Günter Saalmann
Ich bin der King, Roman
I’m a timebomb
stop now
what’s that sound
everybody look what’s going down
and all the timebombs
they’re all dancing to the same song
in a world full of no-ones I’m a someone
I’m a timebomb
(CHUMBAWAMBA: ANARCHY)
(Vorsatz)
“In dieser, schon etwas anspruchsvolleren Mission, müsst Ihr zum ersten
Mal gegen Menschen antreten. Zerstört deren Städte, doch passt auf,
dass Teron Gorefiend nichts passiert.
Bewegt alle Eure Einheiten (außer Peons) nach Westen und zerstört in
einem Blitzkrieg die Menschenstadt (türkis). Teron Gorefiend sollte
sich dabei wie immer im Hintergrund halten. Wenn dies geschafft ist,
baut Ihr so schnell wie möglich eine Stadt auf. Achtet darauf, dass Ihr
sie genügend verteidigen könnt. Zum gleichen Zeitpunkt begebt Ihr Euch
nach Süden, wo Ihr eine Goldmine erobern könnt. Es empfiehlt sich, dort
ein Haupthaus zu bauen. Während dieser Mission ist die Verteidigung
vorrangig. Wenn eine mittelstarke Truppe zur Verfügung steht (ca. 25
Mann), geht Ihr erneut nach Süden, dort erobert Ihr die Stadt (lila).
Solltet Ihr zu wenig Einheiten haben, geht am oberen Kartenrand
entlang, an deren Ende geht Ihr nach Süden. Auch hier findet Ihr eine
weitere Goldmine. Wenn Ihr eine große und starke Truppe um Euch
geschart habt, vernichtet Ihr alle Menschen (blau).”
(Spiel-Support zu dem Computerspiel ‘Warcraft 2 - Beyond The Dark
Portal’, Mission 4, Zeitschrift POWER PLAY Heft 9/96, auf dessen
Rückseite auch eine Bierwerbung leuchtet.)
Täglich zwei Mahlzeiten durch den Türspalt, früh Scheiblettenkäse,
Schwarzbrot, Kiwi, Trinkjoghurt. Abends warm. Am Anfang Hungerstreik.
Jetzt esse ich.
Habe mich im Griff, spare Kräfte, teile den Tag ein. Kurze
Schlafphasen, ein bisschen Fitness, Liegestütze, Kniebeugen.
Sport und Wandern. Sechs Schritt hin. Die Eisentür. Kehrtwende, rechte
Schuhsohle, sechs Schritt zurück, in Augenhöhe die vergitterte Luke,
Kehrtwende, linke Sohle. Eisentür, Luke. Tür, Luke. Was habe ich falsch
gemacht? Wo hat meine Logik versagt?
Durch die blinde Scheibe Blick auf verstaubte Klinker, auf Handlänge
nah. Im Lauf des Tages wandernde Sonnenquadrate. Der Lichtschacht oben,
zu ebener Erde, mit einem Rost abgedeckt.
Problem Nummer eins: die Gitterstäbe. Wäre das gelöst, käme Nummer zwei
- der Schacht. Jemand mit schmalen Schultern, ein Schlangenmensch,
könnte sich durchwinden. Ich nicht. Aussichtslos.
Ich muss hier raus!
Türwärts nur auf die schwarzen Fliesen treten. Kehrtwende. Lichtwärts
nur auf die weißen. Weiße Karos, schwarze Karos. Wenn ich draußen bin,
zerschlage ich alle Schachbretter der Welt.
Das Bett, der Wasserhahn, die Toilette.
Ich bin Rex. Rex, Latein: der König.
Ich bin Kamentz. Soll slawisch sein: Stein. Rex Kamentz: König Stein.
Königsstein. Festung Königsstein, ha ha, dieses Loch.
Ich muss hier raus.
Seit der Nacht zum Dienstag zweiundsiebzig Stunden Einzelhaft. Am
Anfang Ineinanderfließen von Ohnmacht und Halbschlaf. Das
Schädeldröhnen wie ein endloser, tiefer Gong. Die Haare um die
Kopfwunde herum geschoren, als Kompresse eine Zellstoffeinlage mit der
berühmten Saugkraft, mit Heftpflaster kreuzweise festgeklebt.
Das Pflaster löst sich bereits, ich kratze vom Rand her den Schorf aus
den Stoppeln.
Dienstag in Abständen meine Wutanfälle, Fäuste gegen die Tür. Pauken
und Brüllen, Pauken und Brüllen. Danach totale Erschöpfung, nervöser
Schlaf, einmal gestört von einem Schurren und Schieben, Eisen auf
Stein. Und ein ekelhafter Traum: Ich reiße Beate den Pulli hoch. Ich
dringe in wütender Lust in sie ein, ich bin ein Rammbock, bei jedem
Stoß schiebt sie ihre Zunge ein Stück weiter aus ihrem Mund,
salamifarben, salamilang.
Auf dem Bettrand sitzen. Pläne für den Ausbruch.
Die bisherigen Versuche - zwei Pleiten. Die erste am Mittwochabend.
Ein Streifen, von der verschlissenen Wolldecke gerissen, zum Strick
gedreht, zum Fesseln der Geisel, unterm Kopfkeil griffbereit. Als
Schritte auf der Treppe hörbar werden: Fäuste gegen die Schläfen,
Würgelaute, Stirn gegen die Mauer, ein Anfall von Durchdrehen, von
Raserei, von Selbstzerfleischung. Aber sie fallen nicht drauf rein,
schieben nur das Essen durch den Türspalt.
Gestern Abend, Donnerstag, zweiter Versuch, diesmal mit Power. Ich
stehe sprungbereit, lausche. Schlüsselklappern, ich werfe meine ganzen
fünfundsiebzig Kilo gegen die Tür. Sie fliegt auf, dong, dröhnt zurück.
Ich gebe nicht auf, stoße, schiebe. Umsonst. Das Gegengewicht ist
massiv. Der Türspalt reicht maximal zum Durchschieben der Mahlzeiten.
Sie waren vorbereitet, draußen steht ein Klotz, der nicht von
schlechten Eltern ist. Das war’s in der Richtung. Ausbruchsversuch
Nummer drei steht noch bevor.
Diesmal muss es klappen. Wenn ich am Leben bleibe - Rache! Ich ziehe
das Ding durch, verlasst euch drauf!
Das Bettgestell. Eisen, Uralt-Sperrmüll. Am Kopfteil ist eine
Schweißnaht gerissen, ich packe die Querstrebe und kann sie zur Seite
biegen. In der Gegenrichtung sperrt sie sich, aber ich nehme beide
Hände. Drei, vier Versuche, sie bricht heraus. Die Bruchstelle
scharfkantig, das Werkzeug liegt nicht schlecht in der Faust.
