehlsgewalt über fünf Panzerfäuste, diese unbezwingliche Waffe, die so spaßig aussieht: Eine Birne auf ein Stück Regenröhre gesteckt.

Die Panzerfaust, die nun geschultert wird von ihm selbst, vom Reichmannbauer, von Bürgermeister Brümmer, von Schuster Dünnebier, von Herrn Bemmann. Diese Männer in ihren grauen Feldmützen, die Volkssturmbinde am Arm, sie werden den russischen Panzerspitzen ein gutes deutsches: Halt! Bis hierher und nicht weiter! entgegenschleudern.

Und der Zweck der Bauarbeit am östlichen Ortseingang ist nun nicht länger ein militätisches Geheimnis. Baumstamm an Baumstamm dicht gefügt, unverrückbar eingegraben beiderseits der Straße, das ist die Panzersperre, eine Art Tor, das zwar Gespanne aller Art durchlässt, nicht aber die plumpen, ungeschlachten russischen T-34. Die müssen stoppen und werden in Ruhe der Reihe nach abgeschossen.

Vorläufig aber, ihr Herren Russen, sind wir noch nicht so weit!

 

Vorläufig passieren nur Flüchtlingsgespanne die Sperre.

Ganze Trecks. Nicht jeder Wagen wird von Pferden gezogen, oft schaukelt auch eine ausgemergelte Kuh neben der Deichsel. Die Gespannführer gehen nebenher, Frauen in dunklen Umschlagtüchern, fluchende Großväter.

Lerge, heißt das neue Schimpfwort aus Schlesien.

Den Schlesiern entgegen wälzen sich Militärkolonnen, deutsche Panzerspähwagen, leiche Ari, Infanterie. Es geht an die Front. Die Soldaten haben erste Gesichter.

Ernst und entschlossen, denkt Mops.

Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach jedem Dezember folgt wieder ein Mai, klingt es durch die Wand aus Bemmanns Radio. Das bedeutet für Eingeweihte: Im Mai fünfundvierzig werden die Russen endgültig vertrieben. Und wenn die Panzerfäuste nicht reichen, dann mit der bloßen Faust.

Seit Mops Luda jeden Morgen krank melden muss, gibt es statt Schinkenklopfen ein neues Spiel auf dem Schulhof. Es heißt "Eisenfaust". Man donnert mit nackten Fäusten gegen die Aborttüren der Mädchen, besonders, wenn Helga Bonkwitz drin sitzt. Sie quiekt dann erschrocken los oder ruft : "Menesch!" Anfangs schmerzten die Knöchel, dass Mops sich die Tränen verbeißen musste. Aber schon zeigt sich Hornhaut, Huf, wie man in Büschchen sagt, wird hart wie Eisen.

 

Eines nachts rüttelt ihn der Großvater.

"Alarm?" Mops blinzelt verschlafen.

"Pullover über und ins Wohnzimmer!"

Mutti steht in Flammen. Einen Moment, dann begreift Mops, dass das Verdunkelungsrollo hochgezogen ist, und das Fensterviereck ihre Gestalt mit Feuerlicht umrahmt. Sie hält am Hals ihr Nachthemd zu und sagt, ohne den Kopf zu wenden: "Diesen Anblick wollen wir uns merken, solange wir leben bleiben."

Der Himmel ist purpurrot. Der Widerschein des Feuers flammt über die weiten Felder, spiegelt sich auf den hellen Flecken aus altem Schnee. Am fernen Horizont steht der Glutherd. Unendlich langsam wächst daraus die Rauchsäule, die von innen leuchtet und weiter oben zu einer Wolke zerfließt. Das Gewölk verdeckt die Sterne und zieht bis über Büschchen herauf.

"Das war Dresden", sagt Gaul.

"Aber die deutsche Kultur?" wundert sich Mops.

"Das war die deutsche Kultur", sagt Mutti.

"Russische Tiefflieger", stellt Mops sachkundig fest. Er weiß ja: Die Anglo-Amerikaner, die haben vor der deutschen Kultur Respekt. Im übrigen hat er eine brennende Stadt schon von viel näher gesehen. Er möchte dieses Feuer nicht angucken. Ihn friert.

Mutti bringt ihn wieder zu Bett. Die Matratzenkuhle ist schön warm.

"Beten, Mutti?" Sie könnte noch ein bisschen bleiben.

"Es nützt doch nichts, Junge", spricht sie und ist schon an der Tür.

"Mutti, aber..."

"Schlaf."

"Aber wenn es runtergebrannt ist, schläfst du heute bei mir? Tausch mit Gaul das Bett!"

"Ja, ja, ist gut, schlaf."

Das hat sie noch nie gesagt, dass Beten nichts nützt. Es stimmt auch nicht, es nützt doch was. Er streckt sich lang aus und faltet die Hände.

"Frieden und Sieg, Frieden und Sieg..."

Allmählich schrumpft sein Körper zwischen Füßen und Kopf, wird unwesentlich, kommt abhanden in der großen Matratzenkuhle. Frieden und Sieg. Frieden...

So klein ist er wieder, die Zehen direkt unterm Kinn, mühsam kann er mit ihnen noch wackeln, und dabei klappt sein Mund auf und zu: "Ich wollte es nicht."

"Feindbegünstigung, darauf steht der Tod", sagt Heitler. "Du hast sie mit heißen Kartoffeln versorgt."

"Die Franzosen bekommen sogar Kuchen."

"Fein. Die Russen sind ihm so gut wie Franzosen. Weiter, ich bin gespannt."

"Es war Silvester..."

"Ausreden eines Jammerlappens. Der wahre Grund war: Mitleid mit dem Feind!"

"Mitleid, nie!" stöhnt Mops. Ein Krampf lähmt seine Kinnlade.

"Gerechtigkeit etwa, meinst du das?" Heitler wartet Mopsens Antwort nicht ab: "Ist das Recht: Das Riesen-Russland, noch dazu im Verein mit Amerika, England, Frankreich gegen unser Deutschland?"

"Unrecht", nickt Mops.

"Du machst dich, Justus Sallmann. Und was ist zu tun, deiner Meinung nach? Die Feinde noch füttern?"

"Totmachen", murmelt Mops, aber sein Kinn bewegt sich schwer, und er ist nicht sicher, ob Heitler ihn versteht: "So viele totschießen, bis wir mit ihnen gleich sind. Dann ist der Krieg gerecht."

"Bravo! Aber wollen wir sie nicht lieber gleich alle totmachen? Dann wäre Frieden, hm?"

Mops spürt plötzlich den verlorengeglaubten Revolver in den Händen. Sie werden eins mit dem schweren Griff. Wenige Meter geradeaus zeichnet sich in der Dunkelheit undeutlich ein rothaa-riger Kopf ab. Mops wundert sich, dass von den Augen das eine zusammengekniffen ist, das andere aber rund und schwarz auf ihm ruht. Bis er versteht: Das ist die Mündung einer Waffe: Auch der andere hat einen Revolver, zielt.

Wenn er nur nicht vor Mops abdrückt. Mops krümmt den Finger langsam bis zum Druckpunkt. Er muss den Moment genau abpassen: Die Kugeln müssen sich in der Luft treffen.

"Was stöhnst du nur herum", Mutti löst seine ineinanderge-krampften Finger. "Nennst du das Beten?"

"Mopfange, Mutti", bittet er.

Die Warze an ihrer Hand.

"Nachts ist mein Junge wieder mein kleiner Mopswange", sagt sie. "Aber bei Tage ist er verschlossen und fremd. Kommt spät heim. Kriegt Hornhaut auf den Fäusten und womöglich auf der Seele."

Hornhaut auf der Seele. Solche Gespräche mag Mops nicht.

"Was Rostecks Karl wohl jetzt macht", sagt er.

"Wer weiß. Schlaf..."

 

Am frühen Morgen ist ein Kommen und Gehen und anhaltendes Telefongeklingel in Gauls Comptoir. Diese Nacht sind Russen ausgebrochen. Der krumme Posten hat ausgesagt, er war von dem ungeheuren Feuer am Himmel geblendet, das haben sie ausgenutzt: Haben ihn hinterrücks angefallen, ihm einen Revolverlauf an die Schläfe gesetzt. Er dankt Gott, dass er noch lebt.

Gaul meint, das kann ungemütlich werden für den Mann. Der Revolver war eine Schreckschusswaffe, wer weiß, woher sie die hatten, ein Kinderspielzeug fast. Der Baron hat getobt am Telefon.

Ja, der Baron persönlich konnte einen der Kerle schnappen. Mit Hilfe des Welshterriers. Dank Astas feiner Spürnase, die Gefangene bekanntlich auf hundert Meter ausmacht.

"Saß er auf der Eiche?" fragt Mops beklommen.

"Das nicht", lacht Gaul missvergnügt. "Solche Geschichten wiederholen sich selten. Aber sehr viel weiter ist er nicht gekom-men: Lag flach oben auf den Stämmen der Panzersperre, hat bei der Festnahme um sich gehauen mit seinem lächerlichen Klapperdings von Pistole." Gaul wendet sich an Mutti: "Sie haben die Töle an ihn rangelassen. Immerhin ein Soldat, kein Hiwilump, einer, der getan hat, was ein Soldat in seiner Lage tun muss. Unser Tischler übrigens. Allmählich schämt man sich, ein Deutscher zu sein."

"Pst", warnt Mutti. "Die Wände haben Ohren."

Gauls Kopf ruckt aufgebracht.

"Und was ist mit dem Tischler weiter passiert?" will Mops wissen.

"Was schon. Sie haben ihn ins Stammlager zurückverfrachtet. Nein, nicht hier in seine Baracke. Die Außenstelle in der Grube wird sowieso aufgelöst. Strategische Gründe."

Postenketten der SS durchkämmen noch Stunden die Büschchener Fluren, Dutzendfaches Hundegebell hallt bis ins Dorf. Wenn es sich zu rasendem Gekläff steigert und plötzlich abbricht, sagen die Kinder in der Schule: jetzt schnappen sie zu. Woher der eine bloß den Revolver hatte.

 

Ende April ist es noch einmal bitterkalt geworden.

Nicht nur die "Grube" mit sämtlichen Russen und Franzosen wurde aus strategischen Gründen geräumt: Das gesamte STALAG 304 musste vorsorglich evakuiert werden, etwa neunhundert Sträflinge insgesamt. Nicht alles bloß Kriegsgefangene, so weiß Herr Bemmann zu berichten, auch Insassen aus ehemals weiter östlich gelegenen Lagern, Herrschaften, die sich im STALAG in den letzten Tagen so angesammelt hatten und quietschvergnügt auf ihre Russenbefreier hofften. Aber durch diese Rechnung machen wir ihnen einen dicken Strich.

Ihr Anblick kann den Büschchenern leider nicht erspart werden: Demnächst ziehen sie durch das Dorf, neunhundert Mann hoch. Wir werden sie gebührend empfangen. Auch auf Zug eins liegt eine hohe Verantwortung.

"Wäsche von der Leine!", ruft Hartwig, "auch Weiberwäsche!" Über Hartwigs kecke Späße muss Zug eins neuerdings oft lachen. Zu komisch aber auch, sich vorzustellen, dass ein Sträfling die Flucht in einem Weiberrock versuchen könnte.

"Nicht mit ihnen sprechen", weiß Helga Bonkwitz. Warum nicht, kann Adolf Dünnebier sagen: Sie würden versuchen, die Kinder über den Frontverlauf auszuhorchen. Er weiß noch was:

"Die Brunnen bewachen. Sie versuchen zu trinken. Und hinterher vergiften sie das Wasser."

"Richtig. Und was haben wir vergessen?" fragt Herr Bemmann.

Mops meldet sich. Man darf sie keinesfalls füttern. Das deut-sche Volk braucht gerade jetzt, wo es zum Entscheidungsschlag die Eisenfaust ballt, alle verfügbaren Äpfel, Schnitten und so weiter selber. Und man würde sie nur stärken für die Flucht.

Er sieht, wie bei seinen Worten Hartwigs Augen zu Ludas leerem Platz wandern und dann zu ihm, Mops. Und er erzittert.

"Weißt du noch, wie Luda mal so viele Kartoffeln im Ofen hatte?" flüstert Hartwig bedeutungsvoll.

 

Selbstverständlich weiß jedes Kind, dass in einem "Konzertlagger" keine Konzerte erklingen, und dass es richtig Konzentrationslager heißt. Abgekürzt: KZ. Das STALAG 304 ist eins.

Mutti und Gaul sind sich einig, dass der Anblick eines KZ nichts für Kinder ist. Mops denkt darüber anders: Ihm fehlt noch ein gutes dreiviertel Jahr, dann ist er Pimpf im Jungvolk, trägt das braune Hemd des Führers, den Schulterriemen, das schwarze Halstuch mit dem geflochtenen Lederring.

"Ich muss hin, aufpassen!"

"Du bleibst heute in der warmen Stube!"

"Ich muss melden, wenn was ist. Es ist Dienst", beharrt er. Von Dienst hat Herr Bemmann zwar nicht direkt gesprochen, aber man konnte ihn gewiss so verstehen.

"Also ich gehe jetzt."

"Du bleibst!"

Er stampft mit dem Fuß auf.

"Hausarrest wegen Füßestampfens", verfügt Mutti.

"Wie ihr wollt", spricht er leichthin. "Dann geh ich jetzt hin-über zu Hartwig. Vielleicht erzähle ich Herrn Bemmann, wie Mutti Kartoffelsuppe mit Speck für Russen gekocht hat. Ganz wie ihr wollt..."

Er redet nicht weiter. Muttis Gesicht ist wie Kreide. Er weiß, sie macht sich Gedanken wegen der Hornhaut auf seiner Seele. Neulich, im Streit wegen einer Strickmütze, die er nicht aufsetzen wollte, hat sie gesagt, manchmal ist mein Sohn ein richtiges Monstrum. Und das bedeutet bestimmt nichts Gutes.

Erbittert starrt er aus dem Fenster ins graue, noch einmal tief gefrorene Land. Hartwig drischt gegen die Tür: "Sie kommen!"

Er schaut in Muttis Kirschenessengesicht. In letzter Zeit sieht sie abgespannt und ein bisschen unordentlich aus. Schimpft manchmal in Ausdrücken los, die er ohne weiteres in seine "Dreckeligen Wörter" aufnehmen könnte. Aber gerade jetzt schimpft sie nicht.

"Geh", sagt sie nur. Wenn sie "bleib" gesagt hätte - er wäre geblieben. So aber schnappt er Joppe, Schimütze und Schal und folgt Hartwig.

Die Jungen klettern schon auf der Panzersperre herum. Trecks und Wehrmacht wurden weiträumig umgeleitet. Die Straße liegt verlassen wie lange nicht.

Nun aber ist zwischen den Birken ein schwarzer Haufe aufgetaucht, und schon sind auch Marschreihen auszumachen.

Nein, das sind nicht bloß Kriegsgefangene, die ja immerhin Soldaten wären. Die marschieren auch gar nicht, die schlumpen nur, Viererreihen, rechts und links sind schon die Uniformen der Waffen-SS zu erkennen. Was für ein Kasten schaukelt da am Schluss? Offenbar ein Möbel- oder Wohnwagen, und die Sträflinge ziehen ihn an langen Trossen, an die sie mit Kabelstücken gefesselt sind.

Jetzt sind die ersten heran.

Wie kommt es, dass sie einer wie der andere aussehen? Macht es die zerlumpte, schmutzstarrende Kluft, teils gestreift, teils aus allen möglichen Klamotten zusammengestoppelt, die an allen auf die gleiche Weise im Wind flattert? Sind es die kahlen, grindigen kleinen Schädel, die knotigen Hälse, die fiebrigen Blicke aus tiefen Augenhöhlen, die auf nichts anderes achten, als auf die schlurfenden Füße des Vordermanns? Die verkrusteten Zehen - nicht einmal bei allen stecken sie wenigstens  in ordentlichen Holzschuhen. "Frieren die denn nicht?" entfährt es Mops.

"Die sind das gewöhnt", meint Adolf Dünnebier. Und Hartwig macht auf ein ulkiges Pärchen aufmerksam, das sich an den an die Zugtrosse gefesselten Händen hält und in ein Holzschuhpaar teilt: Einer humpelt mit dem linken, der andere mit dem rechten Schuh.

Das Geschlurr der Schuhe ist das einzige Geräusch. Und dann ist da dieser Geruch, fad und ekelhaft, ganz anders als der Schweißdunst aus einer Soldatenkolonne. Auf einmal versteht Mops, warum der Welshterrier Asta Gefangene von normalen Menschen so gut unterscheiden kann.

Als der Wohnwagen durch die Einengung der Panzersperre muss, gilt es für die SS, genau zu zirkeln. Und zunächst versucht sie es im Guten, mit lauten Kommandos: "Mehr links, ihr Brummochsen!" Aber die rechte Wagenseite schabt doch an dem Wall aus Baumstämmen entlang. Die Kolonne gerät ins Stocken, da helfen nur noch die Gewehrkolben.

Einer torkelt steifbeinig aus der Reihe, kann aber natürlich nicht weg von der Zugtrosse, er knickt in den Knien ein, fängt sich, knickt erneut zusammen. Ein Posten zieht ihn hoch, als wäre er aus Papier, hilft ihm an seinen Platz. "Nicht in der Ortschaft, Kamerad, bis zum nächsten Wald geht's schon noch, hm?" Der SS-Mann sagt das ganz ruhig und väterlich.

Und da ist noch ein Junge, der mit gelangweilter Miene auf einem Tretroller den Block umrundet. Der absichtlich das Zeichen seiner Mutter übersieht, die ihm aus dem Fensterchen des Wohnwagens winkt. Womöglich soll er Mittag essen kommen: Aus einem Rohr quillt Ofenrauch.

"So einen Roller hatte ich mal", sagt Mops laut. Und der Junge hat es gehört und kurvt elegante Schleifen. Von wegen, ein KZ ist nichts für Kinder! Schade, dass Mutti diesen patenten Jungen nicht sieht.

Der Wagen ist glücklich wieder flott, weiter hinten folgt der nächste. Den ziehen ebenfalls die Sträflinge, und jetzt fallen Mops hier und da die Lücken in den Reihen auf, dort, wo die Kabelfesseln lose an den Trossen hängen. Diesmal klappt die Durchfahrt durch die Sperre ohne Zwischenfall.

Die Flügeltüren an der Rückwand des zweiten Wagens sind ausgehängt, der Rollerjunge hat schon mit einem hingeworfenen Wort die Ladung angekündigt: "Schlappmacher!"

Ein unordentlicher Haufen, kreuz und quer liegen die Schlappmacher, bis unter die Dachwölbung, in unbequemer Haltung, manche ganz unnatürlich.

Einer aber ruht wie jemand, der sich mit gebreiteten Armen rücklings ins Heu fallen ließ, sein Russenkäppi beinah verwegen in der Stirn. Die Augen hat er offen. Das Geholper der Straße überträgt sich auf den Körper, und auf einmal sieht Mops deutlich, dass der Mann lächelt. Ungläubig schaut er hinter sich, ob das Lächeln eventuell einem anderen Jungen gilt. Aber nein, es gilt ihm, Mops, ihn lächelt er an.

Und schimmern die Stoppeln über der hohlen Schläfe nicht rostigrot? Ohne Zweifel, das ist kein Schlappmacher, der tut nur so, der lebt, der lächelt auch noch. Zum Zeichen, dass Mops nichts verraten wird, hebt er den Finger an den Mund.

 

Alle Mädchen, außerdem die A-Be-er und die Zweitklässler mussten ihre Ranzen nehmen und wieder heim. Ab durch die Mitte!

Für alle übrigen Jungen von Zug eins und selbstverständlich für alle Jungen von Zug zwo, das heißt also für die, die sich zu wehren verstehen, hat Herr Bemmann eine Großrazzia angeordnet. Der Tagesbefehl erreichte die Schule von ganz oben: Drauf und dran, wenn es das Vaterland gilt! Einigen KZlern soll die Flucht gelungen sein.

Wenn nur in der Nacht nicht dieser Temperaturumschwung gekommen wäre. Dieser Nebel heute, dicht wie Watte!

Insbesondere die Kiefernschonungen entlang der Ausfallstraße müssen durchkämmt werden, kein Quadratmeter, keine Sandmulde, kein Gebüsch darf ausgelassen werden. Spürhunde haben wir nicht, da heißt es: Selber Witterung aufnehmen! Auf Brandgeruch ist besonders zu achten, die Geflohenen aus dem KZ könnten den Nebel ausnutzen, um Kochstellen anzulegen. Oder, falls das Wetter aufklart, um für die Tiefflieger Rauchsignale zu setzten. In beiden Fällen ist das Feuer sofort zu löschen. Mit Widerstand ist zu rechnen, jeder muss sich bewaffnen, wenigstens mit einem derben, guten Knüttel, wie unsere kampferprobten Vorfahren.

Und man muss auf Rufweite beieinander bleiben.

Suchtrupps wurden eingeteilt, Zweier- und Dreiergruppen.

Weil Hartwig über Nacht plötzlich erkrankte, hat sich Mops bei der Einteilung Adolf Dünnebier gewählt. Aber typisch Adolf Dünnebier, kein Verlass auf den: Er hat sich in einem unbeobachteten Augenblick mit zwei Größeren in die Büsche geschlagen.

Mops marschiert allein.

Eigentlich geht es nicht anders zu als früher beim Gelände-spiel, das, wie sich nun zeigt, eine gute Probe für den Ernstfall war. Die Nadeln der jungen Kiefern stacheln dir ins Gesicht? Wenn's weiter nichts ist! Brombeerranken verhaken sich in den Strümpfen, und es blutet ein bisschen durch die Maschen? Soll es bluten!