Draußen noch Dämmerung, hier unten schon Dunkelheit. Unterhalb der
Fensterluke ertaste ich eine Vertiefung in einer Fuge. Mein
Ansatzpunkt, schon beim ersten Kratzen rieselt Mörtel. Morgen früh, bei
Tagesanbruch, kann ich meine Decke in die Luke hängen, wie zum
Auslüften, das Loch tarnen. Sie könnten unverhofft den Kopf durch den
Türspalt stecken.
Kratzen.
In den Verschnaufpausen manchmal ein Rascheln. Vielleicht eine Ratte.
Hallo, Ratte!
Ist jetzt schon Freitag? Bei der monotonen Arbeit kein Zeitgefühl mehr,
noch dazu im Finstern. Die Swatch hat was abgekriegt, die
Zifferblattbeleuchtung streikt. Diese Nacht noch muss der erste Ziegel
aus der Wand. Hab ich den, komme ich besser an den nächsten. Lachhaft,
ein Mann, der ins Sprengstoffgeschäft einsteigen will, kratzt sich mit
‘nem Stück Eisen durch die Mauer. Graf von Monte Christo.
Durch die Luke fällt kühle Nachtluft.
Herberts Stolz war der Anti-Gartenzwerg Anita, der in allem das
Gegenteil seiner landläufigen Kollegen war: Aus Eisenblech
zusammengeschweißt und genietet, bartlos, mit weiblichen Wölbungen,
trug er statt einer roten eine blaue Zipfelmütze und reckte dem
Besucher, ein Würstchen drückend, das blanke Hinterteil entgegen. Das
Würstchen aus Grauguss war äußerst lebensecht gestaltet - ein Hund, der
uns besuchte, schnupperte versehentlich daran. Die Figur war eine
Extraanfertigung aus Herberts Betrieb, von ihm selbst lackiert. Das war
die Art von verbissenem Humor, die er manchmal aufbrachte, damals, als
es uns gut ging, ihm, Patricia und mir, dem Sohnematz.
Blumenrabatten. Samtblauer Eibisch, zwei Steinschalen mit mehrjährigen
Fuchsien. Unser Haus war das gepflegteste in der Siedlung, die aus der
langgestreckten Häuserzeile “Am Sack” bestand und tatsächlich eine
Sackgasse war. Eine dichte Ligusterhecke schirmte den Vorgarten zur
Straße hin vor fremden Blicken. Dabei verirrte sich sowieso selten
jemand zu uns, denn unser Grundstück Nummer 45 lag ganz am Ende.
Zwischen ihm und den anderen Häusern erstreckten sich unbebaute
Parzellen, Grundstücke, die, wer weiß warum, nicht verkauft worden
waren. Auch hatten wir kein Gegenüber - die sturen Elfgeschosser des
Betonviertels guckten erst aus hundertfünfzig Metern Entfernung über
unsere Hecke.
Zwischen diesen Klötzern, genannt “Stalingrad” und dem “Sack” lag
Ödland, von Weidengestrüpp, Rainfarn, Heidenröschen und Goldrute
überwuchert. Hinter dem Haus aber begannen die Felder, die im
Frühsommer rapsgelb leuchteten und bis in die Zimmer hereindufteten.
Als ich klein war, hatte ich doch nie das Gefühl, kleiner zu sein als
meine Eltern. Ich kannte mich unter dem Tisch ebenso gut aus wie auf
den Schränken. Wohl deshalb, weil ich genügend oft in die Luft
geworfen, auf dem Arm herumgeschleppt wurde. Manchmal stand ich auf dem
Fensterbrett, wenn ein Gewitter heraufzog, der erste Wind Äpfel aufs
Garagendach plumpsen ließ, und sagte: “Na, komm mal her, mein Blitz.”
Und meine Mama Patricia nannte meinen Papa Herbert “mein stolzer
Hirsch”, er selbst aber nannte sich “Leiter der Entwicklungsabteilung
II/A im Werk ‘Spezialtechnik Kaiserswartha’”. Der Allerweltsname seiner
Firma war allerdings Tarnung (wie ich später wusste): Sie fertigten
dort, weit draußen vor der Stadt, Granaten und Panzerwaffen, außerdem
eine bunte Auswahl an Signalmunition. Sie drehten, frästen, stanzten,
montierten die scharfen Sächelchen vom kleinsten Blechteil aufwärts,
mixten die Ladungen, pressten sie in die Sprengköpfe, entwickelten den
inneren Aufbau der Kartuschen weiter, optimierten die Energiebilanz und
die Reichweiten, alles top secret, rundherum gesichert von Wachtürmen
und Doppelzäunen und Hunden an Laufdrähten.
Der Betrieb hieß im Volksmund “die Waffia”, und die dort arbeiteten
“Waffiosi.”
Fast alle leitenden Angestellten wohnten “Am Sack”, jeder kannte jeden,
aber keiner wusste genau, was in der Abteilung des anderen geschah.
Nach der Zeitenwende, der berühmten Herbstrevolution von 1989, die
alles auf den Kopf stellte, grüßten sich manche nicht mehr.
Wenn Familie Kamentz damals im Auto den schmalen Asphaltstreifen
entlang fuhr, lief der Dialog zum Beispiel so:
Herbert: “Da, guckt ihn Euch an, Müller, Hilmar, vormals
Sicherheitsbeauftragter. Verkauft jetzt Dessous. Scheint zu laufen, das
halbseidene Geschäft. Sitzt im feinen neuen Wintergarten, trinkt
Käffchen.
Ich: “Papa, was sind Dessous?” (Ich wusste schon früh, was Dessous
sind.)
Er: “Alles Quatsch. Firlefanz. Frag die Mama.”
Ich: “Mama, weißt du’s? Was sind Dessous?”
Patricia drehte sich zu mir um, behielt aber Herbert im Auge:
“Damenbekleidung für die Herren der Schöpfung." Sie lächelte und fügte
hinzu: "Nichts für kleine Kinder."
Herbert aber redete weiter, bedachte einen Nachbarn nach dem anderen
mit einer bissigen Bemerkung, besonders boshaft wurde er immer bei
Hausnummer 33: “Und da: Herrn von und zu Rippersreuths
Gartenzwergsammlung. Ein ganzes Wachbataillon. Hat er wieder eine
Neuerwerbung?”
Ich: “Glaube nicht, Papa. Aber jetzt pflastern sie den Hof.”
Ich hatte den Hals nicht nach irgendwelchen neuen Gartenzwergen
gereckt, denn solche Missgeburten standen fast in allen Vorgärten.
Nein, womöglich zeigte sich die Tochter, Beate v. Rippersreuth.
Irgendwann früher hatte ich sie mal nackt zwischen den Zwergen
herumflitzen sehen, und sie hatte mir die Zunge raus gesteckt. Sie war
das frechste Stück, das es für meine Begriffe geben konnte.