Bald näher, bald ferner hörst du die gellenden Zurufe der an-deren, und auch du rufst laut: "Vaterland!". Das ist das verein-barte Losungswort, solange alles in Ordnung ist. Schreist du dagegen "Drauf und dran", so bedeutet das, du forderst Verstärkung an. Und du selbst eilst auf ein solches Notsignal hin in die vermutete Richtung. Die Lautstärke beim Rufen wiederum ist militärische Taktik, vergleichbar dem Heulen der deutschen Stukas, der Sturzkampfbomber. Jede Art von Krach jagt dem flüchtigen Feind Angst und Schrecken ein: Wer bei Stimme ist, ist auch bei Kräften und ohne Furcht im Falle des Nahkampfs. Ein Angriff kann nur überraschend kommen, hinterrücks, das lieg in der Natur von Sträflingen.

Augen, Ohren und Nase auf, Justus Sallmann!

Hinter dir schnellt ein Zweig, versprüht Tropfenregen.

Links von dir in der kleinen Senke - nur ein rostiger Eimer, der unter dem Knüppelhieb zerbröselt.

Rechts am Boden, schwärzlichbraun, von Nässe glänzend...nur die Kappen faulender Winterpilze.

Vor dir kriecht weißer Nebel durch Birkenstämme.

"Va-a-a-terla-a-a-nd!"

Gestern, der mit dem Gelächle. Auf einmal ist Mops sicher, dass das Lächeln hinterhältig war. Tückisch.

Der wusste schon warum er so lächelte. Denn hinter dem Wagen marschierte kein Posten mehr. Bloß diese paar Kinder, wird er sich gedacht haben... Im Wald springe ich ab. Und dann mache ich ein Feuerchen für die Tiefflieger, die bomben Büschchen in Flammen. Das Comptoirhaus. Das Schloss. Die Schule. Vielleicht die Kirche...Wir Russen zünden ja gern Kirchen an...

War es nicht überhaupt Simon Stoljar, der so lächelte? Wer einen Revolver stielt, ist zu allem fähig...

""Dra-a-auf und dra-a-a-n!" Die überschnappende Stimme kommt von links. Wem sie gehört, ist nicht auszumachen. Andere Rufe gesellen sich dazu.

"Dra-a-auf und dra-a-a-n!" ruft nun auch Mops und "Vorrücken!" und stürzt voran. Zweige peitschen. Durch die Birken bricht in breiter Front die Postenkette der Büschchener Jungen. Vor sich erkennt Mops für einen Moment Adolfs gedrungene Gestalt, "Rauch!" hört er und "Hierher, hierher!"

Da riecht er selbt den beizenden Rauch.

Aus einem Strohhaufen qualmt es. Und wie alle anderen knüppelt Mops schreiend drauflos, um das Feuer zu ersticken. Funken stieben, jetzt lodern Flammen hell auf. Da ist mit den Knüppeln nichts zu machen, die Hitze zwingt alle, auf Abstand zu gehen. Der Befehl kommt: "Niederbrennen lassen!" Sie stehen drum herum, schirmen mit erhobenen Ellenbogen ihre Stirnen und schauen. Es ist so ein schönes Feuer, jemand wirft seinen Knüppel hinein, und da machen es alle. Wegen der Flieger besteht keine Gefahr - der Nebel ist ja noch immer dick wie Watte, und nun beginnt es sogar zu regnen.

Erst jetzt wird Mops gewahr, wo sie sich befinden: Nicht weit ragen die knorrigen Äste der Bluteiche in den weißen Himmel.

 

Keiner konnte ahnen, dass dies zugleich der letzte Unterrichtstag in diesem Schuljahr war, einer ohne Zeugnisse. Bis auf weiteres keine Silbentrennung, kein Einmaleins. Bis nach dem Endsieg. Der kann nicht mehr lange auf sich warten lassen, eine Wende muss, muss ja nun eintreten. Und der Führer hält auch bereits eine neue Wunderwaffe in seiner rächenden Hand, höchste Geheimhaltung ist noch geboten: Eine Art Riesen-V-2, die die Hauptstädte London, Paris, Neu-York, Moskau ausradieren, von der Weltkarte löschen wird. Vier Bomben von der neuen Sorte, heißt es, werden benötigt, mehr nicht. Die Hölle wird sich auftun mitten unter den Feinden, ein Feuer, das kein Mensch sich je ausmalen kann. Und unter den Davongekommenen wird sein Heulen und Zähneklappen.

Herr Bemmann hat einstweilen die Panzerfaust ergriffen und liegt nun an der Ostfront verschanzt, das heißt hinter Büschchens Panzersperre. Hartwig und Mops tragen aus der Schlossküche in Kochgeschirren Verpflegung heran: Sie wurden zu Essenholern ernannt. Sie dürfen mit im Schützengraben sitzen und  zusehen, wie es den wackeren Volkssturmmännern schmeckt. Seit dem Morgengrauen ist das Grummeln schwerer Ari zu hören, das sind unsere, aber jederzeit können russische Panzerspitzen durchbrechen.

Wir heizen ihnen ein!

 

Mops hat ihn herbeigesehnt, den Befehl zur Evakuierung der Zivilbevölkerung. Natürlich handelt es sich um eine Übung. Mutti und Gaul haben ja Koffer und Bündel längst gepackt für diesen Fall.

Büschchen wurde vom Oberkommando zur Hauptkampfzone erklärt.

Es gibt zwei Trecks, den Bauern- und den Rittergutstreck. Wegen des besseren Durchkommens werden sich die Wege der beiden Fuhrwerk-Kolonnen trennen, die Verbindung wird die Baronin halten, die den Kraftwagen ihres Mannes in diesen schweren Zeiten persönlich chauffiert. Der Baron erfüllt selbstverständlich jetzt ausschließlich soldatische Pflichten.

Gaul, Rittmeister a. D. ist die Führung des Rittergutstrecks anvertraut. Er versteht mächtig viel von Pferden und nennt sie nur seine "Hottehüs". Er kutschiert den vordersten Wagen.

Er, Mutti, Frau Bemmann, Mops und Hartwig wohnen nun auf kleinstem Raum beieinander: Noch enger ist die Volksgemeinschaft zusammengerückt. Da heißt es sich einschränken. Zum Glück hat der Wagen eine regenfeste Plane, die Räder sind gummibereift, und man schläft auf dem Heuvorrat für die Pferde.

Striegeln ist das A und O für gesunde Hottehüs. Das gehört selbstverständlich zu den Pflichten der beiden Jungen. Manchmal, auf gerader Strecke, dürfen sie auch einmal die Zügel nehmen. Die Gäule gehorchen ihnen. Allerdings dem Falben, einer Jungstute, müssen sie doch gelegentlich die Peitschenspitze zu kosten geben, wenn sie beim Seechen stehen bleiben will. Dafür haben wir jetzt keine Zeit! Sie ist eigentlich ein Kutschpferd, man kann es schon am hohen Widerrist und der schlanken Kruppe erkennen: Das Lieblingspferd der Frau Baronin, mutwillig, nervös, aber an ausdauernde Arbeit noch nicht gewöhnt. Anders als der Wallach, sein schwerer, gutmütig nickender Nachbar, der vor Erntefudern ergraute und, ob er äpfelt oder strullt, sein Tempo beibehält.

Die anderen Wagen werden meistenteils gelenkt von Müttern aus dem Hofgesinde, die kennen sich mit Pferden ja auch ein bisschen aus: Seit die Männer im Krieg sind, liegt der Stalldienst sowieso in ihren Händen.

"Meine Weiberschwadron", lacht Gaul manchmal böse. "Weit haben wir's gebracht. Wo ist bloß der saubere Herr Nechluda abgeblieben? Kein Verlass auf die Aasbande, wenn sie wirklich mal gebraucht wird!"

Von der Hiwifamilie fehlt jede Spur.

"Jetzt hocken sie vielleicht alle drei in Ludas Semljanka", kichert Mops Hartwig ins Ohr.

"Wo drin?"

"In der Semljanka. In Ludas Erdhöhle."

"Die ist doch kapeng? Die Jungs ha'm sie doch zerstört?"

"Er hat sich gleich an anderer Stelle neu eingebuddelt. Wie eine Wühlmaus. Und da wieder ist ihm sein Papa dahintergekommen. Aber bestimmt hat Luda danach nicht aufgegeben. Wühlmaus bleibt Wühlmaus."

"Woher weißt'n das alles?"

Mops erzählt Hartwig, was der bisher nicht wissen konnte. Wie Luda die selbstgegrabenen Höhlen als Hauptquartier für seine Feindbegünstigungen benutzt hat. Und wie er, Mops, ihm auf die Schliche kam und weiteren Schaden verhinderte... Seine wirkliche  Rolle dabei lässt er unerwähnt.

Warum redet er überhaupt von Luda?

Man muss sich doch etwas zu erzählen haben auf solch einer langen Reise.

 

So fahren sie. Sie kommen durch Dörfer, die im Aufbruch sind, wie sie selbst noch gestern. Zu essen gibt es Schmalzstullen: Frau Bemmann hat eine Vierzigliterkanne voll Schweineschmalz mitgenommen, davon leben sie, tauschen die gute Fettigkeit auch gegen frisches Brot.

"Wie kann ich das wiedergutmachen", sagt Mutti.

"Ich bitte Sie", sagt Frau Bemmann. Aber beim Abendbrot meint sie, dass Sallmanns, Mutter und Sohn, mit Herrn v. Beelzow zusammen drei Personen sind, mehr als Bemmanns, nur sie und der Junge, das will sie einmal ganz sachlich feststellen.

Da möchte auch Mutti etwas sachlich feststellen: Die Schmalzkanne stammt, soviel sie weiß, nicht aus Frau Bemmanns Privatvorräten.

Nicht, dass es Zank gibt.

Nur öfters so ein kleines Geplänkel und Hickhack. Sagt Mutti, die Petroleumlaterne kommt nachts aus, wünscht Frau Bemmann, dass sie brennen bleibt. Sie muss an ihren Mann in der Hauptkampfzone denken, sagt sie.

"Dazu benötigen Sie doch kein Licht?"

"Erlischt daheim die Lampe nicht, brennt auch des Liebsten Lebenslicht", erwidert Frau Bemmann. "Ich habe ein Gefühl."

"Entschuldigen Sie schon," sagt Mutti in unerwartet feindse-ligem Ton, "Was hätte ich da schon für Licht verbraucht. So was ist doch Aberglaube."

"Es reicht!" kommt Gauls Stimme vom Kutschbock.

Eine Weile darauf fängt Frau Bemmann ein anderes Thema an. Sie weiß sehr wohl, welche Herrschaften für die Russen Weihnachtsfeste veranstaltet haben. Die Speckschwarte war schließlich im ganzen Haus zu riechen. Aber man hat immer Verständnis gezeigt.

Die Lampe schaukelt unter der Plane und beleuchtet den Rücken von Gauls Wintermantel. Gaul hält sich in letzter Zeit nicht so aufrecht wie sonst. Am Morgen zieht Mutti ihre Wäscheleine von seiner Sitzlehne längs durch den ganzen Wagen. Sie bietet Frau Bemmann die Mitbenutzung an. Kinderstrümpfe, Frauenwäsche und Gauls lange Unterhosen trennen fortan die Wagenhälften.

Wäsche gewaschen wird an Dorfbächen. Vorher werden natürlich die Tiere  getränkt. Eines Morgens, als Mops und Hartwig sich vorsichtig die Zifferblätter anfeuchten - auf mütterlichen Befehl, das Wasser ist sehr kalt - sehen sie bei einer Tagelöhnerfrau die nackte Brust, die beim Einseifen hin und her baumelt.

Das Wetter ist schön, als wäre schon Mai.

Am Abend kommen sie an eine hölzerne Flussbrücke. Die Fuhrwerke werden abgedrängt von Militär, das sich in ungeordneten Haufen ebenfalls westwärts bewegt, um sich drüben neu zu sammeln und zu formieren. Die Brücke ist verstopft. Gaul dirigiert den Treck auf eine Uferwiese hundert Meter flussabwärts.

Ganz nah schon hören sie hinter sich die Abschüsse der schweren Artillerie, sehen über den Dächern der Bauerngehöfte das Wetterleuchten des Mündungsfeuers.

"Unternimm was, wir müssen rüber", verlangt Mutti von Gaul.

"Lass erst die Soldaten weg", brummt der Großvater.

Die Frauen von den anderen Wagen umstehen seinen Kutschbock: "Wir haben kleine Kinder, Herr Rittmeister!"

"Eben", schreit Gaul und dreht plötzlich wie wild die Brems-kurbel fest: "Brrr...!"

Der Falbe geht hoch. Auf der Brücke macht ein Lastauto einen irrsinnigen Hopser und fliegt auseinander. Das Krachen kommt erst, als die Brücke schon ins Wasser bricht.

 

Der Rittergutstreck richtet sich auf der Wiese ein. Die Pferde werden ausgeschirrt und kommen zur Ruhe. Und beinah ist die Nachricht vom Tod des Führers, die eine Frau auf einem Fahrrad herüber ruft, keine Überraschung mehr.

Hartwig und Mops laufen ans Wasser. Dort, wo die Balkentrümmer der Brücke die Strömung stauen, schaukeln hunderte von Schuhen, die Ladung des explodierten Lastautos. Sie fischen mit Stöcken so viele Paare heraus, wie sie erreichen können, fabrikneu, mit den Senkeln aneinandergeknotet. Derb ist das Oberleder, selbst von der Nässe nicht weich geworden, aufgenagelt auf Sohlen aus dickem Holz. Immer neue Beute schleppen sie zu den Wagen.

Einmal stoßen sie zwischen fortgeworfenen Helmen und Gasmaskenbehältern auf einen gelben Lederhandschuh. Der ist ganz verkrustet und verkohlt, und irgendetwas daran kommt ihnen merkwürdig vor. Sie kauern sich nieder, um ihn genauer anzugucken. Um den Zeigefinger klebt ein Wundpflaster.

"I-iii", macht Hartwig.

"Ist gar kein Handschuh", flüstert Mops.

"Müßten wir mit heim nehmen, die Weiber erschrecken. Helga Bonkwitz tät quieken..."

Aber sie lassen das Ding liegen.

Es gibt Ernsteres als Weiber erschrecken. Was soll nun über-haupt in der Schule werden. Wie muss man bei der Meldung künftig grüßen? Heil Göring? Heil Doktor Goebbels? Nein, bestimmt wird es beim Heil Hitler bleiben, das ist man ihm schuldig, dem toten Führer, gefallen für Führer und Vaterland.

 

Alles trocknet eifrig in der Sonne Holzschuhe, die Tagelöh-nerfrauen, die paar alten Leutchen, Sallmanns, Bemmanns. Die Erwachsenen, lange nicht hat Mops sie so viel miteinander reden hören: Lieber ein Ende mit Schrecken, sprechen sie, als ein Schrecken ohne Ende. Und auch: Der Führer hat das beste gewollt. Gaul sagt, das ganze war eine Katastrophe, aber wenn man jahrelang in einer Katastrophe steckt, merkt man es erst am Schluss.

Er erwartet stündlich das Anrücken der Russen. Aber es scheint, dass die zerstörte Brücke sie nicht mehr interessiert.

Einmal rasselt am anderen Flußufer ein riesiger Panzer mit weißem Stern heran, stoppt schaukelnd, der Turm dreht sich hier-hin und dorthin, das Geschütz richtet sich auf den Treck. Dann brummt der Motor auf und verstummt, drei Männer mit nackten Oberkörpern, zwei weiße und ein schwarzer, klettern aus der Luke.

Sie steigen auch aus ihren Hosen, zeigen von fern den Frauen, was sie da unten haben, und springen mit tierischem Gebrüll in das kalte Wasser, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Da beginnen die Frauen, die Pferde einzuschirren. Gaul will sie aufhalten: Er wartet noch auf Nachricht vom Baron. Die eine Gespannführerin, so ein Stämmige, die, von der Mops und Hartwig die Brust gesehen haben, entgegnet, der Bauerntreck ist sicher längst zuhause, und sie trödeln hier herum. Gaul, der erst an der Spitze fuhr, bildet nun den Schluss.

 

Überall liegt in den Gräben ausgebranntes Heeresgut.

Einmal begegnen sie einem Zug Landser, waffenlos, begleitet von kleinen, wurzelfarbenen MPi-Schützen. Asiaten, sagt Gaul auf seinem Kutschbock, halbe Kinder, die sehen ja noch abgerissener aus als unsere Leute, ein Anblick zum Heulen für einen alten Soldaten, alle miteinander.

Ein Asiate springt auf den Tritt des fahrenden Fuhrwerks und zieht ihm die goldene Uhr aus der Tasche. Wie er die Kette los-knöpft, grinsen seine schwarzen Schlitzaugen freundschaftlich. Gaul tut, als sähe er ihn nicht.

Frau Bemmann und Mutti haben sich Kopftücher tief in die Gesichter gezogen, ihre Eheringe versteckt, tragen an den Füßen die plumpen Holzschuhe, schmucklose, krumme Großmütter im Wagendunkel, verzankte alte Weiber, denn zwischen ihnen schaukelt die Wäsche auf der Leine. Der Treck kommt heimwärts besser vom Fleck, die Gäule wittern den Stall. Und eines nachmittags taucht der Kirchturm von Büschchen auf, heil, so, wie ihn Mops zum erstenmal sah, als er im Auto Einzug hielt.

Aber noch einmal gibt es einen Halt.

Frühlingskahl strecken sich bis zum Horizont die Furchen eines Kartoffelschlags, es riecht nach Erde wie in jedem Jahr. Die Stämmige ist die Anstifterin. Mit den bloßen Händen beginnt sie, die Saatkartoffeln auszubuddeln. Die Keime haben schon zu wachsen begonnen.

"Die Erpern vom Baron, ihr Weiber", ruft sie, "Heute ahmd ham'r was Warmes in Toppe!" Und als hätten die anderen nur auf ein Kommando gewartet, klettern sie mit Eimern, Töpfen und Körben von den Wagen, verteilen sich auf dem Acker... Gaul, die Peitsche in der Hand, stellt sich ihnen in den Weg:

"Meine Damen! Sie haben das Saatgut selbst gelegt! "

Aber da richtet die Stämmige sich auf, zieht den Strickjak-kenärmel unter ihrer Nase lang: "Hat sich was mit Damen, alter Ziegenbock!" Böse Weiberlache schlägt hoch. Auch Frau Bemmanns Lache ist darunter, sie hängt etwas hinterher.

Gaul steht gerade, die Peitsche in der herabhängenden Hand. Sein Kopf ruckt.

Da kommt von rückwärts, aus Richtung Bahnstation, eine Kutsche angeprescht. Mops erkennt eine von den Gutskutschen. Aber nicht der Baron und die Baronin fahren darin. Der eine Insasse ist ein Russe. Tellermütze, Schulterstücke wie Brotbretter, ein Schnauzbart wie ein Räuber. Er wirft die Zügel seinem dürren Nebenmann zu und springt wie ein Gummiball mitten unter die Frauen.

"Alle kommen zu Kommendant!"

Auf einmal sind alle Rücken wieder krumm, die neuen Holzschuhe treten möglichst viele von den erbeuteten Saatfrüchten in die Erde zurück, stumm schleichen die Frauen vom Feld und schlurren zu ihren Wagen.

Nur Frau Bemmann bittet um Gnade. "Wir waren Antifaschist!", fleht sie. "Ich haben für Kamerad Kuchen gebacken, jede Sonntag!"

"Kommen zu Kommendant!"

Mutti ist die ganze Zeit im Fuhrwerk sitzen geblieben, hat auch Mops zurückgehalten. Jetzt aber klettert sie heraus und hebt ihn wie ein kleines Kind vom Bock. Sie stellt ihn auf die Erde und schiebt ihn dann Schritt für Schritt vor sich her.

Sie steht nun stumm vor dem Russen, beide Hände auf Mopsens Schultern.

Trotzig blickt Mops in das verwitterte Gesicht mit den schweren Augenlidern. Wage nicht, uns was zu tun, Russe! Er blinzelt nicht.

Der Räuberbart dicht über ihm verschwimmt, denn ungewollt sammeln sich doch Tränen in den Augen. Nur undeutlich erkennt er, wie der Fremde erst ihn ansieht, dann Mutti, dann wieder ihn. Muttis Finger beben, krampfen sich in seine Schultern. Nicht nötig, er läuft nicht weg. Er ahnt ihre Absicht: Der Russe soll seinen Anblick ertragen, den Anblick eines Kindes. Er erinnert sich plötzlich, wie ihm damals Simon Stoljar die Hand auf den Kopf legte.

"Nachhaus alle", sagt der Russe, und es klingt halb verächt-lich, halb traurig.

"Es gibt auch anständige Kerle unter ihnen", meint Gaul. "Genauso, wie es unter uns Deutschen Schweinehunde gab."

"Und kinderlieb sind sie, das wusste ich doch", sagt Mutti.

Hartwig ist die ganze Zeit unsichtbar geblieben.

 

Aus der Nähe betrachtet, hat sich in Büschchen einiges verändert. Die Gutspferde können nicht in ihre Ställe, denn in den Boxen stehen schon andere. Zottige, kleine, bissige Luder, Panje-pferdchen.

Mit müde herabhängendem Schnurrbart läuft der Großvater herum, organisiert die Verteilung "seiner Hottehüs" auf die Bauernställe. Wenn der Baron kommt, wird der selbst weiter verfügen. Der Bauerntreck ist schon seit einer Woche wieder da.