Mittlerweile rollten wir vor unser Haus, weitab von direkter
Nachbarschaft, ich musste das Garagengatter öffnen, Herbert steuerte
den Honda aufs Grundstück, und wenn er dann zur Haustüre herumkam,
tätschelte er im Vorbeigehen seinen Anti-Gartenzwerg Anita.
Damals verstand ich nicht, warum er die Nachbarn mit so viel Neid
beobachtete. Hatten wir es nicht schön?
Das Garagendach war der Lieblingsplatz meiner Kinderzeit. Ich stieg
einfach aufs Aschehaus, das später den Kompost enthielt, und zog mich
weiter hinauf. Besonders im Sommer war es dort oben herrlich, denn die
schwer herabhängenden Äste unseres alten Klarapfelbaums bildeten ein
schattiges Versteck. Ich lag bäuchlings auf der warmen Teerpappe, sog
den strengen Chemiegeruch tief in die Nase und übte mich im Schießen.
Meine Waffe war ein gläsernes Blasrohr, in das ich gekaute
Papierkügelchen lud, ich zielte nach den gutmütigen metallicblauen
Brummern, die es bei uns reichlich gab, und flüsterte hingerissen
“Volltreffer!”, wenn ich einen erwischte.
Einmal traf ich versehentlich einen Schmetterling, einen prächtigen,
goldbraun schimmernden Großen Fuchs, der mit hochgestellten, wie atmend
zuckenden Flügeln auf einem Blatt gesessen hatten. Ich starrte gebannt
auf das unförmige Loch in den zart geäderten Schwingen, sah dann das
todgeweihte Tier verzweifelt umhertaumeln und begann zu schniefen.
Ein anderes Mal beobachtete ich von hier oben aus meine Eltern. (Das
muss lange vor dem Gespräch über Dessous gewesen sein.) Ich hörte
unbekannte Geräusche aus dem weitgeöffneten Fenster vom Papas Zimmer.
Film-Clip: Das Bett. Mama wippt rittlings auf Papa, stößt leise Schreie
aus. Ich sehe ihren schmalen Hinterkopf mit der schwarzen Kurzfrisur,
den muskulösen Rücken, schweißglänzend, die Rinne ihrer Wirbelsäule.
Papas roter Bart ragt in die Luft, in seinen braunkarierten Socken
krampfen sich die Zehen, als wollten sie etwas greifen. Halb bin ich da
schon aufgeklärt, oder viertel. Ich will Spaß machen und rufe: “Mama,
was machst du mit dem Papa für Sport? Ich seh alles!”
Sie hört auf zu wippen, dreht den Kopf zum Fenster und sagt mit
normaler Stimme: “Mach dich runter vom Dach! Kannst dir ein Eis aus der
Truhe holen, ich komme gleich.”
Ich nahm mir zwei Eis, und am Abend gab es Holundereierkuchen, die in
Teig getauchten und goldbraun gebratenen Blütenteller, und hinterher
spielten wir zu dritt Monopoly, knöpften einander Häuser, Grundstücke
und ganze Straßenzüge ab. Von Zeit zu Zeit schielte ich unter den Tisch
nach den braunkarierten Socken von Papa und musste kichern.
So lernte ich, wie das geht. Später las ich mal, dass der Anblick von
Elternsex manche Kinder fürs Leben schockt, sie später impotent bzw.
frigide macht.
Impotent bin ich nicht geworden. Jedenfalls nicht total. Fühlte mich
nicht geschockt: Ich nahm zur Kenntnis, dass es eben so aussieht, wenn
Mann und Frau “das” miteinander tun: Die Mama reitet auf dem Papa und
schreit, und beide recken das Kinn zur Lampe, und davon kommen dann die
Babys.
Patricia war in ihrer Jugend Sportlerin, Tennis, ihre Vorhand war
berühmt, Pokale und Wimpel aus ganz Europa schmückten ihr Zimmer. Das
war aber, bevor Herbert bei der Waffia anfing, danach durfte sie nicht
mehr gen Westen reisen. Alles top secret eben.
Sie hatte da aber schon diese und jene inoffiziell überreichte DM- oder
Dollarprämie (die sie “Köder” nannte, aber natürlich nicht zurückwies)
auf ihr geheimes Göttinger “Tenniskonto” überwiesen, ohne dass unsere
Ost-Behörden davon Wind bekamen. Das Geld lag lange Zeit eisern fest.
Von ihr, von der Mutter, habe ich den dreieckigen Sportlerrücken, die
schmalen Hüften, meine Bizepse, überhaupt meine Rambofigur.
Nicht wie bei Goethe: Vom Vater die Statur, vom Mütterlein die
Frohnatur. Sondern von ihr gottseidank die Statur, von ihm aber leider
nicht mal eine irgendwie erkennbare Frohnatur, sondern die
Verbissenheit, die Erfolgswut, den so oft unkontrollierbaren Jähzorn.
Und dieses elende Frustgefühl bei jeder Schlappe.
Kindergeburtstag. An meinem Ehrentag hat Herbert die Äußerung mehr
scherzweise getan. Es war am dreizehnten August, ich wurde vierzehn. Da
waren wir schon längst keine Zonis mehr, sondern nannten uns
Bundesbürger. Wir saßen beim Frühstück, im Radio liefen die
Nachrichten, wie immer im August Jahrestag des Berliner Mauerbaus,
Gebührenerhöhung bei der Post, Benzinpreise, Fußballfernsehen demnächst
nur im Pay-TV, sozial verträgliche Einschnitte,
Herzklappenspezialisten, Opel-Manager verschachert Know-how,
sächsischer AOK-Chef veruntreut Millionen. Da also kam Herberts Satz:
“Man müsste diesen Spitzbuben ein Feuerwerk unter ihre dicken ...
Sessel machen.” Dabei balancierte er sein hartgekochtes Eigelb auf dem
Löffel.
Beruflich war er da schon unter den wenigen, die bei der Waffia das
Licht ausknipsten. Er war längst nicht mehr “Leiter der
Entwicklungsabteilung II/A”, sondern der letzte Hilfsarbeiter. Der neue
Job nannte sich “Konversion”: Mein Vater stand an der Presse, die
früher das Pulver in die Geschosse gedrückt hatte, und entleerte nun
Granate für Granate, Kartusche für Kartusche. Entließ sich selbst,
langsam, unaufhaltsam.
Er schob sich das Eigelb unter den Schnauzer: “Wüsste sogar, wie man an
genügend TNT rankäme. Oder an Nitrozellulose aus den Treibsätzen.
Zentnerweise könnte ich das Teufelszeug ...”