Auf der Freitreppe des Herrenhauses lagert in der Maisonne Einquartierung. Die Uniformblusen mit den rotbesternten Brot-brettern lose über den Schultern, hier ein Arm in der Binde, dort ein Kopfverband aus einer Art Klopapier, Verwundete, die auf den Transport in die Heimat warten, ihre Namen in die Baumrinde schnitzeln und schon von weitem nach ihrem Höllenmachorka stinken. Und der mit dem Räuberschnauzbart, man sieht ihn gelegentlich eine mit rauchen, im zerknautschten weißen Kittel über der Uniform, er ist ein Arzt. Und zugleich der Kommandant.

An der Panzersperre hängt, schon ein wenig verwittert, aber von weitem gut zu erkennen, ein pfeilförmig zugeschnittenes Brett mit einem aufgemalten Panzer. Es weist auf den Feldweg in Richtung Feldscheune. Ein Umgehungsschild. Angenagelt soll es der alte Geißler haben, der Panzersperrenkommandant. Mit solchen Mitteln hat er es geschafft, dass aus der Büschchener Hauptkampfzone nichts mehr wurde.

Im Comptoirhaus sieht es übel aus. Gauls Büroschränke liegen umgekippt, die Schlösser sind erbrochen, Lohnlisten wirbeln im Durchzug über die Dielen. Von den drei Fenstern hat nur eins heile Scheiben. Gaul macht sich ans Aufräumen.

Zwischendurch sitzt er stundenlang in seinem Bürostuhl, die Augen in den Händen. Ihm gegenüber, quer im Raum, steht Sallmanns schöner Schrank. Schräg über die Türen sind mit der gleichen schwarzen Farbe wie auf dem Panzersperrenschild Buchstaben geschmiert: DIE NEUE ORDN...

Nicht besser hat es oben im Wohnzimmer ausgesehen. Klebrige Likörflaschen sind unter Mopsens Tritt durch übelriechende Lachen gerollt. Und aus dem Kasten der Standuhr stieg eine Wolke fetter Fliegen. Zum Vorschein kamen die halbabgenagten Reste eines Spanferkels.

Aber all das hat Mops nicht umgeworfen. Der Treckwagen wurde abgeladen, die Wohnung notdürftig saubergemacht. Erst am zweiten Abend, als er zu beten versuchte, ist es passiert. Was sollte in Zukunft die Schlussbitte sein? Mach, dass bald Frieden wird und...? Er hat die gefalteten Hände wieder auseinander genommen und sich auf die Seite gedreht. Es fing an mit einem faden Geschmack im Mund. Neben dem Bett lagen umgekippt die neuen Holzschuhe, und unter dem einen klebte, festgetreten, ein schwärzliches Wundpflaster. Plötzlich sammelte sich Spucke unter seiner Zunge. Wovon ist mir nur so schlecht, hat er noch gedacht.

 

Mops hat in der Stuckdecke des Comptoirs Einschüsse aus einer Maschinenpistole entdeckt. Wie sie dorthin kamen, erfährt er erst später. Von Hartwig, und der weiß es von seiner Mutter, die auch nicht dabei war. Die Geschichte beruht auf Dorfgemunkel:

Im Coptoirhaus hat es eine Leichenfeier für den Führer gegeben, zu der niemand bei sich zuhause den Wirt machen wollte. Nicht der Volkssturmführer Geißler, nicht Bürgermeister Brümmer, nicht Schuster Dünnebier, nicht der alte Reichmannbauer. Herr Bemmann sowieso nicht, denn er ist auf ungeklärte Weise aus den Reihen des Volkssturms ausgeschieden. Hartwigs Vater gilt als vermisst.

Die Leichenfeier ist ausgeartet zu einem unerhörten Besäufnis, einer Fresserei, eher einer Geburtstags- als einer Totenfeier. Das Ergebnis: Die leeren Flaschen, das Ferkelskelett, umgeräumte Möbel im ganzen Haus und die Verkündung der NEUEN ORDNUNG. Der Volkssturm wurde umbenannt in Volksschutz, und rote Armbinden sollten bis in alle Ewigkeit das einzige Uniformstück sein. Das Bürgermeisteramt wurde abgeschafft.

Die NEUE ORDNUNG ist nur bis NEUE ORDN gekommen. Eine Garbe aus einer Russen-MPi hat sie auseinander gejagt.

 

Gaul liegt krank. Krank vor Kränkung und Sorge und sterbensmatt. Sein Kunstgebiss klingelt leise im Wasserglas auf dem marmornen Waschtisch, wenn sein Enkel leise durch das Zimmer geht.

Ganz umsonst hat Gaul im Comptoir aufgeräumt. Er musste es als Amts- und Wohnstube dem neuen Bürgermeister abtreten, dem, der in der Kutsche des räuberbärtigen Kommandanten anrollte. Einem Bjurmistr von Moskaus Gnaden. Angeblich soll er ein Ortskundiger sein, aber niemand kennt ihn. Und der Baron ist immer noch nicht wieder da.

Mops versucht, den Großvater zu trösten: Der fremde Quatiergast besitzt nicht mal ein Kunstgebiss. Seine Wangen sind bloß Hautfalten zwischen zahnlosen Kiefern.

"Wenn ich nur wüsste, wo ich den Lumpenhund schon gesehen habe", murmelt Gaul mit schwacher Stimme.

 

Dies war die erste Amtshandlung des Lumpenhundes:

Er hat die kaputten Comptoirfenster mit Pappe vernagelt. Und mit einem vom Gauls Tintenstiften außen draufgeschrieben: WIR DANKEN DER SIEGREICHEN ROTEN ARMEE FÜR UNSERE BEFREIUNG. Es steht noch einmal in Russisch darunter: BUP AaHKEH AEP CUTPEUXEH POTEH aPMEE...

"Für die Befreiung von unseren Schränken", ergänzt Mutti den Dank, als sie mit Mops vorbeigeht und die Schrift liest. Der Bürgermeister hat ihre Bemerkung von drinnen gehört.

"Das hat ein Nachspiel! Reinkommen!"

Sie betreten die "Amtsstube".

"Sie können nichts beweisen", sagt Mutti.

"Muss ich auch nicht. Setz dich. Wir machen ein Protokoll."

Er selbst nimmt Platz in Gauls Bürostuhl, Mops findet, er lässt sich eigentümlich vorsichtig und schief darin nieder. Dabei verzieht er böse den eingefallenen Mund. Er nimmt einen Tintenstummel vom Ohr und leckt ihn an:

"Name?"

"Sallmann, Toni."

"Sallmann, Justus", ergänzt Mops.

"Dich brauchen wir nicht. Stell dich meinetwegen da zu dem Schnörkelschrank und halt die Klappe."

Mops aber bleibt dicht bei seiner Mutter stehen.

Der Mann schreibt, den Stummel nur zwischen Zeigefinger und Daumen: "Geburtsname?"

"Ist das ein Verhör?"

"Ja."

"Wir sind total fliegergeschädigt!" empört sich Mutti. Und Mops fügt fest hinzu: "Mein Vater ist gefallen."

Er spürt, wie sich Muttis Hand in seine Schulter krampft.

"Nu, nu", sagt der Bürgermeister. "Geburtsname?"

"Was tut der zur Sache?"

"Geburtsname!!!"

"Beelzow", murmelt Mutti undeutlich.

Der Mann blickt hoch. Pause: "Nicht zufällig   v o n   Beel-zow?" Seine Stimme ist rau und wach, voller Argwohn.

"Ich bin eine verheiratete Sallmann! Wir sind - Juden!"

Er steckt den Stift hinters Ohr zurück. Blickt von Mutti zu Mops und wieder zu ihr, die Furchen auf seiner Stirn werden tief: "Erzähl keinen Quatsch, Mädchen. Tätet Ihr dann noch leben?"

"Ich bin Krankenschwester", redet Mutti verzweifelt.

"Sagtest du Krankenschwester?"

 "Ausgebildete Johanniterin. Wenn ich auch in den letzten Jahren keinen Dienst getan habe wegen dem Jungen... Was machen Sie da? Sind sie verrückt geworden?"

Mit einem gezischten Laut hat der Mann sich aus dem Stuhl erhoben und seinen Leibgurt aufgemacht. Er kommt um den Schreibisch herum, lässt die Hosen herunter und reckt Mutti sein dünnes, pikkeliges, weißes Gesäß her, dazwischen sein faltiges Gebammel, wobei er sich mit beiden Ellenbogen auf der Tischplatte abstützt.

"Dann sieh dir das mal an, Krankenschwester", knurrt er.

"Donnerwetter, ja", sagt Mutti. Und sie sieht sich den fremden Hintern an und pfeift leise. "Warum gehen sie denn nicht zum russischen Chefarzt? Mit dem sind sie doch gut dran?"

"Der hat andere Sorgen."

Das, was Mops zuerst für rote Pickel gehalten hat, sind...

"Geh nach oben", sagt Mutti barsch zu ihm.

Nach vielleicht einer Stunde kommt auch sie herauf, Aufgeregt, mit gerötetem Gesicht. Sie hat in vierzigprozentigem Russenwodka eine Büroschere steril gemacht und damit aus einer vereiterten Narbe eine Schrotkugel herausgeholt. Mit der Spitze einer Schere. Ohne Betäubung. Wenn man von ein paar Schlucken aus der Russenpulle absieht.

Mops schnuppert. "Musstest du auch Russenwodka trinken?"

"Schrot?" fragt der Großvater. Auch er schnuppert.

"Ganz recht. Und das Hinterteil ist gesprenkelt von alten Narben. Eine volle Ladung. Bei so was dauert es Jahre, bis alles rauseitert. Mancher schleppt das Blei bis zum Grab in sich rum. Und vergisst es nie."

"Na, nun gute Nacht", sagt Gaul tonlos. Nicht einmal sein Kopf ruckt. Nun weiß er, woher er den Lumpenhund kennt. Und wie zur Bestätigung hören sie bald von unten Gesang, voll grimmigem Triumph, dass es durch das ganze Comptoirhaus hallt:

"Da haben die Genossen

mit dem Gewehr geschossen..."

 

Ja, so ist es nun. Die Russen haben als Bürgermeister den roten Rädelsführer herangekarrt, den, der vor langer Zeit, als grünes Bürschchen, in Büschchens Eiche festsaß und aus Gauls Flinte eine Schrotladung abbekam. Wo er die Jahre danach verbrachte, lässt sich nur ahnen. Jetzt ist er da. Und er scheint sich im Dorf über den Rittmeister v. Beelzow bereits erkundigt zu haben. Bloß bei wem?

Jetzt singt er, der Rädelsführer. Aber was wird er morgen tun?

Gegen Mitternacht meldet er sich noch einmal, wummert mit irgendwas, vielleicht mit einem Besenstiel, gegen die Decke: "Könnt euren gottverfluchten, Schnörkelschrank abholen!"

 

Die Vergeltung des Rädelsführers lässt auf sich warten.

Den Schrank haben sie nicht heraufgeholt. Wer hätte ihn tragen sollen? Gaul geht es nicht viel besser.

Kaum, dass er sich drei-, viermal am Tag aus seinem Sessel erhebt, um sich zum Plumps führen zu lassen. Den Mantel überm Nachthemd, seine nackten, alten Beine klappern den Gang entlang in einem Paar von den aufgefischten Holzschuhen. Und wenn Frau Bemmann oder Hartwig ihm begegnen, antwortet er nicht auf ihren Gruß.

Gaul will nun sterben. Er sagt: Alles was Deutschland braucht, ist ein Kaiser. Denkt an mich, wenn es so weit ist.

Manchmal aber lebt er auf. Dann zankt er sich mit Mutti herum, weil sie sich als deutsche Frau das Rauchen angewöhnt. Ihr Tabak ist eine Mischung aus getrockneten Kirsch- und Walnussblättern, sie hat den Beutel in der verwüsteten Wohnung aufgefunden, auch die Pfeife. Blaue, stinkende Schwaden hängen stundenlang unter der Zimmerdecke.

Ihre Raucherecke ist hinterm leeren Tisch, dem Fenster zugewendet. Wenn Gaul eindämmert, redet Mutti mit ihrer Schwester Innerlich. Mit der ist sie per Sie: "Haha", ruft sie manchmal aus, und eine  Wolke kommt aus ihrem Mund, "Das könnte Ihnen so passen!" Oder: "Mit mir nicht, Madam!"

Mops bedrückt die Stimmung in der Familie, und besonders das schlappe Getue des Großvaters empört ihn. Sterben, wo gibt's denn so was!

Einmal nimmt er die Handvoll Bleisoldaten, mit denen er gerade spielt, drischt sie auf dem Tisch zum Klumpen zurecht und schreit: "Ihr reicht mir! Denkt nicht, dass ich mit zur Beerdigung gehe!"

Da fängt Gaul an zu lachen, dass seine Augen zu himmelblauen Tränenseen werden. Und Mutti klopft ihre Pfeife aus und stellt den Putzeimer unter den Wasserhahn.

Von diesem Tag an fühlt sich Gaul besser. Muttis Schwester Innerlich bekommt den Namen Walburga und wird mit Du angeredet.

"Na, Walpurga, Madam, alte Mistbiene, entpuppst dich ja! Warst schon immer recht praktisch veranlagt!", sagt Mutti liebenswürdig und krümelt Blätter in ihre Pfeife.

 

Walburga, so heißt Frau Bemmann.

Da Herr Bemmann abwesend, der Platz am Herd der Schlossküche von einer Russin besetzt ist, ernährt die Mistbiene sich und ihren Sprössling auf zeitgemäße Art. Sie besitzt eine Pfaff-Nähmaschine, und sie kann damit umgehen, das muss der Neid ihr lassen. Die Kunden kommen meist zur Abenddämmerung - unter den Jacken, klein zusammengerollt, Bündel mit Material. Das verwandelt sich unter Madam Walburgas praktisch veranlagten Händen in rote Blusen, rote Röcke, rote Kopftücher, und die Reste in rote Armbinden. Dieses etwas verwitterte Rot wird Büschchens Modefarbe. Noch im vorigen Jahr wehten Blusen, Röcke, Kopftücher als Hakenkreuzfahnen von den Hoftoren.

Was soll man machen in diesen Zeiten? Mutti schickt Mops mit Gauls Fahne zur Nachbarin. Und mit zwei Inseltlichtern als Bezahlung: Zum Nähen braucht man Kerzenlicht, solange es keinen Strom gibt. Bitte ein Inlett für ein kleines, flaches Kissen.

Mutti sagt: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.

Das Kissen soll aber Gaul zum Geburtstag bekommen, er sitzt gern weich, wenn ihn nicht gerade seine Hämorrhoiden plagen.

Mops wird auch hinübergeschickt, die Näharbeit abzuholen. Hartwig öffnet ihm und macht gleich "Pst!" Sie schleichen auf Zehen durch die Küche zur Tür von Herrn Bemmanns Arbeitszimmer. Hartwig macht sie vorsichtig spaltbreit auf. Eine Kundin ist drin. Frau Böhmisch. Sie steht aber nicht, wie Mops erwartet hat, im Unterrock, sondern sie und Hartwigs Mutter sitzen sich im Schein eines Inseltlichts am Schreibtisch gegenüber, die Köpfe dicht beieinander. Was sie machen, hat nichts mit Nähen zu tun.

"Sie pendeln den Bäcker Böhmisch aus", flüstert Hartwig, und Mops flüstert "Aha!". Er hat schon vom Auspendeln gehört.

Frau Böhmischs Ehering hängt an einem dünnen blonden Frau-Böhmisch-Haar, und dieses Pendel hält Hartwigs Mutter zwischen Daumen und Zeigefinger und lässt es über einem Soldatenfoto schweben. Sie fragt die Bäckerin leise dies und das, Herrn Böhmischs Geburtstag, wann zuletzt geschrieben. Die Antworten kommen ebenso leise, fast gehaucht, denn kein Luftzug darf das Pendel beeinflussen. Dessen Bewegungen werden nun größer, obwohl Frau Bemmanns Hand reglos in der Luft steht. Anfangs noch schwingt es hin und her, allmählich wird die Bewegung zum Oval, zum Kreis.

"Das Herz schlägt jedenfalls", entscheidet Frau Bemmann.

Die Kundin atmet tief aus und schiebt eine Tüte über den Tisch, die auf der blanken Platte eine Mehlspur hinterlässt.

Mops schließt die Tür und fragt: "Wenn nun der Ring nicht im Kreis gependelt hätte, sondern auf und ab?"

"Die Sterbeglocke", sagt Hartwig sachkundig. Sie klopfen jetzt an und treten ins Arbeitszimmer.

Am nächsten Abend holt Mutti ihren Ehering aus dem Versteck und kramt lange in der Fotokiste. Ihre Hände zittern. Dann geht sie, angeblich, um sich für das fertige Kissen persönlich zu bedanken. Als sie zurückkommt, ist sie froher, als alle Tage zuvor. Sie sagt zu Mops: "Junge, schau so oft du kannst, aus dem Fenster. Wenn unser Vati kommt, kommt er aus der Richtung vom Bahnhof."

 

Im Fall von Herrn Böhmisch hat das Pendel getrogen. Ein Kamerad aus dem Nachbardorf ist heim gekommen, auf zwei Krücken und einem Bein. Er war mit dem Büschchener Bäckermeister zusammen, bis zuletzt, eh ihm eine Granate das andere Bein abriss. Als Mutti mit Mops einmal vom Feld kommt und von weitem Frau Böhmisch erblickt, wechselt sie die Straßenseite. Das Witwengesicht sieht aus, als wäre es durch einen Aschewind gegangen.

Nachdem damals der Bäcker eingezogen wurde, hat vorübergehend ein Franzose, ein Gefangener, seinen Platz in der Grube vor dem Backofen eingenommen. Seit dem Mai gibt es kein Brot. Der Rädelsführer gibt den Befehl zum Backen. Er selbst ist der neue Bäcker. Diesen Beruf hat er angeblich gelernt.

Schon nächste Woche aber wird der Brikettvorrat aufgebraucht sein. Dann wird er mit Holz einfeuern müssen. Als Bürgermeister ordnet er an, dass die Büschchener Eiche gefällt wird.

 

Ganz früh hat es laut an die Tür geklopft. Fremde Russen, mit Riemen und Schnallen, nicht so abgerissene wie die vom Schloss, die man vom Sehen langsam kennt. "Wo Baron Roch?" haben sie gefragt. Gaul hat sie nur schweigend gemustert. Sein Kopf hat nicht ein einziges Mal geruckt. "Sie Baron Beelzow?" hieß es da.

"Rittmeister Freiherr   v o n   Beelzow", mit scharfer Stimme hat Gaul die Anrede richtiggestellt und sich kerzengerade aufge-richtet. Mops hat an der kleinen blauen Ader an seiner Schläfe gesehen, welche Anstrengung es ihn kostete, in den einen Ärmel seines Wintermantels hineinzufinden. Mutti, die ihm zu Hilfe kam, hat er unwillig weggestoßen. 

Ob Mops wollte oder nicht, er hat angefangen zu weinen.

"Mach nicht die Pferde scheu, Junge", waren die Abschiedsworte des Großvaters. Dann saß er in seinem dicken Mantel zwischen den zwei Offizieren. Auf einem flachen russischen Pritschenwagen, den ein kahlgeschorener Bursche in durchschwitzter Bluse lenkte, einen qualmenden Stengel aus zusammengedrehter Zeitung im Mundwinkel. Das Pferdchen hat sich in Zuckeltrab gesetzt.

Mutti und Mops haben sich bei der Hand genommen, sie sind gerannt was sie konnten, zum Bäcker, durch den Laden durch, an der verblüfften Frau Böhmisch vorbei direkt in die Backstube.

"Das war Ihr Werk!" schreit Mutti den Rädelsführer an.

"Die Russen verschleppen ihn nach Sibirien!" ruft Mops. "Er hat den Wintermantel angezogen!"

Der Rädelsführer, mehlweiß, klettert in die Ofengrube, öffnet die halbrunde eiserne Klappe. Duftende Hitze schlägt herauf.

"Nicht ganz so weit, vermutlich", spricht er in den Ofen hin-ein. "Bloß bis nach Buchenwald bei Weimar. Das kann er sich ruhig mal von innen angucken."

Er zieht auf einem Brett an langer Stange Brotlaib um Brotlaib aus dem Ofen.

"Mein Vater ist krank!" versucht es Mutti. "Unternehmen sie was!"

"Andere waren auch krank, Mädchen."

Und er lässt sich von Frau Böhmisch Zettel und Tintenstift holen.

"Es war bloß Hasenschrot!" erinnert Mops den Rädelsführer. 

Der bläst die hohlen Wangen auf: "Schnee von gestern, Junge. War dein Großvater Buchhalter bei einer STALAG-Außenstelle oder nicht?" Und er leckt an seinem Stift und kritzelt etwas. Mutti ist zur Gemeindeschwester ernannt, da kann sie sich ihr Brot verdienen.

 

Der Bürgermeister bäckt Schliff, sagen die Leute, sein Brot klunkscht, die Laibe bleiben flach, sind die Marken nicht wert. Er war nie im Leben Bäcker! Er behauptet, es liegt am hohen Kleie-anteil und auch daran, dass er mit Brennmaterial sparen muss. Die Büschchener weigern sich, ihre Eiche zu fällen.

Genauer gesagt, die Männer von der NEUEN ORDN, die sich jetzt "Volksschutz" nennen, weigern sich. Fichte tut's auch, sagen sie. Fichte heizt nicht, sagt er. Er hat es auf die Bluteiche abgesehen.

Aber allein kann er einen solchen Baum nicht fällen.

Sollte man denken.

Einmal, nach einem schweren abendlichen Gewitterguss, buddeln Mops und Mutti auf dem Gutsacker oberhalb der ehemaligen "Grube" Kartoffeln aus. Mundraub nennt man das. Der Regen hat die grün-gelben Knollen an der Oberfläche freigewaschen, man benötigt kaum die Hacke.