Patricia: “Bleib friedlich, Hirsch, mein verhinderter Terrorist. Ball
die Faust in der Tasche. Heute ist Geburtstag. Dein Protest im Leben
hockt draußen im Garten, ist aus Blech und heißt Anita.
Ich blies meine vierzehn Lebenslichter aus und sah, wie Herbert seltsam
erregt mit dem rechten Daumen ein Loch in die Innenfläche der linken
Hand zu bohren versuchte. Eine neue Angewohnheit von ihm.
“Prinzipiell und in meinen eigenen vier Wänden kann ich reden was ich
will ...” begann er von neuem, winkte aber dann nur ab. Danach kamen an
meine Adresse die üblichen Geburtstagssprüche:
GratulationglücklichesAlterwiedieZeitvergehtalsichso-altwarwiedu. Ich
bekam meine Videokamera M 623 mit zehnfachem Zoom und Autofocus und
Stativ, ein Schachspiel und dazu die verschiedensten Klamotten, die mir
heute allesamt zu kurz sind.
Am Nachmittag war dann die eigentliche Fete. Ein paar Kumpels und
Mädels aus dem Gymmi waren da, etwa ein Dutzend Leutchen. Ihr Geschenk
war bescheiden, irgendeine CD, sie hatten zusammengelegt.
Beate v. Rippersreuth brachte einen Videomitschnitt, Pop Classic,
Vanessa Mae, damals ihr und mein absoluter Star. In knackigen Shorts,
wie eine Teufelin. Ich meine Vanessa mit ihrer Geige.
Einer kam später, uneingeladen, Stefan Jabwonski, genannt Jabw, er zog
aus der Kapuze Michael Jackson: “Dangerous”, ladenneu. Sein Geschenk
war das teuerste. Dass er es aus der Kapuze zog, deutete allerdings
darauf hin, dass für ihn die Anschaffung kostenlos gewesen war, nur mit
Risiko verbunden.
Wie Feten so ablaufen: Irgendwer hatte eine Flasche Hochprozentigen im
Beutel, damit verschnitten wir unsere Cola. Auch Sekt war da. Ein paar
versammelten sich in meinem Zimmer an der Konsole und an den Joysticks,
andere interessierten sich für mein Paintball-Gewehr.
Herbert grillte Bratwürste, pflanzte zwischendurch
Johannisbeersträucher, obwohl der August nicht gerade die Jahresszeit
dafür ist, er rauchte zu viel, hatte einen sitzen und machte Werbung,
echt McDonald’s-verdächtig: “Ran, Leute, heiße Wurrycurst, solang der
Vorrat reicht, danach gibt’s nur noch Sudelnuppe!”
Für uns war er wirklich komisch.
Ich war natürlich der Mittelpunkt:
Jabw: “Mann, habt Ihr’s geil, Rex! Klo direkt am Hobbyraum! Tür auf,
und du kannst im Sitzen Pingpong spielen!”
Elän Zibchen (Sie war die Tochter eines Predigers irgendeiner
Konkurrenzfirma der großen Kirche, hieß eigentlich Hélène und
verlangte, dass man den Namen französisch aussprach): “Rex, der
verflixte Martial, du könntest mir in Latein helfen ...
Beate: “Rex, zeig mal’n Uki Goshi ...”
Ich hatte mal Judo gemacht, immerhin, violetter Gürtel. Wir breiteten
Wolldecken auf den Rasen. Ich führte ein paar Fallübungen vor und den
einwandfrei knallenden Handschlag auf dem Boden. Steckte die
Freiwilligen der Reihe nach in meinen alten Judogi und zog sie aus dem
Stand über die Hüfte. Allesamt krachten ächzend auf die “Matte”. Am
härtesten Jabw, denn er versuchte, sich zu sperren.
Mit den Mädchen ging ich pfleglicher um, ließ sie sanfter zur Erde
gleiten, aber sie quietschten wie auf der Achterbahn.
Dann hatten alle genug und verteilten sich zwischen Büschen und
Sträuchern. Ich holte mir eine Bratwurst mit viel Curry. Beate kam und
wollte noch mal geworfen werden.
Sie war in dem Sommer noch mager. Wo ihr himmelblaues Top nicht
hinreichte, sah man die Rippen. Und doch konnte sie einen Jungen schon
um den Verstand bringen. Es war nicht nur ihre ungewöhnliche
Körperlänge, es waren auch die Proportionen, ihre knappen, harmonischen
Bewegungen, es machte einen schwindlig, sie rennen oder auch nur gehen
zu sehen.
Unser Lateinlehrer hatte uns mal das Wort venustas erklärt: venustas,
Anmut. Manche kannten nicht mal das deutsche Wort, da hatte er Beate
vom Stuhl aufstehen lassen, einfach so aufstehen, und gesagt: “Das ist
Anmut, meine Herren der Schöpfung, und beata venustas heißt glückliche
Anmut.”
Und es waren Beates Augen, vor allem die Augen.
“Schon drei Gläser Sekt auf ex”, kicherte sie. “Es fliegt sich so
schön.”
Schon bei den vorigen Würfen war mir in den Schädel gekommen, bei ihr
einen unerlaubten Griff zu riskieren. Dieses Mal! dachte ich. Ich legte
meine Currywurst ins Gras, sie schlüpfte in die Kutte, band den Gürtel,
stellte sich in Grundstellung. Mit der Rechten knüllte ich den leinenen
Aufschlag in ihrem Nacken, mit der Linken griff ich aber nicht nach dem
Ärmel, wie es den Regeln entsprach, sondern ihr zwischen die Beine. So
standen wir. Auch in meinem Kopf drehten sich die Promille.
Fliegst du jetzt? wollte ich sie fragen.
Ich weiß, es war blöd, aber ich dachte damals, es müsse so sein, so
hart und ... na ja, eben männlich ... Und dass die Mädchen es
eigentlich auch so haben wollten. Aber sie erschrak, als ich sie meine
Hand dort spürte, und ich zuckte zurück.
Gleichzeitig blickten wir beide um uns, ob wir beobachtet worden waren.
Ihr Gesicht flammte. Dann sah sie an sich herunter. “He, meine weißen
Jeans!”: Der Abdruck meiner Curryfinger war deutlich genug.
Sie warf die Kutte ab und ging weg. Nachher tobte sie umso schlimmer
herum, irgendwie drehte sie total auf. Bis ihre Jeans von oben bis
unten schmuddelig waren vom Gras und unserer rötlichen Erde.
Übrigens küsste sie sich gegen Abend hinter der Garage mit zwei oder
drei Leuten, zu denen sie sich hinabbeugen musste.
Ich wusch mir meine Curryhände und suchte ihre Nähe, aber ausgerechnet
mich küsste sie nicht, mich, bei dem sie das Herunterbeugen nicht nötig
gehabt hätte. Da küsste ich schließlich Elän Zibchen, der fiel vor
Schreck die Brille von der Nase, und sie trat drauf.
Daraufhin stieg ich auf mein Garagendach, lag vollgefressen und
angenehm benebelt auf der warmen Dachpappe zwischen Blättern und gelben
Äpfeln versteckt, hörte das Gebrumm der Fliegen und beobachtete meine
Gäste aus der Rex-Perspektive. Ich sah, dass auch Jabw hinter Beate her
war.
Er stellte es selten blöde an: Er zerrte sie am Arm hinter die
Garagenecke, direkt unter mein Versteck, und stammelte hitzig: “Ich
auch mal, ich auch mal!”
Sie wehrte sich kichernd, und erst, als er sie umhalsen wollte, stieß
sie ihn hart in den Magen und schrie: “Putz dir erst mal die Zähne, du
Ferkel!”
Ich warf ihm einen Apfel auf den Kopf.
Später, beim Abschied, gab es noch einen echten Zwischenfall mit ihm,
diesmal war meine Mutter schuld. Sie überreichte ihm vor aller Augen
eine Plastiktasche mit abgelegten Shirts, die sie in aller Eile
zusammengeramscht hatte. Klamotten, die natürlich jeder an mir kannte.
“Sehen Sie mal, die Hemden sind doch noch recht gut!”
Jabws Miene verfinsterte sich.
Sie: “Sie müssen sich nicht bedanken. Rex hat ja heute neue Sachen
gekriegt.
Sie nahm die Teile einzeln aus der Tasche, zum Beweis, dass sie
wirklich noch brauchbar waren: “Eh ich sie dem Roten Kreuz gebe ...”
Sie drückte ihm den Bettel der Reihe nach in die Hand, Stück für Stück,
resolut, als verteile sie milde Gaben an Asylbewerber.
Alle konnten sehen, wie er in seinem mühsam runtergeschluckten Suff
bleich wurde, einige wandten sich ab.
Seine unter der breiten Stirn merkwürdig engstehenden Augen schillerten
vor Kränkung und Wut. Patricia bemerkte die Unmöglichkeit der Situation
immer noch nicht und sattelte drauf: “Ich hoffe, es ist eine kleine
Hilfe, und Ihre Eltern werden sich freuen.”
Da entriss er ihr die Tasche, stopfte das geschenkte Zeug wahllos
hinein und rannte zur Tür hinaus. Auf dem Kiesweg stieß er mit einem
gezielten Seitwärtstritt unseren Zwerg Anita um.
Es war knapp ein Jahr später, da schlug sich Herbert beim Ausstemmen
einer Kabelrinne auf die Daumenwurzel. Fluchend schleuderte er den
Hammer weg und traf den Garderobenspiegel. Seine Erregung war dadurch
aber nicht verpufft - nur scheinbar ruhig stieg er von der Leiter.
Seine Schläfenadern schwollen erst jetzt richtig an, er hob den Hammer
auf und zertrümmerte das gesprungene Glas systematisch weiter, bis kein
Splitter mehr aus dem Rahmen ragte, in stummer Raserei, als wollte er
seine Spiegelbild für etwas bestrafen. Endlich schrie er: “Vierzig
Millionen, vierzig Millionen!”
Patricia kam die Treppe heruntergerannt: “Was ist los, Mann, knallst du
durch?”
Er: “Ich ... knalle ... durch, ... soviel ... es ...mir ... passt!” Er
hämmerte rhythmisch weiter, nun allerdings, da kein Glas mehr zu
zertrümmern war, in die eigene, hohle Hand.
Sie: “Hast du was getrunken?”
Er: “Und wenn? Ich bin ab dreißigsten abgewickelt. Mich gibt’s nicht
mehr.”
Abgewickelt, das war die landläufige Umschreibung des Wortes
arbeitslos. Erst mal herrschte Schweigen, nur das Patschen des Hammers
war zu hören. Patricia holte den Besen und begann, die Scherben aus den
Ecken zu kehren: “Wir haben’s doch kommen sehen, mein stolzer Hirsch.”
In der Tat - Kaiserswartha, unser Nest, das kaum einer in Deutschland
kannte und das meistens noch mit Hoyerswerda verwechselt wurde,
Kaiserswartha fürchtete schon lange den Tag X herbei. Die Treuhand
hatte die Waffia, die “Spezial-technik GmbH”, wie sie offiziell noch
hieß, für die berühmte symbolische eine Mark “verkauft”, an einen
Deutschamerikaner aus Indiana, der im Polnischen, dicht hinter der
nahen Grenze, eine ähnliche Firma unterhielt. Der Ami hatte die
Konversion sofort nach Polen ausgelagert, das Werk in Kaiserswartha
dicht gemacht und bot nun das riesige Gelände samt Produktionshallen
und modernen Maschinen der Treuhandnachfolgerin BvS als Immobilie an -
für vierzig Millionen. Für dieses Geld wollte er die Stadt seiner Väter
Kaiserswartha später mit einem Gewerbepark beglücken.
Ich war der Sohn eines Abgewickelten. Am gleichen Tag rief mich Beate
an und fragte, was mit meiner diesjährigen Geburtstagsfete werden
sollte. Und sie lud mich schon jetzt zu ihrer eigenen ein. Ich legte
auf.
Zu meinem fünfzehnten Geburtstag dann kam als einziger Besuch meine Oma
Nelly aus dem Gebirge, sonst niemand. Familie Kamentz stand unter
Schock.
“Wieder eins von diesen vollklimatisierten Chemoklosetts”, knurrte
Herbert und meinte damit den blanken Reisebus, der vor uns im Stau
stand: v. RIPPERSREUT’S REISETOUR’S GmbH.
Ich: “Die Apostrophe sind beide falsch.
Wir rückten wieder einen Meter vor.
Er: “Ja, Deutsch muss einer heutzutage nicht können.”
“Schlage vor, Ihr wechselt das Thema”, kam es sanft von Patricia, die
im Fond saß. “Mein Hirsch schimpft sich neuerdings so leicht in Rage.”
Aber Herbert war nicht mehr aufzuhalten: “Ha, Kollege Rippersreuth! Als
Abteilungschef in der Waffia war er ‘ne glatte plusminus Null!
Die “plusminus Null” mit der apostrophalen Reklame war aber Beates
Vater, und so sagte ich: “So eine Null kann er nicht gewesen sein,
sonst wäre er nicht Chef geworden. Genau so einer wie du, Papa.”
Herbert haute auf die Hupe: “Fahr endlich, grüner wird’s nicht!”
Das “Chemoklosett” rollte an, kam als letztes unter den Linksabbiegern
über die Kreuzung. Die gläserne Seitenfront blinkte in der Abendsonne,
und das kleine v. vor dem Namen des Firmeninhabers leuchtete signalrot.