Da hört Mops deutlich ein Ritschen und Ratschen. Er richtet sich auf und blickt in Richtung Eiche.

Ihm ist, als sähe er eine Gestalt, das Blinken eines Sägeblatts im letzten Tageslicht. Die Bewegungen des Sägenden kommen ihm merkwürdig kurz und hastig vor, und als er Mutti aufmerksam macht, ist die Erscheinung verschwunden.

Der Baum steht fest wie seit tausend Jahren.

 

Manchmal erwacht Mops nachts vom Glucksen in seinem Bauch. Das ist der Hunger. Seit sein Großvater verschleppt ist, schläft er wieder allein, und zwar auf Muttis ehemaliger Liegestatt, der Wohnzimmercouch. Von dort gelangt er jederzeit durch die Verbindungstür in die Küche, ohne dass sie munter wird.

Er zündet das Inseltlicht an.

Auf der Anrichte steht die Brotkapsel, das große Messer liegt im Schub. An der Unterseite des Brotlaibs, parallel zum letzten Schnitt, hat Mutti eine Kerbe angebracht, so will sie kontrol-lieren, ob er heimlich am Brot war. Jedoch genau in diese Kerbe  setzt er das Messer, bemüht sich, gerade abzuschneiden. Und kerbt neu, einen Zentimeter von der früheren Marke entfernt. Wenn er das Brot hundertmal kaut, wird es süß im Mund, und der Hunger hört auf zu glucksen.

 

Herr Bemmann ist aus der Gefangenschaft zurück. Er hat es geschafft, rechtzeitig von der Ostfront zur Westfront zu wechseln. Dünn ist er geworden, wie alle Leute jetzt, die Uniform, in der er umhergeht und die Leute begrüßt, schlackert, sie stammt, tja, was soll man machen, aus britischen Heeresbeständen. Frau Bemmann hat die militärischen durch Hirschhornknöpfe ersetzt. Hartwig erzählt, die Anglo-Amerikaner nennen uns Deutsche die "Bloddidogs", das heißt Bluthunde. Das werden wir ihnen, die unser Dresden zerbombt haben, niemals vergessen. Ab September will Herr Bemmann wieder Schule halten.

Bis dahin sind noch vierzehn Tage. Der Zug eins streunt durch alle Winkel des Dorfes. Klettert auf der Panzersperre herum. Belauscht die Russen im Schloss. Baut Höhlen im Stroh der Feldscheune. Aber nie läuft jemand hinaus in Richtung "Grube", es ist wie eine geheime Verabredung. Alle Jungen, auch Mops, tragen ein deutsches Soldatenkoppel, das Hakenkreuz herausgefeilt zwar, aber deswegen bleibt man trotzdem ein Deutscher. BLUT UND EHRE, steht auf dem Wappen.

Wenn auch in den Reden jetzt oft undeutsche Schweinereien vorkommen. Andere, als Mopsens Dreckelige Wörter. Hartwig hat gesehen, wie Helga Bonkwitz sich an ihrer Hofpumpe wusch, wie ihr Piez richtig gebaumelt hat, wie zwei Glocken, unverschämt. Ob Hartwig sich das bloß ausgedacht hat?

Auch Mops muss neuerdings von Bonkwitzens Pumpe das Wasser heranschleppen. Da geht er früh, vielleicht erwischt er Helga Bonkwitz.

Aber immer hat sie beim Waschen ihr blaurot kariertes Kleid an. Nur einmal kommt er dazu, wie sie sich gerade da untenrum wäscht, indem sie mit dem Waschlappen in ihre Unterhose fährt.

Sie sagt: "Plumpe mal!"

Und er drückt den eisernen Schwengel auf und nieder, bis sie die Pumpe freigibt.

Er schleppt, die Eimer dreiviertel voll, damit sie nicht über-schwappen. Er muss darauf achten, dass die Blechränder die nackten Beine nicht berührt, denn die sind voller Furunkel. Furunkel, von denen auch Hartwig gepeinigt wird: Sie schwellen juckend Waden und Knie hinauf, öffnen sich zu tagelang eiternden Schwären. Sie kommen von dem verseuchten Wasser des Gutsbrunnens, aus dessen Leitung sie alle in den ersten Wochen ahnungslos getrunken haben. Bis eine Hundeleiche herausgezogen wurde. Im schwarzbraunen Fell saßen reglose schwarze Schnecken. Barons Asta.

 

An manchen Tagen ist die Furunkulose schlimm, Mutti umwickelt Mopsens Beine mit Papierbinden, die sie, die Gemeindeschwester, im Schlosslazarett ergattert hat. Die Binden halten nicht lange, sie ringeln sich auf und rutschen. Mops kann an den schlimmen Tagen nicht hinaus. So wie heute. Er lungert mit der Fliegenklatsche am Fenster, Es ist heiß, langweilig, nicht zum Aushalten, und das Wohnzimmer stinkt nach Muttis Pfeifenknaster. Sie räumt gerade in Gauls Sachen auf.

Draußen, fern, zwischen den Birken, die den Weg von der Bahnstation säumen, geht jemand mit einem Rucksack.

"Vati kommt!" ruft Mops.

Mutti ist mit einem Satz neben ihm: "Wo!"

Der Wanderer verschwindet hinter Sträuchern.

"April-April!"

Unglücklicherweise hat sie gerade ein Paar Hosenträgern in der Hand. Die Schläge treffen kreuz und quer, er hebt die Hände, um das Gesicht zu schützen. Das "April-April" war natürlich Spaß, aber vorher hat er gar keinen Scherz machen wollen: Er war für einen Moment wirklich überzeugt, da käme Vati.

Bedrückt und traurig holt er seine Bleisoldatenkiste. Nur ein Klumpen aus Infanteristen mit verbogenen Gewehren rollt noch darin herum. Er macht sich daran, das Stück Blei mit dem Hammer platt zuschlagen und mit der spitzen Seite zu zerkleinern.

Da steht ein Mann in der Tür, lächelt verlegen. Mutti geht hin und nimmt ihm die Feldmütze vom Kopf. Rötliche Stoppeln. Sie liegt an seinem Hals, glühender Pfeifeninhalt rollt über den Boden.

"Du riechst nach Desinfektion", lacht sie und weint.

"Frisch entlaust", sagt er. Sie halten sich an den ausgestreck-ten Armen. "Ein bisschen schmal", sagen sie gleichzeitig.

Dieser schmale Mann - aus der Nähe sieht er nicht aus wie Vati.

Mops sagt guten Tag.

Der Vater bekommt Brot. Und Mopsens Trinktopf voll heißer Milch. Und während er die Milchhaut mit zwei Fingern herunterhebt, in den Mund steckt und sich einen Tropfen von der Lippe leckt, hört er zu, was mit Gaul geschehen ist. Und sagt nichts und kaut das Brot und trinkt die Milch in kleinen Schlucken.

Mitgebracht hat er einen Aluminiumlöffel, der an der Seite scharfgemacht ist, und so auch als Messer dient. Er erzählt nichts, sitzt nur, schaut sich in der Wohnung um und sagt: "Tja. Das war's."

Mops wird mit den Eimern losgeschickt.

Wie das Wasser dann heiß auf dem Herd steht, und der Vater sich zum Waschen auszieht, sieht Mops den Bauch, eine blasse Kugel unter der Rippenbrust.

Bei der Lebensmittelkartenausgabe kommandiert der Rädelsführer den neuen Dorfbewohner zum Ausgraben der Panzersperre. Die Stämme werden zersägt und gespalten, das Holz ist im Hof der Bäckerei abzuliefern.

Bereits nach wenigen Nächten erwischt der Vater Mops an der Brotkapsel. Sagen tut er fast nichts, aber er erfindet eine neue Kontrollkerbe, nicht mehr parallel zum letzten Schnitt, sondern keilförmig, mit der Spitze exakt auf der Kante. Käme künftig zwischen Abendbrot und Frühstück diese Keilspitze abhanden, könnte das Ärger geben.

Der Zivilberuf vom Vater ist Vermessungsingenieur.

Geht ihn die Erziehung überhaupt etwas an? fragt sich Mops.

 

Die Leute, die an der Panzersperre Holz sägen und auch die, die der Rädelsführer zum Feldarbeit befohlen hat, sagen, der Ami ist stärker als der Russe. Und wenn mit dem Ami bald der Baron zurückkommt, weht der Wind aus'm andern Loche, und sie müssen nicht mehr ohne Bezahlung auf der Kolchose raboti, rabota.

Denn allen ist klar: Das Rittergut soll eine Kolchose werden wie in Russland, keinem gehört mehr was, und die Ernte wird ab-geliefert an die Schnapsbrennerei.

In diesen Tagen gibt es wieder eine Zeitung. Der Bürgermeister hat sie außen an die Fensterpappe vom Comptoir gepinnt. Schwarz auf Weiß kann jeder die Meldung über die NEUE BOMBE lesen: Die Japaner, Deutschlands ehemalige Verbündete, bis Anfang August haben sie sinnlos weitergekämpft, haben sich in sprengstoffgefüllten Flugzeugen auf den Gegner gestürzt. Was hielt ihre Kriegsmaschine so lange in Gang? Fanatismus, wahnwitziger Glaube an den Endsieg, an eine neue Wunderwaffe.

Die, welche der kriegswütige deutsche Führer nun doch nicht mehr rechtzeitig in der verbrecherischen Hand hielt.

Und jetzt stellt sich heraus, dass die Amerikaner diese Waffe fertig erfunden haben, die Bombe aller Bomben. Abgeworfen haben sie die über zwei japanischen Städten, pro Stadt eine, bums, aus.

Bums, aus, so schreibt es die neue Zeitung natürlich nicht. Sie teilt vielmehr mit, dass nach dem tragischen Schlag nun auch Generalissimus Stalin den Japanern den Krieg erklärt und Inseln besetzt hat.

"Wohlgemerkt,   n a c h   dem Vernichtungsschlag durch die Amerikaner", äußert sich der Vater.

Der Beweis ist erbracht: Der Ami ist stärker als der Russe.

Die Schlossrussen ziehen in kleinen Trupps durch das Dorf, die braunen Käppis in Genick, bevölkern die Schlosswiese, jedenfalls die, die heile Knochen haben. Viele von ihnen sind jetzt wie die Bewohner des Comptoirhauses von Furunkeln geplagt, als Medizin saufen sie am Abend ihren Wodka, gleich aus Wassergläsern, wie Mops selbst gesehen hat. Und kilometerweit, als wäre das Büschchener Flachland ihre heimatliche Steppe, fliegt ihr Gesang: Rastratri-schetiri...

 

Mops war extra den ganzen Tag nicht auf dem Plumps. Heute verwirklichen er und Hartwig einen mutigen Plan. Sie klauen die bewusste Zeitung vom Comtoir, die mit der Nachricht von der Bombe. Im Schutz der Holundersträucher schleichen sie die Seitenfront des Schlosses entlang bis unter ein Fenster, das sie schon lange beobachten. Es steht immer offen, dahinter befindet sich  das Sprechzimmer des Russendoktors, des Räuberbartes.

Von drinnen ist sein russisches Geschimpf zu hören, arra, barra, brrda darra, unterbrochen von Niesen und Nasenschnurcheln. Kunstgerecht dreht Hartwig aus der Zeitung eine Tüte, Mops lässt die Hosen herunter.

Das gibt eine Bombe besonderer Art! Der reichlich überstehende Tütenrand wird doppelt und dreifach um den Inhalt geknüllt. Ein harmloses Zeitungsknäul.

Vorsichtig setzt jeder einen nackten Fuß in eine Astgabel vom Holunder, zieht sich hoch, nicht viel, bloß, dass sie in das Zimmer spähen können. Gerade wird ein Beinverband erneuert. Der Doktor hantiert mit einer Schere, dann wickelt er einen Papierverband. Genaues ist nicht zu sehen, denn Arzt und Verwundeter kehren dem Fenster den Rücken zu. Wer so niest und schnupft, ist der Doktor selber.

Die Gelegenheit ist günstig, auch wird die Bombe in Mopsens Hand allmählich unangenehm lauwarm.

Wenn ich mich traue, erfüllt sich ein Wunsch.

Welcher Wunsch?

Der Großvater kommt wieder.

Er wirft gerade in der Sekunde, als sich der Verwundete auf zwei Krücken zum Ausgang schwingt. Die Bombe landet weich im Fach eines geöffneten Schrankes, in dem nichts weiter steht als eine bauchige braune Flasche mit irgendeiner Lösung.

Der Doktor hat die Tür hinter dem Patienten geschlossen, er gräbt mit seinem großen gelben Daumennagel in seinem grobporigen Riecher und blickt einen Moment wie verwundert im Raum umher. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch, knifft das Pappmundstück einer Zigarette und zündet sie an. Sie sehen die gekreuzten weißen Fältchen in seinem gebräunten Nacken.

"Gehört hat er nix", raunt Mops. "Ob er bald was riecht?"

"Hätt'st lieber mich lassen sollen", flüstert Hartwig zurück.

In dem Moment dreht sich der Mann voll zum Fenster. Die Stimme dröhnt wie ein Schuss:

"Sjuda!"

Mops ist mit einem Satz am Boden, rennt durch dichten grünen Giersch. Erst hinterm Comptoirhaus kommt er zum Halten und peilt um die Ecke. Wo bleibt Hartwig?

Nach einer langen, bangen Stunde erscheint er. Er humpelt. Das linke Bein ist barfuß wie zuvor, das rechte steckt in einem dreckigen russischen Soldatenstiefel, der Schaft ist der Länge nach aufgeschnitten. 

"Ein Geschenk", redet Hartwig und tut wichtig. Erst wollte der Russe ihn allerdings gar nicht rausrücken. Der Stiefel war aber überzählig, stand einzeln rum. Der Doktor war ansonsten unverschämt nett und auf Zack.  Er hat auf deutsch geredet. "Sjuda" heißt: "Komm rein". Hartwig hatte das gleich richtig kapiert und ist zum Fenster hineingeklettert.

"Und die Stinkbombe?"

"Blindgänger", feixt Hartwig. "Die liegt noch bei dem im Schrank."

 

In dieser Woche zimmert der Rädelsführer aus Latten eine Art Zirkel, Spanne zwei Meter. "Hier! Du bist Vermessungsingenieur", sagt er zu Vati. "Nu ist Bodenreform. Nu mach!"

Vati sitzt nächtelang über vergilbten Papieren und Karten, raucht Muttis Pfeife, rechnet und schimpft über die Unvernunft, Die große Gutswirtschaft aufzuteilen.

Am Sonntag regnet es Strippen, er aber zirkelt er mit dem Holzzirkel querfeldein. Der Rädelsführer zieht einen Handwagen mit Pfählen. Die künftigen Neubauern stapfen mit gesenkten Köpfen hinterdrein, die Kinder zählen jeden Zirkelschlag laut mit.

Ist ein Pfahl eingeschlagen, nimmt der Rädelsführer seinen unvermeidlichen Tintenstift vom Ohr, spuckt drauf und krakelt auf den Schrägschnitt des Holzes den Namen des neuen Besitzers.

Beim Zugang zur alten Sandgrube, unweit der Büschchener Blut-eiche, gibt es Ärger: Diesen minderwertigen Boden nimmt der alte Geißler nicht. Die Mutterkrume ist dünn über dem Sand, und überdies, wie es hier aussieht! Diese ganzen Misthaufen, verrottet und verbrannt! Er hebt eine Lage verkohlten Strohs aus einer vom Regen halb gefüllten Bodenmulde. Lehmiges Wasser trieft auf etwas, das Mops zuerst für eine verschmorte, fensterlose Gasmaske hält. Wären da nicht schwarze Zähne und ein Filz aus Haar, eine Strähne über der Stirn noch immer von stumpfem Rot.

 

Der Rädelsführer regiert im Dorf mittels öffentlicher Aushänge, die er am Pappfenster vom Comptoir anklebt. Zum Beispiel:

 

EINTEILUNG ZUR FREIWILLIGEN KOMMUNISTISCHEN ARBEIT:

Müller, A. Bürgermeister, Backdienst.

Dünnebier, R., Schuhreparaturen.

Geißler, Reichmann, Bemmann, S., Ciupa, Sörgler, Pietsch:

Trümmerberäumung in der Grube.

Bemmann, W.: Schullehrerin in der NEUEN SCHULE

Sallmann, T., Gemeindeschwester.

Sallmann, U., Brandwache

VORWÄRTS IM KLASSENKAMPF!

 

"Der Bürgermeister backt Brot", regt sich Mutti auf, sie die Abendkerze anzündet, "der Ingenieur spürt Waldbrände auf, der Lehrer räumt Trümmer weg und die Köchin unterrichtet die Kinder!"

"Und der Bock wird Gärtner, jetzt haben wir den Kommunismus", meint Vati.

"Pst", sagt Mutti, "die Wände haben Ohren."

"Stimmt's , Vati, jetzt bist du ein Melder", flüstert Mops.

Von den Feldern weht Septemberstaub.

Die Schulfahne hat Frau Bemmann nicht zur Bluse oder zum sanften Ruhekissen umgearbeitet. Da hat sie bloß den weißen Placken mit dem Hakenkreuz abgetrennt. Zur Eröffnung der NEUEN SCHULE flattert das Tuch rot über dem Eingang, dort, wo es immer flatterte.

Wo das Führerbild hing, hängt jetzt der Kasten mit den aufgespießten Schmetterlingen.

Die Kinder bevölkern die Klasse dicht, sogar auf den Fensterbrettern sitzen welche, und jetzt sieht man, wie viele Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien im Dorf hängen geblieben sind. Einer, Mops kennt ihn schon, sie nennen ihn Ciupa Affenzehe, sitzt barfuß auf dem Pult und spreizt seine schmutzigen Zehen, dass sie aussehen wie von einem Affen. Hartwig ist in seinem Russenstiefel erschienen, angeblich hilft er gegen Furunkel, weil das Leder ärztlich "intefiziert" ist. Den kaputten Schaft hat er rundherum abgeschnitten. Er zwinkert mit dem linken Auge, das hat er wahrscheinlich vor dem Spiegel geübt.

Eine Ausrede. In Wirklichkeit will Hartwig mit dem Stiefel angeben. Tatsächlich hat auch sein nacktes Bein kein einziges Furunkel mehr.

"Guckt euch den an", kichert Helga Bonkwitz: "Hartwig Russenstibbel!" Und sie kichert wie verrückt. Ein kleiner Schmerz macht sich in Mopsens Herzgegend breit. Mops hat seinen alten Platz in der letzten Reihe eingenommen, den Platz des Melders.

Dann steht Frau Bemmann in der Tür, in der Hand einen großen Wecker, denn es gibt keinen elektrischen Strom für die Schulglocke. Sie selbst sieht neu aus, hat einen munteren Turbanschal um ihr Haar geschlungen.

Mit ihr ist der Rädelsführer gekommen. Für ihn stellt Frau Bemmann den Pultsessel unter den Schmetterlingskasten. Sie verscheucht Ciupa Affenzehe vom Pult und steht dann vorn, lächelnd, abwartend, ganz wie früher Herr Bemmann. Nur ein bisschen rot im Gesicht.

Wenigstens die Einheimischen haben die Disziplin nicht vergessen. Sie stehen stramm.

Mops marschiert nach vorn: "Ich melde den Zug eins zum Unterricht angetreten. Heil..."

Zu spät bemerkt er seinen Irrtum. Blitzschnell hat Frau Bemmann seinen Arm heruntergedrückt: "Wir melden nicht mehr, Justus Sallmann."

"Hat nischt mehr ze melden", kommt von hinten die gehässige Stimme von Adolf Dünnebier. Als Mops an seinen Platz zurückkehren will, ist der besetzt. Neben Hartwig flätzt Affenzehe und grinst, und Hartwig kneift das Auge zu. Mops blickt sich suchend um: Ein einziger Klappsitz in der ersten Reihe ist wie durch Zufall leergeblieben. Unter den Blicken aller muss er noch einmal den Gang durchschreiten und sich in die enge A-Be-er-Bank zwängen. Natürlich weiß er, wessen Platz das war. Es kommt ihm so vor, als würde es in diesem Moment merkwürdig still.

Frau Bemmann will nun ein Märchen erzählen. Unsere sowjetischen Befreier haben es aus ihrer fernen Heimat mitgebracht.

Der Rädelsführer zieht ein zusammengeknifftes Schulheft aus der Tasche und nimmt den unvermeidlichen Tintenstift vom Ohr, während Frau Bemmann beginnt:

"In einem Tal lebte eine Prinzissin mit Namen Ührei, die liebte den Prinzen Salamir..."

Mitten in der Erzählung unterbricht sie der Rädelsführer: Er muss zurück in seine Backstube, er hat nur ein paar kleine Fragen an die Einheimischen unter den Kindern. Eine faschistische Untat ist aufzuklären, und sie können dabei helfen. Alle wissen ja von dem Toten, der unweit der Bluteiche gefunden wurde. Der sowjetische Kommandant, der ja Arzt ist, hat festgestellt, dass es sich um die Leiche eines etwa vierzehnjährigen Jungen handelt.

In der Klasse herrscht Eisesstille.

"Nu?" fragt der Rädelsführer.

Niemand meldet sich.

"Beginnen wir anders", sagt der Rädelsführer. "Ich habe von einer sogenannten Razzia gehört. Die war erst in diesem April."

"'ne Razzia?" fragt Hartwig Bemmann. "Ich war krank."

Frau Bemmann steht vorn und nagt an ihrer Lippe. Sie sieht im Augenblick gar nicht so neu und munter aus wie vorhin.

"'ne Razzia?" fragen ein paar Mädchen: "Wir mussten an dem Tag wieder nach Hause..."

"Der tote Junge hieß Petr Nechluda", murmelt Mops. Er wendet sich um und blickt in Gesichter, die unter der Sonnenbräune blass sind. Zur Decke gedrehte Augenpaare zeigen, wie sehr die Besitzer in ihrem Gedächtnis kramen, wo sie den Namen schon gehört haben.

Der Rädelsführer hat Mopsens Gemurmel nicht verstanden und lässt sich die Aussage laut wiederholen.

"Der tote Junge hieß Petr Nechluda" spricht Mops deutlich und hochdeutsch. Nun hat er doch etwas zu melden gehabt in dieser bösen ersten Schulstunde.

 

Wer als allererster so etwas behauptet hat, wird Mops nie herausbekommen. Aber sogar der Flüchtling Affenzehe quatscht es nach: "Sälämi hat Luda erpucht."

In den Pausen und nach der Schule wird wieder Schinkenklopfen Mode. Der Schinken heißt Sälämi. Seine geschlossene Augen liegen in den schwitzigen Händen von Affenzehe, die Schläge prasseln auf seinen Hosenboden, so schnell, dass er überhaupt nicht zum Raten kommt, wer da gerade zuschlug.

Aber schlimmer als das Zwiebeln der klatschenden Schläge ist jede mal schon zu Anfang das verrückte Kichern von Helga Bonkwitz, die sich im Vorgenuss des Schauspiels  mit zwei, drei Freundinnen auf der niedrigen Schulhofmauer niedergelassen hat und sich mit ihrem karierten Rock Kühlung wedelt.

"Sälämi hat Luda erpucht, joptwojemat!"

"Hartwig!", schreit Mops, "der Tritt kam von Hartwig!"

Es war ein Tritt mit Hartwigs Russenstiefel.

Geraten hat Sälämi diesmal richtig.

Mit großspurigem Gefaxe reckt Hartwig die Hose den Schlägen entgegen. "Vorwärts im Klassenkampf!" Er ruft die Losung, die noch immer am Comptoir zu lesen ist.

Aber niemand haut zu.

Nur Mops. So doll er kann.

"Sälämi", rät Hartwig.

Nun ist Sälämi wieder Schinken. Er reißt sich los:

"Wieso immer ich!"

"Weil du Luda erpucht hast!"

Mops schreit: "Alle waren dabei!"

"Die Mädchen nicht", sagt Helga Bonkwitz.

"Ich auch nicht", sagt Hartwig. Ich war krank."

"Alle waren dabei? Lerge! Sag das noch mal!" Affenzehe hält Mops die magere Faust vor die Nase.

Affenzehe war damals noch gar nicht im Dorf, das muss Mops zugeben. "Aber Adolf war dabei!" beharrt er. "Den hab ich genau gesehen."

"Bei dem Nebel damals?" fragt jemand.

"Im Nebel hat er mich gesehen", sagt Adolf hochdeutsch zu den anderen. Und er, Adolf, hat im Nebel Sälämi gesehen, wie Sälämi losdrosch. Mit einem dicken Knüppel.

"Und wie hast du mich im Nebel erkannt?" fragt Mops.

An der Stimme hat Adolf ihn erkannt. 'Drauf und dran' hat Sälämi gebrüllt. Adolf hat sich noch gewundert, was das zu bedeuten hat. Er war ganz ahnungslos, konnte nicht mal wissen, dass unter dem Stroh 'ne Höhle war.

"Ich auch nicht", verteidigt sich Mops.

"Du wusstest es sehr gut", bemerkt Hartwig. Er steckt den zweiten Fuß auch noch in seinen Stiefel und versucht im Kreis zu hüpfen, worüber Helga und die Mädchen sich vor Lachen kaum halten können. Hartwig hüpft eine Weile, dann bleibt er balancierend vor Mops stehen: "Du wusstest es: Hast mir auf dem Treck selbst von Ludas neuer Erdhöhle erzählt. Wie nannte er die doch gleich?"

"Semljanka", murmelt Mops.

"Aha!", sagen alle und nehmen ihn sich von neuem vor. Sie höhnen: "Das ist Klassenkampf, Sälämi   v o n   Beelzow! Hast Luda erpucht!"

"Ich geh zum Bürgermeister!" schreit Mops. "Ich melde genau, wie alles war!"

Sälämi hat Luda erpucht. Es ist zur Redensart geworden. Sälämi hat Luda erpucht. Mutti meint, sie denken sich nichts dabei, du musst gar nicht hinhören. Und zum Bürgermeister gehen wir nicht mit so was. Schließlich weiß man nicht einmal mit Bestimmtheit, wer der Tote in der Sandgrube gewesen ist, möglicherweise ein Ortsfremder, ein gänzlich Unbekannter, den ein Tiefflieger traf oder dergleichen. Es ist schlimm, was der Krieg angerichtet hat. Nein, aber der Petr Nechluda, eigentlich kann der das nicht gewesen sein, sicher doch ist der mit seinen Eltern rechtzeitig vor seinen russischen Landsleuten ausgerückt. Vom Hiwi und seiner Frau fehlt ja ebenfalls jedes Lebenszeichen.

"Da muss der Junge allein durch", entscheidet Vati: "Drisch zurück! Feste! Tritt sie in den Sack!"

 

Das allabendliche "Rastratrischetiri" aus dem Schloss ist ver-stummt. Die letzten Patienten haben ihre Feldbetten eigenhändig auf Laustautos gekracht, der räuberbärtige Doktor hat zum Schluss den Konzertflügel der Frau Baronin aufladen lassen. Beim Davonrumpeln haben die Saiten im Innern laut geschollert.

Der Rädelsführer hängt einen Zettel aus: WOHNUNGSREFORM, und in den zwei Nächten vor der geplanten Aufteilung der großen Räume des Herrenhauses werden dort die meisten Fenster geklaut, wird das Parkett herausgerissen und weggeschleppt.

Unter dem Kommando von ein paar Großen aus Zug zwo, die HJ-Fahrtenmesser am Koppel tragen, geht das Plündern auch bei Tag weiter. Die Stofftapeten geben froschgrüne Hemden ab mit goldgewirkten Karos, vorausgesetzt, man hat jemanden, der schneidert.

Adolf, Hartwig, und Affenzehe dürfen mitmachen. Sälämi bleibt draußen. Er kann Schmiere stehen und melden, falls jemand kommt, ihm gefällt es ja, das Melden... Mops steht Schmiere, verdeckt vom Holunder. Durch den leeren Fensterrahmen über sich kann er das Fetzen des Tapetenstoffs hören. Dann werden ihm die grünen Rollen heruntergereicht und nacheinander klettern die Jungen heraus und schleppen ihre Beute in alle Himmelsrichtungen davon. Mops bleibt allein zurück. Aber nun ist er dran. Vielleicht findet er in irgendeiner Ecke einen Stiefel? Er klettert in den Strauch und von da aus ins Fenster.

Das ehemalige Sprechzimmer ist völlig leergeräumt.

In der Halle sieht es aus wie nach einer Explosion. Zerschlagenes Porzellan, Kristallgeglitzer. Vorsichtig umgehen Mopsens nackte Füße die Scherben. Er steigt die geschwungene Marmortreppe hinauf in den ersten Stock.

Im Salon, in dem er vor Jahren Rehbraten und Karamelspeise vorgesetzt bekam, blieben weder Tisch noch Stuhl, und an der kahlen Wand hängt nichts als eine übermannshohe, verschlissene rote Leinwand in einem Lattenrahmen. Russische Buchstaben. Er zerrt an dem Rahmen. Langsam, wie ein Segel, kippt das Ding von der fleckigen Mauer. Der Wandschrank dahinter ist unverschlossen.

In den Halterungen, in denen einst die Jagdgewehre des Barons hingen, lehnen jetzt hölzerne Krücken für Verwundete mit abgewetzten Lederpolstern, zerbrochenen Streben. Aber kein Soldatenstiefel. Enttäuscht will Mops die Schranktür schließen, da sieht er in der Ecke, unter einem Haufen abgewickelter Papierbinden, etwas Blankes.

Er greift in das Geraschel.

In seiner Hand liegt der Revolver.

Der vernickelte Lauf mit ein paar Rostblüten.

Das Trommelmagazin dreht sich schwerer als früher.

Die hölzernen Griffschalen sind schwarz geworden. Der Sicherungshebel...

Mops versucht sich zu erinnern. Wie ist die Waffe hierher gelangt? Eigentlich ist alles logisch. Der Tischler Simon Stoljar hat sie gestohlen, der Baron hat sie ihm bei der Festnahme wieder abgenommen und in seinen Gewehrschrank gelegt. Später haben die Russen sie gefunden und nicht wichtig genommen: Ein Schreckschussrevolver, Gerümpel...

Der Sicherungshebel, war der nicht größer? War nicht überhaupt der ganze Revolver größer?

Vielleicht ist es gar nicht seiner. Oder doch? Er steckt ihn hinters Koppel, lässt das Hemd darüber hängen. Er schleicht treppab, klettert aus dem Fenster und schreitet mit gelassenen Schritten hinüber zum Comptoirhaus. Im Gang, neben dem Plumps steht wieder sein Heitlerschrank. Und der hat gottseidank immer noch das Geheimfach, in dem Mops bis jetzt nur Fundmunition, einzelne Gewehr-, MG- und die lustig-winzigen Pistolenpatronen aufbewahrte.

Der Wohnungsschlüssel liegt unter der Fußmatte. Auf dem Küchentisch ein Zettel von Mutti: Sie wurde zu einem Patienten gerufen. Vati kommt sowieso nicht vor Abend von seinem Kontrollmarsch durch den Büschchener Forst, von wo er hoffentlich Pilze mitbringen wird. Womöglich viele Pfifferlinge, die Mops mag, sie knirschen, wenn man sie zerbeißt. Einstweilen aber benutzt Mops den Küchentisch für militärische Zwecke.

Für eine normale Armeepistole besäße er sicher ein, zwei passende Patronen. Oder er würde sich draußen welche suchen, sie liegen ja überall herum, stecken schon halb in der Erde. Die Schreckschusswaffe aber ist so konstruiert, dass das Schießen mit scharfer Munition ausgeschlossen ist: Visiert man durch den Lauf, sieht man in Mündungsnähe die kleine Eisennase ragen, die dem Geschoss den Weg versperrt.

Was tun, dass so ein Revolver trotzdem schießt?

Zum Glück erinnert sich Mops an Gauls altes Kinderlied:

 

Wer will unter die Soldaten,

der muss haben ein Gewehr,

das muss er mit Pulver laden

und mit einer Kugel schwer.

 

Eine einzige Patrone aus seiner Sammlung hat die richtige Dicke, passt genau in die Trommel. Mit der Kneifzange lockert er das stumpfnassige Geschoss und zieht es aus der Hülse. Die kleine runde Scheibe am Hülsenboden ist noch von keinem Schlagbolzen eingedellt, der Zünder also intakt.

Bei der Arbeit hat er etwas von den schwärzlichen Körnern verschüttet, welche die eigentliche Treibladung bilden. Er krümelt sie mit spitzen Fingern wieder in die Hülse und stellt fest, dass da noch viel mehr hineinpasst. Also köpft er zunächst noch zwei Gewehrpatronen. Dann lädt er die kleine Hülse in die Trommel und dreht, bis sie hinter dem Lauf liegt. Von oben, von der Mündung her, schüttet er nun den Pulverinhalt aus den großen Hülsen in den Lauf, bis der ziemlich voll ist. Mit Pulver hat er jetzt geladen, wie es im Lied heißt. Die "Kugel schwer" ist kein Problem mehr.

Er sucht sich aus seinem alten Bleisoldatenblei einen passenden Klumpen und steckt ihn in die Mündung, so gut es geht.

Vor Gauls Rasierspiegel übt er das Zielen. Peng, peng! Sein Auge fließt groß auseinander, desto größer, je weiter er den Spiegel vom Gesicht entfernt.

 

 

"Da muss der Junge allein durch", hat Vati noch einmal gesagt, eh er seinen Rucksack nahm. Diesmal nicht, um im Wald etawige Brände zu entdecken. Er will nicht eher wiederkommen, bis er Nachricht hat von Gaul. So oder so. Er besitzt die Berliner Adresse von einem Kameraden, einem Hauptmann, mit dem gemeinsam er die Jahre der Gefangenschaft im sowjetischen Bergwerk gearbeitet hat. Der Hauptmann kam mit den russischen Chefs ganz gut zurecht, war Mitglied in irgend so einem Komitee, das mit ihnen zusammenarbeitete, und soll jetzt in Ost-Berlin ein "hohes Viech" sein. Vielleicht kann er in Gauls Sache etwas erreichen.

Mops muss allein durch. Er hat jetzt den Revolver. Schon das zu wissen, gibt Kraft und Stärke. Leider ist nur ein Schuss drin, und er lässt die Waffe vorerst zuhause. Vorerst steckt er sich nur Gauls sanftes Ruhekissen in die Hose und schlüpft in die schweren Schuhe mit den Holzsohlen. Nicht nur Hartwig Russenstibbel kann feste zutreten.

Den Schulweg machen sie übrigens noch immer gemeinsam, und solange keine anderen Kinder in Sicht sind, ist Hartwig kein bisschen anders als früher.

"Warum hilfst du immer denen?" fragt Mops.

Hartwig zuckt die Achseln. Er weiß auch nicht, wie das kommt.

"Warum hast du mich mit dem Stiefel getreten?"

"Damit'ste endlich mal einen raten tust."

"Deswegen? Ehre?"

"Ehre!"

Hartwig hat den Spitznamen "Hartwig Russenstibbel" abgekriegt, aber das kratzt ihn nicht. Obwohl das fast klingt wie: "Luda Stoppelrusse". Den einen macht ein Name unglücklich, der andere sonnt sich in seinem Glanz.

"Wenn ich du wär, ich tät mich totstellen", rät Hartwig. Wie sie sich der Schule nähern, humpelt er stärker als zuvor in seinem Stiefel und kneift angeberisch ein Auge zu.

Heute wartet vor dem Schulhaus der Rädelsführer. Und er hat gleich die Großen von Zug zwo mit hinbestellt. Er lässt alle Jungen auf dem Hof antreten. Seine Unterlippe ist blau vom ewigen Tintenstift.

"Habe rumgehorcht", sagt er. "Und weiß, was im Dorf gequatscht wird. Jetzt machen wir ernst. Alle mitkommen, raus zur Grube!" Er bläst die hohlen Wangen auf: "Die Kriminaler sind schon am Ort: Man nennt das einen Lokaltermin: Stellt fest, wer von wo kam, wer wo gestanden hat bei der Tat, wer was gerufen hat."

Er macht auf dem Absatz kehrt und marschiert voran. Um seine Schultern schlottert sein ausgefranstes Jackett.

Wie eine Hammelherde trotten Büschchens Jungen hinterdrein. Mops schiebt sich in die hinterste Reihe, aber das versuchen auch andere. Schon beim Hamperloch, auf dem ein buntes Entenpaar schnattert, ist ein Grüppchen zurückgeblieben.

"Schinkenklopfen!", knurrt plötzlich jemand von den Großen, und schon liegt Mopsens Gesicht zwischen starken Händen wie zwischen einem Schraubstock, und die ersten Schläge prasseln.

"Der hat 'n Kissen drin", ruft wer, und Mops spürt, wie ihm das Koppel aufgehakt und die Hose heruntergezerrt wird. Plötzlich lockert sich der Schraubstock, der Festhalter ist zur Seite ge-sprungen. "Siehste das Wasser?" fragt jemand in seinem Rücken.

Mops will sich aufrichten, da kommt der Stoß.

Er hört noch das Aufklatschen auf die Wasserfläche, spürt dann den kalten, weichen Schlick zwischen den Fingern und im Gesicht. Versucht, sich hoch zu stützen, aber die Hände finden keinen Halt, wühlen sich nur tiefer, und er spürt entsetzt, wie ihm die Beine in den hölzernen Schuhen langsam nach oben wegschweben. Er steckt kopfüber im Schlamm, strampelt, Moddergeschmack brennt in Mund und Nase, er versucht zu brüllen...rtrink..., nur ein Glucksen kommt heraus, und die Hände wühlen, die Hände...

Etwas geschieht mit seinen Beinen. Die Schuhsohlen berühren Festes, ruckweise wird er aus dem Schlamm gezogen, rückwärts, er spürt den Sonnenschein auf der nackten Hinternhaut, endlich kann er selbst ins glitschige Ufergras greifen, einatmen. Japsend und spuckend stützt er sich hoch. Helga Bonkwitz und ein paar Mädchen. Sie helfen ihm beim Raufziehen der triefenden Hosen, ihre Jammerstimmen sind voll falschem Mitleid. Sie klemmen ihm sein Kissen unter den Arm.

Wie ein Blindgänger, wie damals der Blindgänger hab ich im Dreck gesteckt, denkt er, und "Blindgänger!" lästert auch schon eine hinter ihm her, und die Enten schnattern.

Er taumelt den Jungen nach, schlenkert, so gut es geht, den Modder von seinen Ärmeln.

Das Gelände vor dem Zugang zur Außenstelle ist jetzt gerodet und umgeackert, und Büschchens Bluteiche steht mitten in einem Feld, auf dem nächstes Jahr vielleicht Hafer wächst. Nur in der eigentlichen "Grube", der ehemaligen Sandgrube sind die Spuren des Krieges noch nicht beseitigt.

Das alte Maschinenhaus ist niedergebrannt bis herab auf die Grundmauern, niedergerissen sind die Baracken der Außenstelle, ein Haufen fauler Bretter, und die Männer, die zum freiwilligen Aufräumungskommando eingeteilt sind, sagen an anderen Tagen: Immer mit der Ruhe.

Doch im Moment herrscht beim Maschinenhaus allerhand Aufregung, Mops ist vergessen.

Die Kriminaler, zwei fremde Männer in Gummimänteln, sperren den kleinen Plattenweg zwischen den Sträuchern: "Nichts für Kinder, haut ab."

"Wir sind aber herbestellt!"

"Die Lage hat sich geändert. Ab in die Schule!"

Doch niemand weicht auch nur einen Schritt.

Neben einem Stapel verrußter Ziegel liegen auf den Resten einer Tür Kopf an Kopf, vollkommen schwarz, zwei Gerippe. Die Männer vom Aufräumungskommando, so ist zu hören, haben sie vor einer halben Stunde stückweise unter den Trümmern vorgezogen, und noch immer kommt jemand und bringt auf seiner Schaufel ein Stück Totes. Der  Rädelsführer nimmt es mit den bloßen Fingern vom Schaufelblatt und legt es nach kurzem Zögern zu dem einen oder zu dem anderen Skelett. Plötzlich polkt er da irgendwo etwas heraus und stößt einen zahnlosen Pfiff aus, der wie ein Zischen klingt.

Er hält etwas in der hohlen Hand. Steifbeinig kommt er näher, um es den Kriminalern zu zeigen. Die Jungen, die mit gereckten Hälsen herandrängen, beachtet er nicht.

Es sind drei oder vier Projektile, größer als aus einer Pistole, kleiner als aus einem Karabiner. Ganz verkrustet.

"Keine deutsche MPi, Genossen", sagt er. "Kaliber siebensechs-zwo."

"Was willst du damit sagen?" fragt der eine, zieht seinen Gummimantel aus und hängt ihn sich über die Schulter. "Viel warm", spricht er laut.

"Die deutsche MPi hat neun Millimeter", sagt der Rädelsführer und beißt seine Zahnleisten zusammen, dass sein Kinn greisenhaft kurz wird.

"Sei nicht stur mit deinen Millimetern", sagt der Kriminaler, nimmt die Geschosse und wirft sie ins Gesträuch.

Die Büschchener Männer mit ihren Schaufeln sind ohne Eile herangekommen.

"Kaliber siebensechszwo, dabei bleib ich, Genosse, und wenn du dich auf den Kopf stellst..."

"Halt lieber die Gusche, Mann", raunt der alte Geißler dem Rädelsführer zu und zieht seine hohe Schulter noch höher. "Es bringt nischt ein."

Auch Herr Bemmann in seiner vom Trümmerstaub bedeckten britischen Uniform sagt: "So was kann ich nicht glauben."

Der Rädelsführer blickt von einem zum anderen. Es gibt ein schmatzendes Geräusch, wie er endlich wieder den Mund auftut. "Was recht ist, muss Recht bleiben", nuschelt er und fährt plötzlich Mops an: "Wie siehst du aus! Mach, dass du heimkommst!"

In der Nacht ist das Comptoir erfüllt von Männerstimmen, und der starke Rauch von Rippenknaster liegt im ganzen Haus. Am Morgen steigt der Rädelsführer zu den Kriminalern in ihren schwarzen BMW, ein Köfferchen in der Hand.

Die Untersuchungen im Fall der Umsiedlerfamilie sind eingestellt. Mangels Beweisen. So steht es am Comptoirfenster zu lesen.

Büschchen erhält innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden einen neuen Bäcker, und das Comptoir wird zum Amtszimmer vom alten Geißler. So zieht die NEUE ORDN doch noch dort ein. Die NEUE ORDNUNG.

 

"Mach, dass bald Frieden wird und Sieg." Mops presst die Daumen aufeinander. Heitler ist da, Heitler lebt. Sein Auge schimmert kalt: 

"Sieg über wen?"

"Sie fallen alle über mich her. Was habe ich ihnen getan?"

"Du hast einen Hiwi bestraft, Justus Sallmann."

"Ich allein?"

"Ein gerechter Richter richtet immer allein."

"Die anderen haben mitgemacht. Darum können sie mich doch jetzt nicht..."

"Doch, sie können. Die anderen haben mitgemacht, ohne zu wissen, was sie taten. Du wusstest es."