Wir standen wieder.
Herbert: “Herr von Adel. Früher hat er den Buchstaben am liebsten
weggelassen, hat Arbeiterklasse gemimt.”
Ich schüttete Öl ins Feuer: “Drei Doppelstockbusse, dazu der Mercedes-
Möbelwagen mit Hänger ...
Ich kannte meinen Vater. Jetzt kam die Sache mit dem Grund- und
Startkapital. Davon konnte bei v. Rippersreuths nämlich nicht viel mehr
vorhanden gewesen sein, als bei uns, bei Familie Kamentz. Im “Sack” war
nichts von einer reichen Erbschaft oder einem Lottogewinn bekannt.
Herbert, prompt: “Woher hat er das Geld für so eine Firma? Ich fress’n
Besen quer, da stimmt was nicht.
Patricia: “Das Geld stimmt jedenfalls. Unser Nachbar hat halt Schwung,
Initiative.”
Das hätte nicht auch noch kommen dürfen.
Er: “So, ich habe also keinen Schwung, keine Initiative? Ich stehe
nicht jeden Morgen punkt fünf Uhr auf?”
Sie: “Das musst du jetzt nicht mehr.”
Er: “Ich tue es aber. Aus Prinzip.”
Sie: “Hör endlich auf, sinnlos zu nörgeln, Mann.”
Er: “Soll ich mir vielleicht bei der Vulkanwerft was suchen? Oder bei
Aerospace? Oder bei Fokker? Europa steht mir ja offen, ha, ha!
Sie: “Und wenn du dich bei der Gardinenwäscherei um die Ecke bewirbst -
sie sind auf Diplomingenieure aus der Waffia nicht scharf.”
Er: “Ich kann ja ein Bestattungsinstitut aufmachen, mit Krematorium
gleich in der Garage, ‘Herbert’s letzter Auspuff’, mit Apostroph, für
mich selber als ersten Kunden.”
Jetzt wurde Patricia ernstlich fuchtig, sie beugte sich nach vorn und
schrie uns beiden in die Ohren: “Mach doch zwei Krematorien auf, drei,
vier, mach was du willst, aber hör jetzt endlich auf zu jammern!”
“Prinzipiell höre ich auf, wann’s mir passt.” Grün. Er gab Vollgas.
Sie plumpste gegen ihre Rückenlehne: “O Gott. Ich krieg noch Krämpfe
bei diesem ewigen ‘prinzipiell’ neuerdings ...”
Vollbremsung in Kreuzungsmitte. Ich flog fast mit dem Kopf durch die
Scheibe. Der Gegenverkehr war zufällig wieder ein Fahrzeug der Firma
Rippersreuth, diesmal ein Kleintransporter.
Den haben sie neu, hätte ich am liebsten gesagt, aber ich beherrschte
meine Wut, mit der ich ganz auf Patricias Seite war.
Endlich hatten wir freie Fahrt. Herbert heizte durch die Löcher,
Patricia war dem Infarkt nah, endlich bogen wir in den “Sack” ein.
Hausnummer 33. Fakt war: Während Herbert sich Granate für Granate
selbst abwickelte, hatte sein ehemaliger Waffia-Kollege knallhart
zugeschlagen. Rippersreuths Einfamilienhaus, einst ein Typenbau wie
unseres, breitete sich jetzt mit neuen Anbauten aus wie das Anwesen von
Steffi Graf.
Ich sah Beate schon von weitem im Sportdress mit dem Racket in der
Hand. Die hohe Mauer, die das Wohnhaus vom Fahrzeughof trennt, diente
ihr als Squash-Wand. Ich hatte genug von meinen streitenden Eltern:
“Ich will aussteigen!”
Die Reifen radierten, ich sprang raus und knallte die Tür zu.
Beate spielte weiter, als hätte sie nichts bemerkt, sagte schließlich,
etwas außer Atem: “Ach du bist’s.” Und fuhr fort, ihre Schläge zu
zählen. Sie war schon bei über zweihundert.
Ich lehnte mich auf den Metallzaun und sah ihr zu. Venustas. Seit
meinem unerhörten “Judogriff” war viel Zeit verstrichen. Von ihrer
Rippenmagerkeit war nichts geblieben, sie hatte sich zur S-Klasse-Frau
entfaltet. Sie trug ihre dichten blonden Haare, die in den Wellentälern
der Locken dunkelblond erschienen, unter einem weißen Frotteeband
gerafft.
Ich wartete, dass sie wenigstens einen Seitenblick für mich erübrigen
würde. Ich dachte: Irgendwann hüpft dir schon der Ball davon. Der tat
mir aber nicht den Gefallen, und sie ließ mich noch eine Weile ihr
heftig bewegtes Profil bewundern, endlich griff sie den aufspringenden
Ball und kam racketschwenkend zu mir an den Zaun.
Beim Gehen hielt sie sich wie ein Tennisstar, drückte bei jedem Schritt
die Knie durch, ihr Hüftschwung war galaktisch. Das Wichtigste aber
waren wie immer die Augen. Grau, ein Schimmer grün, in der linken Iris
entdeckte ich an diesem Tag ein sternförmiges helles Einsprengsel, eine
winzige Anomalie, die ich bei mir sofort “Magnetanomalie” taufte. (In
Gegenden mit starken ferromagnetischen Feldern tanzt bekanntlich die
Kompassnadel. Auch mein innerer Kompass kreiselte wie verrückt.) Beate
war so schön, dass es nur einen einzigen Jungen im ganzen Gymnasium
gab, der zu ihr passen konnte ...
“Wow, dreihundert”, sagte sie rasch atmend und gab mir die Hand über
den Zaun. Sie schwitzte durch ihr Shirt, meine Nasenflügel dehnten
sich.
Ich: “Es ist wegen deiner Geburtstagseinladung ...”
Sie: “Sorry, wir verreisen.”
Ich: “Gebongt. Aber ich kenne einen großen blonden Typ mit v-förmigem
Rambokreuz ...”
Sie: “Ein v-förmiges Kreuz? Total spannend.”
Ich: “Der würde dich gern zu ‘ner Cola-Ouzo einladen.”
Sie: “Hab ich im Kühlschrank.”
Ich: “Vielleicht zu ‘nem Eis?”
Sie: “Hab ich in der Truhe.”
Ich: “Willst du ‘ne Zigarette? Oder hast du die auch in der Truhe?”
Sie: “Alles uncool - ich hab alles. Und hier noch extra was. Mund auf,
Augen zu.
Sie fischte in ihrer Brusttasche, ich dachte, sie wollte vielleicht
einen Kaugummi herausholen, und gehorchte wie ein Fünfjähriger, schloss
die Augen und sperrte den Mund auf. Als ich ihn vorsichtig zumachte,
spürte ich ihren Finger im Mund. Es war der kleine, warm und salzig,
und sie zog ihn wieder raus, dass es ein winziges Flopp-Geräusch gab.