"Ich habe in der Angst damals einfach zugedroschen."

"Angst?"

"Ja, Angst", gesteht Mops kleinlaut.

"Da haben wir es", spricht Heitler streng. "Immer fürchtest du dich. Jetzt wieder. Das spüren sie. Auf Blindgänger schießen sie sich ein. Du bist ein Blindgänger, Sälämi, und steckst im Dreck."

"Ich bin kein Blindgänger!"

"Ein Blindgänger mit einem Kissen in der Hose. Bist du etwa schon ein einziges Mal explodiert?"

"Ich kann doch nur einmal explodieren", jammert Mops.

"Und nun muss es sein. Danach bist du keiner mehr."

"Ja", flüstert Mops. "Ich muss stark sein. Und tapfer und treu."

 

An einem Novembernachmittag gibt es einen einzigen, trockenen Gewitterschlag. Die Leute heben die Köpfe, wundern sich über das seltene Naturereignis und wenden sich wieder ihrer Arbeit zu. Erst eine Stunde später sehen sie die Eiche brennen.

Büschchens Eiche brennt! Die Kirchenglocke läutet Alarm. Von den Feldern, aus Wohnhäusern, aus Scheunen und Ställen laufen sie hin, die Lohe steht hoch über der Grube. Jeder sieht es: Der Baum ist nicht zu retten. Der Blitz hat den mächtigen Stamm, den sieben Männer gerade umspannen konnten, der Länge nach gespalten. Nun zeigt sich, dass er längst morsch war, eine dicke Holzröhre, gefüllt mit faserigem braunem Mulm, der wie Zunder aufglimmt, sobald die Flamme hinfasst. In der Hitze knacken wie Schüsse die äußeren, noch lebenden Teile des Stammes, ein Rindenstück platzt ab und landet zu Mopsens Füßen.

Die Männer vom Aufräumungskommando stehen und stehen, auf ihre Schaufeln gestützt. Nein, da ist nichts mehr zu machen.

Und die Leute beginnen sich wieder zu verstreuen. Schütteln ernst die Köpfe: Die Eiche besaß doch sogar einen Blitzableiter! Das Ende von Büschchen ist nah, spricht die alte Mutter Kriwan.

Mops beobachtet den Bürgermeister Geißler, wie er mit einer Stange in den qualmenden Resten herumstochert.

Anderntags erzählt Adolf in der Schule: "Der Blitzableiterdraht war durchgesägt. Der dicke Draht. Dicht über der Erde."

Er redet hochdeutsch. Prompt wenden sich alle Augen Mops zu.

"Natürlich, ich hab den Draht zersägt", sagt Mops so spöttisch er kann, aber tief in seinem Innern sitzt der Schreck. Schon haben sie etwas Neues gegen ihn. Ihm fällt ein, dass er einmal eines Abends eine Gestalt sah, die sich an der Eiche verdächtig zu schaffen machte. Wie lange ist das her? Der Täter hat es schlau angestellt - er brauchte bloß Geduld. Hohe Bäume ziehen den Blitz auf sich. Irgendwann. Gestern war es dann so weit. Aber wenn er, Mops, das jetzt vorbringt, brüllen sie vor Lachen. Er sagt: "Ich hab gar keine Eisensäge."

"Die kann man klauen," feixt Affenzehe.

Frau Bemmann wischt gerade die Tafel ab. "Aber Kinder!", mischt sie sich in das Gespräch. "Nicht gar so voreilig. Fragen wir uns lieber: Wer hatte ein Interesse an unserer Eiche?"

"Der Baron?" fragt Helga Bonkwitz.

"Zum Beispiel. Und warum?"

"Der ist neidisch. Weil wir ihm die Felder weggenommen haben."

"Er will ganz Büschen anzünden!"

"Er will den Untergang von Büschchen!"

"Na schön", übertönt Frau Bemmann das Geschnatter. "Aber er ist doch gar nicht im Dorf, der Baron?"

"Er hat Helfer!"

"Helfershelfer!"

"Hmhm," macht sie. Und wer könnte das sein?"

"Sä-lä-mi!" tönt es im Chor.

"Aber, aber! Wir wollen doch nichts behaupten ohne Beweis?"

Hartwig ruft: "Die Brandwache hätte das Feuer rechtzeitig melden müssen. Aber die war zufällig auch gerade nicht da."

"Wer weiß, wo sie gesteckt hat!" kommt es von allen Seiten.

"Hehe, bei der ihrem Baron..."

 

Die Brandwache ist Vati.

Er kehrt erst Mitte Dezember zurück von seiner Reise. Ohne Nachricht von Gaul. Der Berliner Kamerad hat ihm die Adressen von Straflagern genannt, ihm sogar einen Propusk ausstellen lassen, einen Durchlassschein in russischer Sprache. Vati hat die Lager der Reihe nach abgeklappert, per Zug, auf Pferdewagen, streckenweise zu Fuß: In Brandenburg hat man ihn weggeschickt, in Fünfeichen ihm den Propusk abgenommen. In Buchenwald gar ist er verhört worden, wieso er dazu kommt, sich in Besatzungsangelegenheiten zu mischen.

Und nun muss die Brandwache vor dem neuen Bürgermeister für die Eiche geradestehen. Denn er hat die vierzehn Tage Urlaub, die ihm für seine Fahrt zugebilligt waren, weit überschritten. Und niemand im Dorf sagt mehr guten Tag zu ihm, nicht mal die nächsten Nachbarn.

 

Der Frost kommt. Weihnachten ist nah. Eines Morgens, lange, bevor es hell wird, zieht Mutti ihren Jungen warm an. Er erhält zwei ganze Schnitten zum Frühstück und für unterwegs noch fünf zusammengeklappte, dick mit Zucker bestreut. Nicht den Ranzen huckt er auf, sondern einen handgenähten, stramm gepackten Rucksack. Vati ergreift ebenfalls wieder seinen Rucksack. Dazu den alten Luftschutzkoffer.

Nach Hause geht's. An den Rhein. Vielleicht wird Mops bald Rodolf wiedersehen und Rostecks Karl.

Mutti nimmt die Kerze vom Tisch und leuchtet ihnen treppab. Mops läuft noch einmal zurück. Er muss ganz plötzlich dringend zum Plumps. Die Eltern warten im dunklen Morgen auf ihn.

"Adieu!" Mutti küsst ihre Männer.

Vater und Sohn reisen als Quartiermacher. Sobald eine Bleibe gefunden ist, wird Mutti folgen. "Alle Vögel sind schon da", lautet der vereinbarte Brieftext, dann will sie eine Möbelfuhre auftreiben und die notwendigen Papiere.

Seit Wochen hat sie Mehl, Eier, Quark und was sie sonst bei Krankenbesuchen zugesteckt bekam, gegen Zucker eingetauscht, nur immer gegen Zucker. Mops wurde in dem Glauben gelassen, der viele Zucker sei für die Weihnachtsbäckerei bestimmt.

Das erste Tütchen mit den süßen braunen Kristallen ist schon hinter dem Fensterchen vom Fahrkartenschalter verschwunden. Die Reichsmark ist nur etwas wert in Verbindung mit Naturalien.

Und Zucker ist wie Gold.

Das zweite Tütchen verwandelt sich in eine Übernachtung im gutgeheizten Bahner-Dienstraum, einer Bretterbude auf einem Dresdener Bahnsteig.

Das dritte Tütchen bewirkt, dass der „Rotmützige“ Sallmanns Gepäck und Mops durch ein glasloses Fenster in den Zug nach Leipzig hebt. Vati muss draußen bleiben, er ergattert bloß noch einen Trittbrettplatz.

Das vierte Tütchen wird rasch noch eingetauscht gegen einen Kopfschützer aus Zellwolle. Der flattert die ganze Fahrt über auf Vatis Stirn. Auf seinen geschlossenen, rötlichen Wimpern wächst jedes Mal von einer Station zur anderen Reif.

Anschluss nach der Stadt Nordhausen haben sie am nächsten Tag. Ohne das fünfte Tütchen Zucker zu brauchen. Das benötigen sie erst auf dem Bahnhofsvorplatz in Nordhausen, wo der Motor eines Autobusses brummt. Oh Wunder der Weihnacht, der Bus fährt direkt in ein Dorf an der Demarkationslinie. So heißt die Grenze zwischen der russischen und den westlichen Zonen.

Im Bus: Zucker gegen Brot und ein ansehnliches Stück Speck. Geschaukel durch eine fremde Nacht. Baumzweige schurren über Koffer und Bündel, die auf dem Verdeck festgeschnürt sind. Zwei dick vermummte Dorfleute, die sich leise in einem singenden Hochdeutsch unterhalten, haben beim Aussteigen einen sonderbaren Blick für die Weiterfahrenden. Mops und Vati erwischen die beiden angewärmten Sitzplätze.

Der Mond wandert mit, und mehrmals, wenn es bergauf geht, leuchtet er groß und weiß wie ein leerer Suppenteller über dem schwarzen Wald der Harzberge. Es ist bitterkalt.

"Kein Schnee", sagt jemand. "Die Russen sehen einen nicht. Und wenn du durch den Bach bist, hast du's geschafft, nach drüben ballern sie nicht."

"Müssen wir durch den Bach, Vati?" flüstert Mops dicht an der Wange seines Vaters. Noch nie, seit der aus dem Krieg zurück ist, hat Mops so nah bei ihm gesessen. Er sieht im Mondlicht den rötlichen Schimmer der väterlichen Bartstoppeln.

"Heimweh nach Büschchen, was?" Der Vater lacht unfroh.

"Vati, war es im Krieg schlimm?"

"War es, mein Sohn."

"Stimmt's, die Russen zünden Kirchen an?"

"Wie kommst du auf so was? Die Büschchener Kirche haben sie nicht angezündet."

"Aber im Krieg. Du hast es doch im Brief selbst geschrieben."

"Ich soll das geschrieben haben?"

"Einmal, Weihnachten..."

Der Vater schweigt. Er muss sich wohl erst erinnern. Endlich setzt er zum Sprechen an, und Mops sieht, dass es ihm schwerfällt.

"Das waren nicht die Russen. Die SS hat die Kirche angezündet. Und in ihr waren Menschen eingesperrt, ein ganzes Dorf. Sie sind verbrannt."

"Sie sind... lebendig verbrannt?"

"Lebendig, mein Sohn. Männer, Frauen, Kinder."

"Aber warum..."

"So was ist nicht nur einmal vorgekommen. Es wurde wohl bei einem der Bewohner eine Waffe entdeckt."

"Eine Pistole?"

"Was weiß ich, Junge. Das ist lange her."

Der Bus schleudert. Ein Ruck. Er steht.

"Scheiße", sagt der Fahrer.

Taschenlampen. Matt schimmernd, die durchbrochenen Metallmäntel von MPi-Läufen.

"Dawai!"

Der Fahrer wirft das Gepäck vom Dach. Hastig sammelt jeder ein, was ihm gehört, ohne weiteren Befehl, fast eilfertig formt sich eine Art Marschordnung, keiner beschwert sich. Offensichtlich ist kein Einheimischer mehr unter den Reisenden, alle wollten über die Grenze. Ein knapper Wink, es geht einen Feldweg hinaus zu einem einzelstehenden Gebäude. Eine Feldscheune. Die Torflügel werden aufgezogen. Der Geruch nach Heu, aber in der Banse lagern nur Reste. Im Hintergrund aber, auf der Tenne aus gestampftem Lehm, sitzen bereits ungefähr dreißig Leute mit Sack und Pack. An einem Balken blakt eine Stalllaterne.

"E ren en de jode Stuff, tätä, tätä", spaßt eine gemütliche Stimme. Der Mann, zu dem sie gehört, hat einen Schlapphut auf. Er hockt mit anderen bei einem qualmenden Kanonenofen und hält einen Lederkoffer auf seinen Knien. Gerade teilt er Skatkarten aus.

"Sag ens Bloodwoosch", sagt Vati zu ihm.

"Flöns", kommt es prompt. So erkennen sich Kölner. Der Angesprochene schaut hoch. "Meier", sagt er. "Angenehm." Vati sagt: "Sallmann." 

"Do kratz mech doch en Aap! Nun weed et Weihnachte! Es dat dr Jung?"

Mops gibt die Hand. Herrn Meiers Gesicht ist kaum verändert, nur die Wangen sind jetzt von Äderchen durchzogen. Die Skatrunde wird aufgehoben, Sallmanns rücken samt ihren Rucksäcken mit an den Ofen.

Herr Meier ist der Mittelpunkt der Runde. Jetzt öffnet er spaltbreit sein Köfferchen und zieht eine Flasche hervor. Zur Feier des Wiedersehens. Mops, der tiefer sitzt als die Erwachsenen, sieht: Im Koffer sind noch mehr Flaschen.

Herr Meier hat auch einen Korkenzieher dabei. Die Flasche geht herum. Die Welt ist doch ein Dorf! Auch Mops nippt, schluckt und sagt mannhaft: "Wat e jod Bubbelwasser!"

"Dä Jung es rechtich!"

Herr Meier wechselt öfter die Zonen. Hier ist der Schnaps billiger, da die Zigaretten, dort wieder der Süßstoff. Das Leben muss weitergehen. Er rechnet jedes Mal mit dem Geschnapptwerden. Nur jammerschade, dass der gute Klare in seinem Koffer jetzt dem Iwan in die Hände fällt. Da macht er lieber gleich noch en Fläsch op. Weil Chressfess ist.

Jemand spendiert eine Christfestkerze, auch er wird in die Ofenrunde eingeladen, und Zigaretten werden angeboten. Bald ist es in der Scheune richtig gemütlich, fast weihnachtlich. Brot und Speck werden geschnitten, ja, man wird dem Iwan doch nichts in den Rachen werfen. Die schönen alten Weihnachtslieder, wie nur wir Deutschen sie haben, erklingen auf einer Mundharmonika. Mops wünscht sich "Käse zum Bahnhof".

"Der Junge ist richtig, heißt es wieder, und mit plötzlicher Lustigkeit fällt der Chor ein:

 

"Wer hat denn den Kä-se

zum Bahn-hof ge-rollt,

das ist ei-ne Frech-heit,

er waaar noch nicht ver-zollt."

 

Nur Vati singt nicht mit. Nachdenklich zieht er an seiner Zigarette.

Ein junger Posten steckt den Kopf zur Tür herein. Schnuppert, sein Gesicht glänzt auf, er ruft einen Kameraden. Der Lederkoffer wird beschlagnahmt.

Die kurze Feststimmung schlägt um in Zorn.

"Der Tag wird kommen", droht Herr Meier.

Mops aber fühlt, wie die Spucke unter seiner Zunge versiegt. Die ganze Zeit hat er heiter getan, damit niemand seine Nervo-sität bemerkt. Er sitzt auf seinem Rucksack wie auf glühenden Kohlen. Wenn sie nun auch sein Gepäck beschlagnahmen? Er hat beim Aufbruch in Büschchen rasch seinen Revolver zwischen die Wäsche geschoben. Als er angeblich noch einmal zum Plumps musste.

"Wie geht es Rostecks Karl", erkundigt er sich bei seinem früheren Luftschutzwart und strengt sich an, dass die Frage beiläufig klingt.

"Wat?" fragt Herr Meier.

"Rostecks Karl!"

Herr Meier hat immer noch nicht verstanden. Aber er muss ihn doch noch kennen, seinen Melder?

Das rote Gesicht von Herrn Meier ist auf einmal verwandelt. Unter den schlaffen Lidern schauen die Augen eines ältlichen, kranken Mannes hervor. "Dr Rosteck Karl", erinnert er sich endlich, und jedes Wort dringt einzeln aus seinem speichelfeuchten Mund, "dä wood zuletz en dr Hüttenstroß jesinn. Letzten Herbst noch."

"Wieso gerade in der Hüttenstraße", wundert sich auch Vati.

"Ehr wesst doch üvverhaup nix."

"Was wissen wir nicht?"

"Sujar Schullklasse woode henjeföhrt. Sei musste zolore. Et hieß, Edelwießpirate, jedenfalls sechs jröne Kälche dobei, dr Rest Ostarbeider, zesamme en Dutzend." Das letzte kommt im Flüsterton. Herr Meier hockt in sich versunken, die zerknitterten Lider geschlossen. Der Schatten seiner großen Knurpelnase schwankt im Licht der niederbrennenden Kerze.

Irgendwo im Dunklen hat jemand auch schon von den Edelweißpiraten munkeln gehört: Nach außen stramm HJ, aber sie klauten Esswaren, auch Marken, überfielen Läden, um Juden oder Russen zu versorgen.

"Sie werden wohl auch Selbstversorger gewesen sein", lacht unangenehm eine spitznasige Frau in hohem Turban. Da rührt sich Herr Meier noch einmal:

"Dr huhjeschossene Rosteck Karl. De Fööß kene zehn Zentimeter üvver däm Flaster. Dat han mer nit jewollt."

Ein grauer Faden kräuselt sich über dem Kerzendocht, der nun umkippt und im Stearin verlischt. Und seltsam, die Runde ist unmerklich auseinandergerückt, obwohl der Ofen noch wärmt. Der Rauch verglimmender Kistenbretter steigt noch immer aus dem Rohrstutzen hinauf unter das breit aufgerissene Scheunendach, durch das die Sterne hereinscheinen. Ich bin zehn Jahre alt, denkt Mops, ich bin heute zehn Jahre alt. Ab heute bin ich beim Jungvolk, und ich habe einen Revolver im Rucksack.

 

Es brennt. Die Wände, das Dach. Glühende Heunester fliegen umher und entzünden weitere Reste von trockenem Material, die auflodern und sich ebenfalls in die Luft erheben. Jetzt erfassen die Flammen auch den Stützbalken der Banse, wo noch immer die Stalllaterne vor sich hinblakt, friedlich, als ginge sie das andere Feuer nichts an.

Herr Meier, Vati und andere Männer haben eine Wagendeichsel aufgehoben und rennen damit gegen das Tor an, das bereits länger brennen muss, denn die Bretter sind stellenweise schwarz verkohlt. Die Deichsel schafft den Durchbruch, groß genug für einen Menschen, aber wie Herr Meier hinausklettert, rattert draußen eine MPi los, Mops sieht den massigen Mann aufs Gesicht fallen.

Das eigene Gesicht mit dem Rucksack vor der Hitze schützend, flüchtet er irgendwohin ins Dunkle, wo es noch nicht brennt. "Hierher, Vati", ruft er, aber er hört die eigene Stimme nicht. Stolpert. Undeutlich erkennt er Leitersprossen, er wirft sich den Rucksack auf die Schulter und steigt ins Ungewisse. Er steigt und steigt, da ist seitlich eine Lukentür, die Hand ertastet den Riegel. Es gelingt ihm, ihn aufzuschieben. Beißende Kälte springt ihn an, er friert augenblicklich am ganzen Körper. Er kriegt das Bein über den Rand, stemmt sich hoch, zieht das andere Bein nach und sitzt auf einem Balken, schon halb im Freien.

Schräg unter ihm stehen breitbeinig die beiden russischen Posten, die Waffen auf das brennende Tor gerichtet. Sie haben ihn nicht bemerkt. Er zerrt seinen Rucksack von der Schulter, mit klammen Fingern öffnet er die Verschnürung, hält seinen Revolver in der Hand. Er entsichert, zielt, indem er den Lauf auf den linken Unterarm legt.

Der eine Russe greift sich ans Herz, der anderen stutzt, wirft die Arme hoch und rennt ins Dunkle davon, hakenschlagend wie ein Hase...

 

Am Morgen steht die Scheune noch und ist nicht mal angekokelt. Nach flüchtiger Gepäckdurchsuchung, bei welcher die verbliebenen Zuckertütchen in russische Hand übergehen, und bei der die Posten auf die Kontrolle von Mopsens Kinderrucksack verzichten, am späten Morgen werden alle Gefangenen ins Dorf geführt und dürfen an einer Hofpumpe trinken und sich waschen. Dann erfolgt Aufteilung in zwei Gruppen. Die westlichen Deutschen marschieren Richtung Westen, Herr Meier kennt das schon, er ruft muntere Abschiedsratschläge herüber: Keinen Bus benutzen! Am günstigsten sind die frühen Morgenstunden! Da sind die Genossen noch besoffen! Man trifft sich also in den nächsten Tagen wieder. In der Heimat!

Für die Ostleute zeigt der Wegweiser zurück nach Nordhausen. An Straßenkreuzungen stoßen neue Kolonnen von geschnappten Grenzgängern zu ihnen. Irgendwann wechselt die Bewachung. Die Männer in den dunkelblauen Uniformen und roten Armbinden tragen Karabiner, man kann von ihnen knappe Auskünfte bekommen, es sind Deutsche.

In der Gepäckaufbewahrung des Nordhäuser Bahnhofs ist die Auffangstelle eingerichtet. Wieder heißt es warten, gegen den Hunger gibt es das Mittel: Spucke herunterschlucken. Endlich wird der Name Sallmann aufgerufen. Am Schreibtisch, vor sich eine Tasse mit dampfendem Getränk, sitzt der Rädelsführer. Er nickt, als hätte er nur darauf gewartet, sie hier zu sehen.

Auch er in blauer Uniform, spärlich geflochtenes Silber auf den dürren Schultern. Er scheint jünger geworden. Statt einer Begrüßung nimmt er ein Kunstgebiss kurz aus dem Mund, steckt es wieder zurück und sagt leicht lispelnd: "Wir haben wieder Zähne."

Grimmig erkundigt er sich nach dem Dorf. Vati meldet den Brand der Eiche. Da kommt ein tiefes, ein inniges Lächeln in die Augen des Rädelsführers. Aufgeräumt fragt er nach der Wirkung des Feuers auf die Büschchener Ochsen.

"Sie denken, es waren Leute vom Baron" , berichtet Vati. Der Rädelsführer nickt auch jetzt wieder, als hätte er genau das erwartet.

Vati sagt: "Sie haben uns im Verdacht, Sallmanns."

Der Rädelsführer blickt überrascht. Erkundig sich bei Mops, wie es ihm in der Schule geht. Mops berichtet die Wahrheit. Der Mann hört mit gesenktem Blick zu und sagt schließlich:

"Ihr werdet es also wieder versuchen."

"Bitte?"

 "Übern Harz."

"Nein, nein", versichert Vati eilig.

Der Rädelsführer schraubt einen Füllfederhalter auf und macht sich eine Notiz: "Im Wiederholungsfall... Ich rate euch nicht, es abends zu probieren. Die sowjetischen Genossen haben Nachtaugen. Wie die Eulen. Ab durch die Mitte!"

Sie sitzen im Gewühl der Schalterhalle. Jeder auf einer Kofferecke.

"Vati, ich hab Hunger."

"Ach. Und ich kaum noch Geld und keinen Zucker mehr."

"Vati? So ein Zufall, dass wir gleich zwei Bekannte getroffen haben."

Vati sagt erst lange nichts. Dann: "Brennt des Schinderhannes Haus, läuft das ganze Dorf hinaus. Das war schon immer so. Vielleicht hat uns das Schicksal mit dem Zaunspfahl gewinkt. Der Rädelsführer hat mir besser gefallen als Herr Meier."

Und er geht und stellt sich bei der Fahrkartenschlange an. Und bekommt, was er verlangt, ohne Zucker.

Es wird noch einmal wärmer. Ein mildtätiger Mitreisender rückt ohne Gegenleistung einen großen Kanten Brot heraus. Und Vati angelt aus tiefsten Tiefen seines Joppenfutters seine eiserne Reserve Selbstgedrehte aus echtem Tabak. Er tauscht sie gegen eine Tüte Walnüsse.

Am Neujahrstag treffen sie in Büschchen ein. Mutti, mit dem Reisigbesen, erledigt gerade die Straßenordnung vor dem Comptoirhaus. "Alle Vögel sind schon da", singt Mops.

 

Wenn die Not am größten ist, ist Gott am nächsten, sagt Mutti jetzt manchmal.

Nachricht von Gaul. Geschrieben hat seine Geschiedene, die eigentlich Mopsens Stiefoma wäre, und von der sonst kaum die Rede war in der Familie. Gaul ist bei ihr in der französischen Zone. Er wurde aus unerfindlichen Gründen an die Franzosen ausgeliefert und von denen dann freigelassen. Sie teilt mit, dass er voller Lebenswillen ist und selbst schreiben wird, sobald er zu Kräften kommt. Auf jeden Fall wird sein Fuß die russische Zone nicht wieder betreten.

Der Brief kommt im Frühling.

Alle in der Familie sind am Leben. Wie schön wäre jetzt alles, wenn der Krieg nicht gekommen wäre. Mops rechnet: Der Führer könnte am zwanzigsten April, umjubelt von seinem treuen Volk, seinen sechsundfünfzigsten Geburtstag feiern.

Churchill, Generalissimus Stalin, der amerikanische Präsident Truman kämen mit Geschenken, ähnlich den drei Königen aus dem Morgenland, niemand hätte fremdes Gebiet besetzt und Deutschland mit einer Demarkationslinie geteilt. Hermann Göring, der Doktor Goebbels, alle würden die Gläser klingen lassen und "Heil!"! rufen.

Wenn die Not am größten ist, ist Gott am nächsten, sagt Mutti.

Vati hat zusätzlich den Rädelsführer im Verdacht. Dass der von fern noch einmal die Fäden zog. Nicht in Gauls Angelegenheit, das nicht. Aber wieso kündigt gerade jetzt ein Amtsschreiben dem Bürgermeister Geißler einen neuen Schullehrer an? Wieso stammt der Lehrer samt Familie gerade aus der Nordhäuser Gegend? Wieso wird in dem Schreiben dringend ein Wohnungstausch mit Familie Sallmann empfohlen, ausgerechnet mit Sallmanns?

Über das letzte wundert sich der alte Geißler sehr.

Sie werden wegziehen aus Büschchen. Der Abschiedstag in der Schule bricht an: Eine große Schlussabreibung für Sälämi wurde beizeiten angedroht. Mops überprüft seinen Revolver. Einen Schuss hat er, das Pulver ist trocken. Griffbereit steckt die Waffe zwischen Lesebuch und Heft.

An diesem letzten Tag aber beachten sie ihn nicht, haben alles Interesse an ihm verloren, als wäre er schon fort. Sie haben sich Hartwig vorgeknöpft, und die Weiber schreien, der ist gar nicht tot, der stellt sich bloß.

Das war im Juli.

 

Auf einmal ist er Justi.

 

Die neue Heimat heißt Wiedrungen. Ein Schloss oder ein Comptoirhaus hat es nicht. Das Haus heißt einfach Nummer hundertsechs.

Beim Abladen vom dem wehrmachtsgrauen Opel-Blitz-LKW zeigt sich der ganze Schaden an Mopsens Schrank. Die Türen hängen schief, und der Fahrer reißt sie ohne weiteres ganz aus den Scharnieren und rät: "Maschendraht vor, die Beine mit Brettern umkleiden, vorn auch Maschendraht, dann habt ihr den feinsten Hasenstall von ganz Wiedrungen, Doppelstock." Und, o Glück, er hat eine Häsin zu vergeben, nicht mehr ganz jung. Bedingung, wenn sie Junge bekommt, füttern Sallmanns ihm eins mit groß.

 Der Schrank wird in den Winkel hinter dem Holzschuppen getragen. Mops gelingt es rechtzeitig, für den Tag der Umbauarbeit seinen Revolver an sich zu nehmen. Danach legt er ihn wieder an seinen angestammten Platz.

Sallmanns richten sich in der Wohnung ein. Mops schläft künftig in der Kammer, hinter dem Vorhang unter der schrägen Wand. Vom Fenster aus kann er jederzeit auf das geteerte Schuppendach klettern. Und von da aus die Häsin besuchen...

Sie ist braun, mit sanftem Bernsteinblick.

Bald werden Sallmanns nicht mehr hungern.

Vati wird ab jetzt die Lebensmittel-Schwerstarbeiterkarte be-ziehen, dazu verschiedene Sonderrationen: Er soll wieder im Bergwerk arbeiten. Als Markscheider, so heißt der Landvermesserberuf untertage.

Vatis Bergwerk liegt nicht so weit weg wie sein voriges, das im Ural. Nur im Erzgebirge.

"Was gibt es dort für Bergwerke, Vati?"

"Alte Silberstollen, in denen man jetzt Wismut fördert."

"Was ist Wismut?"

"Man macht Hautsalbe draus, glaube ich", meint Mutti und saugt an der kalten Pfeife. Sie und Vati haben einander versprochen, sich das Rauchen abzugewöhnen. Mops übernimmt die Pflicht, für das Kaninchen zu sorgen. Sie sitzen den letzten Abend um den Tisch, zwischen ihnen sitzt ein neuer Abschied.

Schon nach acht Tagen ist Vati das erstemal wieder daheim. Und wie zur Feier des Tages ist auch Elektrizität da. Unter dem fröhlichen Licht der Glühbirne packt er seinen Rucksack aus: Graupen, Speck, Zucker, eine Flasche "Bergmannstot". In einem Tütchen findet sich auch eine Handvoll schwärzlicher Bröckchen und Krümel mit mattglänzenden Bruchflächen. Mops kostet vorsichtig. "Kandis ist es nicht", stellt er enttäuscht fest.

"Pechblende", sagt Vati, "die lutsch mal lieber nicht. Das Zeugs scharren wir dort aus der Erde!"

Mutti bezweifelt, ob sich aus dem schwarzen Zeug Hautsalbe herstellen lässt.

Vati hat sich eine Zigarette angezündet, atmet tief durch und schlägt die Zeitung auf: "Hier steht von neuen Atombombenversuchen der Amerikaner. Bei uns munkeln sie, die Russen haben mit der Pechblende was ganz Ähnliches vor."

"Eine Bombe aus Pechblende?" fragt Mops.

"Geht die Kriegsspielerei wieder los", meint Mutti.

 

Den Jungen auf der Straße geht Mops aus dem Weg. Schon spürt er, wie sie ihn von fern belauern. Ein für allemal wird er ihnen die Lust nehmen, sich mit ihm einzulassen. Nach dem Ende der Ferien muss sich sein Leben entscheiden: So oder so. Er bereitet sich auf den ersten Tag in der neuen Schule vor.

Er trainiert wieder seine geballte Faust: Zähne zusammen, Schlag um Schlag, gegen die Schuppentür, gegen den Hasenstall. Schon längst kommt kein Blut mehr, rauhe, rissige Hufschicht überkrustet die Knöchel.

Die künftige Hauptkampfzone hat er im mehrmaligen Vorbeischlendern ausgekundschaftet. Das Schulgebäude besitzt vier Klassenzimmer, es gibt auch eine Treppe, die offenbar zu einem zweiten Ausgang führt. Im Hof stehen Mülltonnen, hinter denen man sich zur Not ein Weilchen halten kann. Aber so weit wird er es nicht kommen lassen.

In der letzten Nacht fiebert er leicht. Früh, bei der Mehlsuppe beobachtet er Sorgenfunken in den Augen seiner Mutter, als er nicht aufisst.

Die braune Häsin wackelt mit der Nase und niest, als er sie an der Revolvermündung riechen lässt. Erschrocken stellt er fest, dass ein Teil des Schießpulvers herausrieselt. Der Bleiklumpen, der den Lauf verschließen sollte, sitzt nicht fest genug. Was tun? Mops läuft noch einmal nach oben, kann unbemerkt das Tütchen mit Vatis Pechblende entwenden. Er zerreibt das schwarze Mineral zwischen zwei Steinen zu Pulver. Ist es gut für eine Atombombe, ist es auch gut für seinen Revolver. Er füllt den Lauf wieder auf und keilt den Bleiklumpen ganz fest in die Mündung.

Den Ranzen auf der linken Schulter, schreitet er möglichst langsam den neuen Schulweg ab. Heute gilt es, so spät wie möglich einzutreffen.

Der Lehrer steht bereits in der Tür mit der Aufschrift KLASSE 5, HERR SCHULTZE. "Wir warten schon", sagt er.

Eine ganze Klasse bloß Fünfer, breite, rote Gesichter, Mädchen, groß wie Tannen. Sie stehen in Reih und Glied, der Lehrer führt Mops zu dem freien Platz in der vordersten Klappbank der Fensterreihe.

"Schöne Ferien gehabt, ja?" fragt der Lehrer und stellt den Neuen vor. Er soll seinen Namen selber sagen.

Den Namen, mit dem Mops gestraft ist, den sie sicher wieder verdehen möchten, Sallmann, Salomon, Sälämi, womöglich Saumann.

"Justus Sall-mann", spricht er mit entschlossener Betonung und spürt, wie ihm ein Schweißtropfen die Rippen hinunterläuft. Noch hält die Klasse ihr Hohngeschrei zurück. Er hört nur hier und da die geflüsterte Wiederholung seines Namens. Eine neue, bisher unbekannte Tücke liegt in dieser Stille. O, wie wird er auf der Hut sein müssen nach dieser Stunde!

"Willst du nicht die Jacke ausziehen?" fragt der Lehrer. Mops schüttelt heftig den Kopf. Die Jacke ist eine Wetterjacke, von der Stiefoma Gaul geschickt, die rechte Seite hängt schwer herab.

"Wie du meinst", sagt der Lehrer. "Und nun setz dich. Unser heutiges Thema: Die Silbentrennung." Er schreibt an die Tafel:

  

   Auf Nachbars Weide grast die Herde.

   Ich hole mir BLUMENTOPFERDE.

 

"Wer setzt im letzten Wort einmal die Abtrennstriche? Kurtl?"

Der Angesprochene in der Nachbarbank steht auf, grinst, will aber nicht zur Tafel. Er ist groß und breitschultrig, vielleicht ein wenig schwerfällig. Der Lehrer lächelt ebenfalls freundlich.

"Roland, du?"

Der jetzt Aufgerufene sitzt irgendwo hinten, Mops gibt sich den Befehl, auf keinen Fall den Kopf zu wenden. Dieser Roland möchte ebenfalls nicht nach vorn, und aus der Stimme allein vermag Mops keine Schlüsse über seine Körperkraft und Wendigkeit zu ziehen.

"Rosi?"

"Was sollen denn das für Pferde sein?", fragt eine helle, fre-che Mädchenstimme.

"Das ist eben die Frage", meint der Lehrer. "Vielleicht hilft uns der Neue?"

Mops aber wird sich hüten, die richtige Antwort zu geben. Nämlich, dass es sich nicht um Pferde, sondern um Erde handelt. Wenn ihn der Lehrer jetzt loben würde, das weiß er, hätte er vor der Klasse ein für allemal verspielt. Dann nennen sie ihn Blumentopf.

Mops hört nicht weiter hin. Er konzentriert sich auf die mög-lichen Ereignisse der kommenden Pause, und der Schweiß läuft über seine Rippen. Er weiß, sogar von hinten sieht man seine runden Mopswangen. Er beißt die Zähne aufeinander, damit sie hart und kantig wirken.

Die Klingel schreckt ihn auf.

Der Lehrer hat seiner Schnittendose eine Brotscheibe entnommen und den Raum verlassen. Mops lehnt sich an die grüngestrichene Wand zwischen zwei Fenstern, seine Schulterblätter spüren die Kühle des Mauerwerks. Ohne selbst auch nur die Augäpfel zu bewegen, registriert er Bewegungen, Zusammenballungen, Anzeichen zur Vorbereitung des Angriffs. Wer wird der erste sein?

Der Klobige, den sie Kurtl nennen? Oder der kleine Drahtige, der gewiss ebenso wendig und flink ist wie Affenzehe?

Mops wird tief halten, in die Beine, nur in die Beine.

Es ist ein Mädchen, das sich aus einem der Grüppchen löst. So eine Aschblonde, mit einem geflochtenen Haarkranz, sie tut, als wollte sie um die Sitzreihe herumschlendern, schwingt sich jedoch plötzlich zwischen zwei Bänken durch und befindet sich nun im Fenstergang. Sie spielt die Gleichgültige, pfeift ein bisschen. Das Geschnatter der anderen ist verstummt. Mops schiebt die Hand in die Tasche. Die Aschblonde nähert sich von der Seite, noch immer ohne Eile, so, als müsste sie rein zufällig in dem engen Gang an ihm vorbei. Ihn kann sie nicht täuschen. Plötzlich, direkt vor ihm, macht sie eine Drehung und schwingt sich rücklings auf das Fensterbrett.

"Na, du", sagt sie. "Ich heiße Rosi."

 

Längst ist das Problem der BLUMENTOPFERDE geklärt, Mops sitzt jetzt neben Roland, dem er beim Lesen helfen soll. Tatsächlich, Mops zählt zu den guten Lesern. Als Roland seine erste Drei in Lesen bekam, hat er seine Leberwurstschnitte mit Mops geteilt.

Der Unterricht besteht aber nicht nur aus Lesen, Schreiben, Rechnen. Herr Schultze ist leicht abzulenken. Zuständig dafür ist Rosi, die Tannenschlanke mit dem aschblonden Zopfkranz, der hell aufglänzt, wenn die Sonne darauf scheint. Ihr kann der Lehrer schwer etwas abschlagen.

"Herr Schultze, von wem stammt der Mensch?"

Sie ist auf das Fach Schwatzstunde aus, das Fach, in dem man einfach über alles reden kann, Elektrizität in der Lampe, Kälber mit zwei Köpfen, Lakritzstangen, die es früher gab, die aus Pferdeblut gemacht waren, Gott, Amerika.

"Von seinen Eltern", antwortet Herr Schultze und zündet sich eine Zigarette an.

Roland schnuppert: "Amerikanische!"

"Und die Eltern?" bohrt Rosi.

"Von den Großeltern."

"Und die?"

"Von den Ur - "

"Wissen wir: Ur-ur-urgroßeltern. Und die?"

"Von den Affen."

Jetzt hat sie ihn. Er sagt tatsächlich: Von den Affen. Sie hat es der Klasse schon prophezeit, dass diese gottlose Antwort zu erwarten ist. Das nun wieder weiß sie vom Wiedrunger Herrn Pastor, in dessen großem Haushalt sie täglich die Grünpflanzen gießt.

"Es ist aber bekannt, die ersten Menschen waren Adam und Eva!"

"Jawohl!" unterstützt Mops sie. Und dann kamen erst mal die Teutonen!"

Herr Schultze entblößt komisch stöhnend die gelben Raucherzähne: "Ich krieg noch Aggregatzustände mit euch Äsern. Habt ihr mich wieder abgelenkt."

Aggregatzustände ist ein Lieblingswort von ihm. Das bedeutet, er möchte sich am liebsten in Wasser oder Luft verwandeln, um hier nicht weiter gelöchert und genervt zu werden.

Ein anderes Mal fragt Rosi, ob es stimmt, dass die Kinder im nächsten Jahr in der Schule russisch sprechen sollen.

"Ja, es stimmt."

"Wir werden keine Russen, Herr Schultze!"

"Aha."

"Wir sind Deutsche."

"Darauf müssen wir nicht stolz sein."

"Wie, was, nicht stolz?" ruft es voller Verblüffung durch-einander. Herr Schutze fasst sich an den Kopf.

"Ich krieg noch Aggregatzustände!"

Sein Spottlächeln aber ist verschwunden: "Hätten wir Deutschen in der Welt was zu sagen gekriegt, wäre jeder von euch in ein paar Jahren ein Totschläger und Mordbrenner." Er klappt seine Aktentasche auf, in der neben der Schnittendose nichts weiter liegt als eine Zeitung. Die faltet er auseinander und liest daraus vor. Nahe bei dem ehemaligen STALAG dreihundertvier bei der Stadt Zeithain hat man Massengräber entdeckt. Tausende gefesselter Toter. Kriegsgefangene.

"Mein Opa wurde von den Russen abgeholt", sagt Mops.

Herr Schultze schreibt einen Brief an Mutti. Mops erfährt nicht, was darin steht. Nur, dass sie darin als erstes mal zwei Rechtschreibfehler entdeckt hat. Sie findet, diese  Neulehrer von Moskaus Gnaden haben nicht viel gelernt.

Und was den Schülern heutezutage noch in der Freizeit zugemutet wird! Am Nachmittag! Dauernd gibt es etwas Neues.

 

Mäuseausgießen, was ist das nun wieder. Herr Schultze wirbt in der Schule, rennt sogar von Haus zu Haus und ruft zum Mäuseausgießen auf. Die Ernte ist in Gefahr: Abermillionen Wühlmäuse untergraben die Volksernährung, vermehren sich, Mäusekompanien, Mäuseregimenter, Mäusebrigaden. Für jede abgelieferte Maus zahlt die Gemeinde einen Reichspfennig. Herr Schultze hat auf einer Liste Zweiergruppen zusammengestellt, sie heißen Kollektive, nur Jungen, denn die Wühlmausbekämpfung ist nicht unbedingt Mädchensache. Justus und Roland, sie haben sich so schön aneinander gewöhnt, sie sollen gemeinsam dem Feind zu Leibe rücken.

Roland kann aber nicht, er muss zuhause im Garten helfen. Er macht dort sowieso den ganzen Tag schon nichts anderes als Mäuse bekämpfen. Die Absage überbringt seine Cousine. Rosi. Sie bringt auch eine Schaufel mit.

Sie sagt, sie gruselt sich nicht.

Rosi pumpt das Wasser, Mops hält die Gießkanne unter den Strahl, seine Armmuskeln zittern, je mehr, je schwerer das Gefäß wird. Was danebengeht, spritzt aufregend gegen die nackten Beine, und Rosi macht "Huch!" Die Apfelbaumwiese hinter Nummer hundertsechs ist von Mauselöchern regelrecht durchsiebt und von frisch aufgeworfenen Erdwällen überzogen.

"Achtung!" ruft Rosi, das Schaufelblatt schlagbereit erhoben. Mops senkt das Kannenrohr ins erstbeste Mauseloch, glucksend verschwindet das silberne Wasser. Die Kanne wird leer. Keine Maus zeigt sich.

Neues Wasser muss her. Rosi schiebt beim Pumpen die Unterlippe vor. Genau wie wenn sie was schreibt, denkt Mops. Er hat sie in der Schule beobachtet.

Wieder nichts. Die dritte Kanne. Und Rosi hört auf einmal auf zu pumpen und sagt, sie ertrinken jetzt da unten von allein. Mops setzt die Kanne weg und schaut Rosi zu, die richtig schöne Räder schlagen kann, hintereinanderweg, ihre nass glänzenden Beine wirbeln durch die Luft.

"Halt du Luder", sagt sie plötzlich, ergreift die Schaufel und - patsch - hat sie die erste Maus. Die ist nass und winzig. Jetzt heißt es rennen, mehr Wasser holen. Mops übernimmt den Dienst an der Schaufel.

Bei ihm trifft das eiserne Blatt nur halb, die Maus, winzig wie die vorige, stößt kleine Pfiffe aus und rennt Kreise. "Hast sie", sagt Rosi, Mops schlägt zu, zweimal, dreimal.

Er spürt sein Herz im Hals. Mit der nächsten Kanne Wasser ist wohl das unterirdische System restlos abgesoffen, aus mehreren Löchern zugleich kommen spitze Nasen, verschwinden, kommen erneut hervor, grau, nass und quietschend flitzt es kreuz und quer durch das kurze Gras. Rosis Schaufelschläge landen viel sicherer, fast jeder trifft. Vom ersten Groschen, den sie verdient haben, gehen sieben Pfennige auf ihr Konto.