Ich hatte die Augen wieder auf und sah ihre Pupillen ganz nah, die
“Magnetanomalie” vibrierte lustig: “Alter, du hättest mir lieber mal’n
Kuss anbieten können!”
Ich: “Und wenn ich’s jetzt tu?”
“Zu spät!
Hinter mir bremste ein schwarzer Opel Frontera, der berühmte Off-
Roader, Allrad, Geländegetriebe. Beates Mutter, sie lud Einkäufe aus.
Ich half ihr, ein paar Sachen zum Haus tragen. Sie ähnelte ihrer
Tochter sehr, nicht nur, dass sie ebenfalls blond war. Es war die
Stirnpartie, die Wangen mit ihrer jugendlich straffen Haut. Ihr Schritt
war hart und eilig.
Mir fiel nicht schnell genug ein neuer, vernünftiger Grund für eine
Verabredung mit Beate ein, ich dachte, du kannst sie doch nicht einfach
in Gegenwart ihrer Mutter zum Küssen einladen. Ich haspelte: “Ich hab
doch das Paintball-Gewehr. Wir könnten ... wir könnten ein
Scheibenschießen ... du und ich.” Idiotisch. Ich hätte mich ohrfeigen
können, ihr mit so einem blöden Vorschlag zu kommen.
Sie zuckte denn auch die Schultern: “Mal sehen.” Machte auf dem Absatz
kehrt und folgte ihrer Mutter ins Haus.
Decke unter die Luke gehängt, das Loch ist unsichtbar. Dreck im Klo
weggespült. Gefrühstückt.
Wieder das Auf und Ab. Sechs Schritt. Die graue Tür. Kehrtwende, rechte
Sohle, sechs Schritt zurück zur Luke, Kehrtwende, linke Sohle. Tür,
Luke. Tür, Luke.
Nicht auf die drei, vier gelben Ameisen treten auf ihrem Marsch schräg
übers Schachbrett, unter der Seitentür durch, wo das WC gurgelt. Lauft
nur, Ameisen, kleine geschäftige Marschierer, Rex tut Euch nichts, der
Adler fängt keine Fliegen. Und keine Ameisen. Im Klo gibt es
Organisches für Euch, Miasmen ziehen durch meinen Knast. Ich kann die
Luke aufreißen soviel ich will.
Jetzt eine Zigarette! Ach, der erste Zug, nussartig, süß-brandig, das
aufglimmende Papier eine Spur wie angebrannte Milch. Meine Eidetik
funktioniert, auch nach dem Gongschlag über den Schädel: diese
sozusagen plastische Erinnerungsfähigkeit: computergenau gespeichert,
CD-ROM, jederzeit in den Hauptspeicher einlesbar, Dialoge, Wort für
Wort, der Tonfall, die Miene, die Gebärde. Sound, Text und Grafik
sozusagen. Und obendrein, anders als beim Rechner, Gerüche, die
Erinnerung an Berührungen, besonders an die Weichheit und Wärme eines
Körpers. Fast wie live. Fast. Sex im Präteritum. Aber die Wirkung von
Nikotin ist nicht durch Eidetik, nicht durch die lebhafteste Erinnerung
zu ersetzen.
Ich lausche gewöhnlich nicht an Türen, aber ich bekam doch mit, dass
Herbert eine Firma gründen wollte.
Eine eigene Firma! Firma Kamentz!
Wir wollten Mittelstand werden. Mindestens Mittelstand.
Ich stellte mir sofort einen Traumurlaub vor. So weit weg, wie die
Rippersreuthschen Reisebusse nie kommen würden. USA vielleicht. Auch,
dass wir statt unseres popeligen Honda ein BMW-Cabrio besitzen würden,
casablancaweiß. (Beates Vater fuhr einen 500 SL, die Mutter den
Frontera.) Und wie ich über kurz oder lang selbst den “Sack” entlang
pritschen würde wie James Dean, dann schon sechzehn, der einzige Junge
in der ganzen Stadt mit US-Führerschein: Stopp unter Beates Fenster,
dass die Karosse nur so wippt. Hupsignal: lang, kurz, kurz, kurz, das
Morse-B, und wir würden zusammen abzischen, dass unsere Haare flattern,
und einen Kometenschweif von Vanessa
-
Mae
-
Klängen hinter uns herziehen.
Herberts Firma war aber noch Zukunftsmusik. Patricia reagierte
schneller auf die neue Lage der Familie. Eines Tages lud ein
Transporter vor unserer Gartenpforte einen Stapel Kartons ab. Sie
trugen kein Firmenzeichen.
Patricia: “Überraschung!” Sie lächelte geheimnisvoll und unterschrieb
den Lieferschein. “Wird bezahlt von meinem Tenniskonto!
Der Fahrer war noch nicht zur Gartenpforte raus, da war der neue Zoff
schon da.
Herbert: “Willst du ’n Laden aufmachen?”
Patricias Unterlippe schob sich vor: “Noch nichts von der
amerikanischen Methode gehört? Sie garantieren bis zu zweitausend Mark
Nebenverdienst. Können wir doch jetzt brauchen, oder?”
Ins Startgeräusch des Transporters hinein belferte Herbert sie an:
“Aha, bis jetzt habe ich euch wohl nicht anständig ernährt?”
“Bis vor kurzem”, schrie sie zurück.
Das war die Zeit, als sie sich das gegenseitige Anschreien angewöhnten.
In unserem abgelegenen Haus fiel das nur dreien auf den Wecker, ihnen
beiden und mir.
Er stieß mit dem Fuß gegen den Kartonstapel: “Und was hat der ganze
Bettel gekostet, he?” Er fragte nicht mal nach dem Inhalt.
Sie, eisig: “Der ‘Bettel’ wurde, wie gesagt, von meinem Konto bezahlt.
Aber ich verrate dir den Preis, damit du deine Ruhe hast: genau die
Summe, die ich binnen einem Monat doppelt wieder reinhabe!”
Mir fiel auf, dass Patricia anfangs gesagt hatte: wird bezahlt. Und
jetzt: wurde bezahlt. Offenbar war der Handel schon nicht mehr
rückgängig zu machen.
Herbert merkte die kleine Unstimmigkeit nicht. Er schnappte bloß nach
Luft und schwieg. Ich musste die Kartons in den Hobbyraum
hinuntertragen. Ich riss einen Deckel auf und hielt ein zierliches
Kästchen in der Hand. Als ich auch das öffnete, fiel ein geschliffener
Flakon heraus und zersprang auf dem Fußboden. Bald durchzog süßlicher
Fliederduft das ganze Haus.