"Du musst es wollen", rät sie.

Sie suchen sich eine neue Stelle auf der Wiese. Mopsens Schläge werden sicherer, und Rosi zeigt bloß: "Hier, Justi!"

Justi. Mops drischt zu: "Dich hab ich! Das hast du nicht erwartet!" schreit er.

Sechzig Pfennig, das wollen sie heute schaffen, für jeden dreißig, "da! Und da! Und da!" lärmt Mops.

"Warum krawallst du denn so dabei?" fragt Rosi verwundert.

Mops weiß erst keine Antwort darauf. "Taktik", sagt er endlich zur Begründung, dass er so schreit. "Da kriegen sie Angst und kommen raus. Wühlmäuse fressen sogar die Baumwurzeln an."

Dann lässt sich keine Maus mehr blicken.

Rosi zählt die Leichen an den Schwänzen auf das Schaufelblatt. Wie tote wie Würmer, iii!" macht sie. Achtundfünfzig Stück.

Mops spürt plötzlich, wie sich Speichel unter seiner Zunge sammelt. Ein kleiner Ekel überkommt ihn. Und der Anflug einer bösen Erinnerung. Er guckt schnell weg und sagt: "Ich zeig dir noch unsere Kaninchen. Kaninchen in einem Schrank, das gab's noch nie."

Die Häsin hat inzwischen Junge, fünf neugeborene Vierbeiner mit großen Köpfen und Stummelöhrchen torkeln über den Nestrand. Vier schwarzweiße und ein braunes, wie die Mutter. Es blinzelt schon. Das Nest besteht aus der ausgezupften Brustwolle der Alten mit den Bernsteinaugen, die behäbig ausgestreckt vor dem Maschengitter in Stroh und Hasenkötteln liegt und mümmelt. Bald werden die Kleinen groß sein und sie wird in die untere Box umziehen. Er hat den Schlüssel vom Vorhängeschloss in der Tasche und schließt extra für Rosi auf.

"Na und? Musst mal ausmisten" sagt Rosi und schnuppert in den Stall.

Er bückt sich, seine Linke tastet nach dem Verschluss vom Geheimfach. Aber wie er gerade sagt, "Warte, ich zeig dir noch was", und den Kopf wendet, berühren sich ihre Wangen. Es ist nur eine ganze kurze Berührung, nur aus Versehen, und Rosi streichelt schnell die Häsin und sagt: "Niedlich."

Er zeigt ihr die Stelle, wo das Tier ein Brett angenagt hat.

 

Es ist Anfang Oktober, da schlägt Herr Schultze wieder einmal die Zeitung auf. Also Schwatzstunde.

"Zu unserem Streit von neulich", sagt er ernst. "Der interna-tionale Gerichtshof in Nürnberg hat gestern die Urteile verkündet. Ist jemand noch immer der Meinung, dass wir Deutschen stolz sein dürfen?"

"Jawohl!"

Mops ist dieser Meinung, und er sagt sie.

Er hat die Übertragung im Radio gehört, hat die Angeklagten förmlich vor sich gesehen: In welch aufrechter Haltung Hermann Göring, Ribbentrop, Keitel, Rosenberg, Kaltenbrunner und die anderen ihr Urteil entgegengenommen haben. Wie nur deutsche Männer. Der Reporter hat es gesagt: General Keitel hat sogar die Hacken zusammengeschlagen, ein Wehrmachtsoffizier vom Scheitel bis zur Sohle.

"Wer solch aufrechte Haltung bewahrt bis zum Tod, der ist stark, tapfer und treu", spricht Mops und schaut hin zu Rosi, die die Lider bei seinen Worten gesenkt hält, aber dabei vor Stolz glüht. Vor deutschem Stolz, vielleicht sogar vor Stolz auf ihn, Mops, der so zum Vaterland steht.

"Jawohl", schließt er und setzt sich. "Es hat Schlimmes ge-geben, und sie haben Russen, Franzosen, Engländer und Juden und auch ganz unschuldige Menschen totgemacht. Aber dafür war Krieg."

So sagt es Mutti.

Er erhält aus der Klasse Unterstützung: "Die in Nürnberg haben davon nichts gewusst."

"Ich krieg noch - Zustände", sagt Herr Schutze, an seiner Schläfe zeigt sich eine fingerdicke Ader. "Niemand hat etwas ge-wusst, niemand was gehört, niemand was gesehen, niemand mitgemacht!"

"Doch ich", sagt Mops.

"Du hast mitgemacht, aha." sagt Herr Schultze. Die Ader ist wieder weg, und sein Mundwinkel verzieht sich im Spott, während er eine Zigarette aus einer Packung Amis herausklopft: "Dann bist also du der Kriegsverbrecher in Deutschland, Justus Sallmann, fünftes Schuljahr."

Darüber lachen nun alle, auch Rosi, und Herr Schultze wechselt das Thema. Wer aus der Klasse möchte Eintrittskarten für eine Darbietung mit naturwissenschaftlichem Charakter am fünfzehnten November im Gasthof? Beginn schon sechzehn Uhr, weil es um diese Jahreszeit zeitig dunkelt, und man nicht weiß, ob elektrisches Licht da sein wird oder nicht. Schüler ab zehn Jahre sind ausdrücklich zugelassen wegen des wissenschaftlichen Charakters.

Es geht um Hypnose. Der Hypnotiseur Charles Rodaro und seine reizende Partnerin Evelyn geben sich die Ehre. Herr Schultze liest einen Reklamezettel vor und erklärt, was genau Hypnose ist. Pro Person sind zwei Mark mitzubringen und ein Brikett.

 

Auf dem verschörkelten gußeisernen Saalofen glimmen Kohlestäubchen auf, das Rohr glüht dunkelrot. Erwartungsvolles Stimmengewirr erfüllt den Saal. Den meisten Krach machen die jungen Kerle, die längst aus der Schule und im Saal wie zuhause sind, denn in Wiedrungen gibt es samstags manchmal Tanzmusik.

Rosi sitzt schräg vor Mops, durch den Stoff von ihrem rosa Tüllkleid schimmern weiße Träger. Ihr noch immer sommerbrauner Nacken bekommt, wenn sie den Kopf wendet, seitwärts eine kleine Falte. Wie schön, denkt Mops, ich sitze hier, und Rosi ist da und Roland, und wir leben alle und freuen uns. Wie gut, dass ich jetzt in Wiedrungen wohne und dass Frieden ist und keiner dem anderen mehr was tut.

Rosi schaut nicht her, sie unterhält sich mit ihrer Nachbarin wissenschaftlich über Hypnose. Mops greift das Thema auf und wendet sich an seinen Nachbarn Roland: Man muss einander tief in die Augen sehen...

Da schnurrt der goldsamtene Vorhang auseinander, verhakt sich und schwingt dann mit einem Ruck ganz auf. Ein Geruch von kaltem Staub weht von der Bühne. Auf einem schwarzverhängten Tischchen geht eine Kerze an und aus. An und aus. An und aus. An und aus.

Trotz der Ofenglut fröstelt Mops für einen Moment. Zuerst erscheint die reizende Partnerin Evelyn, von einem kurzen Plisseejäckchen umweht, das ihr gleich der Herr Charles Rodaro abnimmt. Sie hat einen glitzernden zweiteiligen Badeanzug an, die Verschnürung ist ein wenig knapp und verschwindet stellenweise in Evelyns Speckfalten. Mops muss plötzlich an Helga Bonkwitz denken. Ein bisschen schmerzt ihn der blöde Kratzfuß, den die Partnerin nach ein paar graziösen Schritten zur Begrüßung vor dem Publikum ausführt. Sie beugt sich weit vornüber und wirft ein Kusshändchen.

"Oho!" Ein paar junge Kerle in der ersten Reihe schnalzen und pfeifen durch die Zähne.

"Viel zu fett", sagt Rosi laut zu ihrer Nachbarin. Ein rascher Blick streift Mops.

Herr Charles Rodaro legt seinen schwarzen Faltenumhang nicht ab. Er trägt dazu einen Zylinder, einen weißer Schal, die weißen Zwirnhandschuhe zupft er nun langsam von den Fingern. Dabei richtet er leise, schnarrende Grußworte an die "hochverehrten Damen und Herren."

Irgendetwas kommt Mops an dieser heiseren Sprache bekannt vor, aber ihm fällt nicht ein, was. Angenehme Dinge sagt Herr Charles Rodaro, er zwinkert, auf den ersten Blick hat er eben in den jungen Kerlen, die geschnalzt haben, alte Genießer, Kavaliere des schönen Geschlechts erkannt.

Die Handschuhe haben sich in Blumen verwandelt, Evelyn nimmt sie in Empfang mit einem kleinen Knicks, der nun nicht mehr so tief ist wie vorhin. Nun werden schwarzweiße Tüchlein zu roten, klingende Metallringe verhaken sich zu Ketten, eine Krähe im Zylinder verwandelt sich in eine Taube. Es ist großartige Kunst, die Kunst der Illusion, so sagt es Herr Charles Rodaro selbst. Mops stört bloß, dass der Künstler das alles wie nebenher macht, vor aller Augen und doch irgendwie flüchtig und so schnell, dass man nicht begreift, was da eigentlich passiert.

Es scheint, als wollte er diese Sachen so rasch wie möglich erledigen, um endlich zu der einen, wichtigen, der Hauptdarbie-tung zu kommen. Dabei redet er ununterbrochen zum "hochverehrten Publikum", die Kerzen auf dem Tischchen gehen an und aus, an und aus.

Herrn Charles Rodaros Augen glühen in tiefblau gemalten Augenhöhlen, das kalkweiße Gesicht, jedes lässige, wie wegwerfende Schlenkern der langen und mageren Hände, alles drückt Nobelkeit, vielleicht eine Spur Verachtung aus für das hochverehrte Publikum. Dieses aber, besonders die Schnalzer in der ersten Reihe, merkt davon nichts und hängt an seinem Munde.

Auch Rosi sitzt verzaubert, Mops sieht ihre Schultern zusammenschauern, als auf der Bühne Evelyn sich nun der Länge nach auf ein Nagelbrett legt und es sich mit ihrem bloßen Rücken darauf bequem macht. Dicht und blank ragen die spitzen Nägel, Evelyn hat ihre Ausbildung an der Fakirschule von Indien genossen, sagt Herr Charles Rodaro.

Und zehn Kavaliere müssen auf die Bühne kommen. Nach kurzem Hin und Her finden sich sogar zwölf. Das ist Herrn Charles Rodaro gerade recht. Unter seiner Anleitung tragen sie einen langen Gasthaustisch mit hinauf, kippen ihn um und legen ihn mit der Fläche auf Evelyns Brust, Bauch und Schenkel, sodass die massive Holzplatte sie nun zusätzlich beschweren, die Nägel in ihren weichen Rücken bohren muss. Die Partnerin liegt platt unter der Folterpresse, sie hat das Gesicht dem Publikum zugewendet und lächelt. Ein Stöhnen geht durch die Reihen.

"Ein Schiff, ein Viermaster", redet Herr Charles Rodaro, umfasst eins der aufragenden Tischbeine und bewegt den Tisch auf der weichen, lebenden Unterlage: "Ein Schiff am Kai, es schwankt auf den Wellen. Wer steigt ein?"

Die zwölf Kavaliere schauen einander an.

"Eine Seefahrt, die ist lustig, Männer", ermuntert sie der Herr Charles Rodaro. Da steigt der erste in das Schiff.

"Ein bisschen mehr Schneid! Die Reise ist kostenlos!"

Als der zweite einsteigt, klingt es wie ein Ächzen unter dem Schiff hervor. Aber auf ein scharfes Kommando von Herrn Charles Rodaro entern fünf, sechs Mann eilig das Schiff.

"Wir sitzen alle in einem Boot!", ruft anfeuernd Herr Charles Rodaro, und die bisher Unschlüssigen machen Anstalten, sich ebenfalls hineinzudrängen.

"Die Flucht aus der Danziger Bucht!", reimt Rodaro.

"Alle aussteigen!", gellt es aus dem Saal.

Sie erstarren für eine Sekunde. Klettern aus dem Tisch, heben ihn zur Seite, einer hilft Evelyn auf.

Rosi hat sich umgedreht, ihre Augen ruhen groß und voll auf Mops, von allen Seiten haben sich die Gesichter ihm zugewendet. So ermittelt Herr Charles Rodaro den Rufer.

"Oho!" Seine Stimme schneidet. "Der mutige Kavalier, der ritterliche Retter aus der dritten Reihe Mitte! Stört mir meine Schau! Vielleicht hat er auch die Kurasch und erscheint hier per-sönlich auf der Bühne, der retterliche Ritter aus der dritten Reihe Mitte?"

Es gibt Gekicher. Rosmarie guckt. Mops erhebt sich langsam, Roland macht ihm Platz.

"Charmant!" Der Zauberer bietet Mops die magere Hand wie einer Dame, halb Begrüßung, halb Unterstützung bei den drei Stufen des Bühnentreppchens. Am ausgestreckten Arm betrachtet er Mops entzückt, zwischendurch zwinkert er gewinnend zu den Schnalzern hinunter, die sich vor Vergnügen auf die Knie klatschen.

Herrn Charles Rodaros Augen senken sich in Mopsens Blick. Aha, denkt Mops, Hypnose. Aber mit mir nicht. Ein dunkles, unheilvolles Glühen, die Augen eines bösen Greises. Der Klammergriff der knochigen Hand ist wie von einer Vogelkralle.

"Er möchte uns bestrafen, der retterliche Ritter aus der drit-ten Reihe Mitte, er möchte die Marter und Beleidigung unserer Evelyn, die die Fakirschule von Indien besucht hat, rächen. Möchte er das? Ja, das möchte er. Ist unsere Evelyn beleidigt?"

Mops hält dem Glühen der bösen Augen stand. Zugleich aber, wie in einem blinden Spiegel nimmt er wahr, wie Evelyn den Kopf schmollend zur Seite neigt, ja, sie ist beleidigt.

Sie macht sich aber nur lustig, Charles Rodaro macht sich lustig, die Leute biegen sich vor Lachen. Er wird zum Kasper, vor Roland, vor Rosi, er wird zu Herrn Rodaros Hampelmann...

Er versucht seine Hand aus dem Krallengriff zu drehen. Zu seiner Verwunderung gibt ihn der Zauberer sofort frei. Nur dieser Blick glüht und bohrt, Mops fühlt dumpfen Schmerz in der Schläfe. Ihn schwindelt. Die Bühne schwankt im Licht der immerfort aufflammenden und verlöschenden Kerzen, vor den Saalfenstern ist es fast dunkel geworden. In den ovalen Umrissen der Gesichter öffnet sich das Gelächter zu schwarzen Löchern. Alles beginnt zu kreisen. Mops muss die Füße breit setzen, um nicht hinzuschlagen.

"Oho, er gibt nicht klein bei, unser retterlicher Ritter, unser kleiner Held. Worin wohl die Strafe besteht, die er uns zugedacht hat? Gewiss möchte er uns alle verwandeln? In was möchte er uns denn alle verwandeln? Hier wäre ein Zauberstab. Nun?"

"In Mäuse", presst Mops hervor.

"In Mäuse!" jubelt Herr Rodaro, "In Mäuse will er uns verwandeln, allesamt in Mäuse, den ganzen Saal! In süße kleine Piepmäuse, wie? Eventuell hört er uns schon piepen, der retterliche Ritter?"

Zuerst ist es nur ein einzelnes leises Pfeifen, dann antwortet aus einer anderen Ecke ein zweites, bald quietscht es hier und da, pfeift es an allen Enden, hundertstimmig gellt es an Mopsens Ohr, bricht ab.

Das elektrische Licht ist gekommen. Strom ist da. Evelyn geleitet Mops von der Bühne, greift ihm zum Abschied mütterlich ins Haar. Benommen tappt er zu seinem Platz. Den Schluss der Vorstellung erlebt er wie hinter einem dichten Schleier.

Roland und Rosi liefern ihn zuhause ab: "Er hat, scheint's, Fieber."

 

Das Thermometer zeigt etwas über achtunddreißig, Mutti sagt, er brütet was aus.

Vati ist da, er sitzt auf dem Sofa und sieht die Zeitungen der Woche durch.

"Sieh einer an", sagt er lesend. "Göring hat sich aus dem Staub gemacht. Gift. Hat sich der Strafe entzogen."

"Also, das muss man dem Mann lassen", sagt Mutti. Vom Herd her zieht der Duft von bruzelndem Speck, und eine Übelkeit überfällt Mops.

"Ich hab einen Revolver", sagt er.

"Einen Revolver, so so", sagt Vati gemütlich. "Scharf geladen, was?"

"Zünder, Schießpulver, Atomsprengstoff, mit Blei zugekeilt."

"Er macht jetzt das Flunkeralter durch, bei den meisten Kindern kommt es früher", lächelt Mutti, und Vati lacht:

"Soviel ich von Schusswaffen verstehe, tät so ein Revolver dem Schützen wahrscheinlich ein ganz klein bisschen um die Ohren fliegen."

Dumpfer Schmerz bohrt in Mopsens Schläfe.

"Ich hab sie im Hasenstall, könnt nachgucken", sagt er schwach.

"Nun ist es genug", sagt Vati ein bisschen ärgerlich und faltet die Zeitung zusammen.

Mutti stellt die Pfanne mit den Bratkartoffeln auf den Tisch: Gleich morgen gucken wir nach. Bei den Hasen. Und wie war die Vorstellung mit dem wissenschaftlichen Charakter?"

 

"Ist die Rosi deine kleine Freundin", fragt Mutti beim Gute-nachtsagen. "Ein nettes Mädchen. Ein bisschen kess."

"Nein", sagt Mops und dreht den Kopf zu Seite.

Mutti ist schon an der Tür, knipst das Licht aus.

"Mopfange, Mutti", flüstert er.

"Was ist heute bloß in meinen großen Jungen gefahren?" Sie kommt aber im Dunkeln noch einmal zurück und nimmt seine Wangen, die noch immer nicht richtig männlich werden wollen, zwischen die Hände. Etwas fehlt an der alten Liebkosung: Die Sorgenwarze ist verschwunden.

"Mopfange", sagt er mit den zusammengequetschten Lippen, aber der alte Frieden stellt sich nicht ein.

Lange liegt er wach auf dem Rücken. Das schmerzhafte Bohren erfüllt den ganzen Kopf, auch ist ihm plötzlich, als schrumpfe der Körper. Ja, tatsächlich, sein Rumpf wird kurz, unwesentlich, kommt einfach abhanden. Das Gefühl hatte er als kleiner Junge schon mal. Nur die Füße sind zu spüren, sie befinden sich auf einmal direkt unter dem Kinn, und im Kopf bohrt der Schmerz.

In diesem Moment ist er Mopswange und wieder ganz klein.

In diesem Moment ist er Sälämi und ein Dorfjunge.

In diesem Moment ist er Justi.

Er lauscht. Richtet sich auf, fährt in seine Holzschuhe, die ihm nun langsam zu klein werden, über der Stuhllehne hängt die Wetterjacke. Geräuschlos räumt er den Blumentopf vom Fenster, öffnet einen Flügel und klettert hinaus, hinunter auf das Schup-pendach. Geübt ertastet der Fuß die Gabel im Holunderstrauch. Ein Kinderspiel. Die Nässe des Bodens schmatzt unter den Sohlen.

Mops zieht aus der Jackentasche den Schlüssel für das Vorhängeschloss.

Heitlers Auge glüht. Zum erstenmal, dass Mops es so hell glühen sieht, vielleicht hat er bloß früher nicht darauf geachtet.

Das Geheimfach ist verquollen, es dauert, bis er es offen hat. Er wickelt den Revolver aus seinem Öllappen. Der Sicherungshebel ist schmierig vom Fett.

"Unser retterlicher Ritter", sagt Heitler.

"Es hatte so gut angefangen in Wiedrungen. Ich war so froh."

Mops spannt den Hahn.

 "Er traut sich nicht", sagt Heitler. "Das Ding kann ihm um die Ohren fliegen."

"Wenn ich treffe, erfüllt sich ein Wunsch."

"Welcher Wunsch, Blindgänger?"

Mops zielt ruhig. Der Zeigefinger sucht den Druckpunkt. Mops schießt.

 

Am Sonntag gibt es zu Mittag, was vom Hasenfleisch zu verwenden war: Die Hinterpartie. Mit Rotkohl und dampfenden Kartoffeln. Seinen Teller bekommt Mops ans Bett. Mutti sagt, selbst ihr als erfahrener Krankenschwester ist unklar, was das für ein Fieber war, das ihr Junge so langsam nur überwindet. Und Vati macht sich Vorwürfe, dass er die Erzählung von dem Revolver nicht ernst genommen hat. Mutti und er wussten natürlich von dem Fach im alten Schrank, aber nicht, was drin war. Sie haben sich immer gesagt: Ein kleines Kindergeheimnis muss man respektieren.

Mops findet, es geht ihm schon wieder ganz gut. Der Hase schmeckt wie sieben Weihnachten, die paar Körnchen Pechblende spuckt er auf den Tellerrand.

Nachher pocht es an die Kammertür. Roland, die Haare ver-schwitzt, er ist mit seinem hartgummibereiften Rad gefahren.

"Gruß!"

"Gruß."

"Soll dich auch von der Klasse grüßen."

"Ja?"

"Sie quieken jetzt noch vor Lachen. Stark, wie du den ganzen Saal in Mäuse verwandelt hast. Ich hätt mich da nicht hoch getraut. Rosi hat'n Spitznamen für dich: Ritter."

Roland bringt die Schularbeiten im Auftrag von Herrn Schultze.