Die “amerikanische Methode” funktionierte so: Patricia verfertigte eine
Liste und rief der Reihe nach ihre alten Schulfreundinnen an: “Wir
müssen uns doch mal sehen? Mal wieder eine Runde schwatzen?”
Die meisten sagten zu, denn sie wussten noch nicht, was sie erwartete.
Und Patricia wandte sich an uns: “Seht Ihr’s? Der Anfang ist gemacht.
Was man braucht in dieser Zeit, ist Schwung und Initiative.”
Sie kaufte sich ein dunkelblaues Kostüm, in dem sie aussah wie eine
Chefstewardess. Sie war in letzter Zeit fülliger geworden, fast üppig
wie Beates Mutter, was ihr meiner Ansicht nach nicht schlecht stand.
Sie färbte sich auch die Haare neu, sie glänzten blauschwarz.
“Wir machen einen Wettstreit, Hirsch”, sagte sie zu Herbert: “Einen
Wettbewerb, wessen Laden besser läuft.”
Ich: “Was wird denn nun überhaupt mit Papas Firma?”
Aber Herbert spannte uns weiterhin auf die Folter.
Als Patricia von ihrer ersten Tour zurückkam, nahm sie erst mal eine
Tablette. Bei drei Freundinnen war sie gewesen, ihr war schlecht vom
vielen Kaffee.
Eine hatte rundweg abgelehnt. Die zweite hatte eine Palette
pastellfarbene Schminkpuder für vierundzwanzig Mark neunund-neunzig
genommen. Diese “Kundin” war Frau v. Rippersreuth, Beates Mutter.
Patricia war ehrlich zu uns: “Die knalldumme Pute: Mein Gatte hinten,
mein Gatte vorn. Ich sah schon beim Abschied, wie das Geld sie reute.
Und mit welcher Gönnergeste sie mir den Pfennig Rückgabe geschenkt hat!
Zwischen uns ist es jedenfalls gelaufen.
Die dritte Freundin hatte das Kaffeegeplauder von sich aus auf “die
Haut ab dreißig” gelenkt und ihr, Patricia, dann ein Sortiment Cremes
angeboten.
Das Stewardessenkostüm hing seitdem im Schrank. Patricia hat ihre
fliederduftende Ware später nach und nach als Weihnachts-, Oster- und
Geburtstagspräsente unter die Leute gebracht.
Herbert konnte nicht meckern, denn er hatte bisher noch nicht mal
vierundzwanzig Mark neunundneunzig umgesetzt. Seine “Verhandlungen
waren noch am laufen”, wie er sagte. Konkreter wurde er nicht. Nur
flatterten bei Tisch großartige Wörter aus seinem Mund: Investment,
Grundfonds, Rendite, Bankgeheimnis, Anmeldung im Firmenregister, in den
Gelben Seiten. Er erklärte: “Die einen verdienen ihr Geld mit Arbeit,
die anderen mit Geldverdienen. Das ist das ganze Geheimnis.”
Eines Tages mähte er sich den roten Vollbart zu einem Dreitagebart.
“Sieht so ein Chef aus?” fragte er bei Tisch und reckte den nicht
vorhandenen Bauch.
Patricia wusste zu dem Zeitpunkt schon, was ich noch nicht wusste. Ihr
Lächeln war voll trauriger Ironie, als sie uns die Vorsuppe auftat. Es
war eine Spargelbouillon mit Fleischklößchen.
“Bisschen mager wirkst du ohne richtigen Bart, Hirsch”, sagte sie.
Er blickte mich prüfend an, in seinen Augen lag Zweifel. Ich weiß
heute, wie sehr er sich vor meiner Reaktion auf die bevorstehende
Mitteilung fürchtete.
Ich: “Ich platze vor Neugier!”
Patricia: “Bring es ihm ein bisschen behutsam bei, Mann.”
Er seufzte: “Also gut. Es ist nicht gerade ein Geschäft mit
Fliederduft. Im Gegenteil.”
Patricia: “Lass den Fliederduft aus dem Spiel, bitte.”
Er: “Unsere Kästen blitzen nicht vor Lack und Glas wie gewisse
vollklimatisierte Chemoklosetts auf Rädern ...”
Ich: “Soll ich jetzt raten?”
Er: Für das Geschäft benötigen wir sehr teure Spezialfahrzeuge. Zwei
siebenhundertelfer Daimler für je hundertzwanzigtausend Mark. In den
Kästen, die wir transportieren, findet gerade ein Mensch Platz. Der
Inhalt ist voll biologisch abbaubar, ha, ha. Na, dämmert’s?”
“O nein, o nein”, schrie ich.
Patricia: “Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen, Junge.”
Ich stieß meinen Teller weg, dass die Fleischklößchen über den Tisch
hüpften, und rannte in mein Zimmer. Nur zu gut erinnerte ich mich an
den Streit im Auto, von wegen Krematorium “Letzter Auspuff.” Was damals
noch als ein trauriger Witz erschienen war, sollte jetzt Wirklichkeit
werden: Ein Bestattungsunternehmen. Die “Kästen”, das konnten nur die
Särge sein.
Ich sprach tagelang nicht mit ihnen.
Ein künftiger Firmenchef braucht einen gewissen Lebensstil. Teure
Anschaffungen belegen ja, dass der Betrieb gut läuft. Das Wohnzimmer
wurde Büro. Mit neutral-dunklen, geschmackvollen Möbeln, sie durften
keineswegs billig aussehen. Die alte Heizung im Keller, ein
tonnenschwerer Kohleofen, wurde abmontiert und in eine Ecke gewuchtet.
Ich musste helfen, wir schufteten schwitzend, legten Holzrollen unter
wie die alten Ägypter. Zu dem gewissen Lebensstil gehörte eine
Ölheizung im Haus, okay.
Im “Sack”, war kürzlich mehrmals eingebrochen worden. Natürlich tippte
jeder auf das “Gesindel aus Stalingrad”. Unser “Firmengelände” musste
also gegen Diebe gesichert werden. Wieder schwirrten die großartigen
Wörter umher: Investmentfonds, Kreditbank, Bankgeheimnis, neuerdings
brachte Herbert auch immer wieder Patricias eisernes “Tenniskonto” ins
Gespräch. Dabei stieß er allerdings auf taube Ohren.
Die Kellerfenster, die sowieso unter dem Niveau unseres Rasens, in der
Tiefe abgedeckter Luftschächte Staub und Spinnenweben ansetzten, wurden
zusätzlich vergittert.
Wir kauften eine Hochsicherheitshaustür.
Diese Tür hatte sechs Verriegelungen und unter der Edelholzverkleidung
einen Stahlgitterrahmen, in den kleine, braunspiegelnde Glaskassetten
eingelassen waren, sie kostete zehntausend Mark.
Im Zusammenhang mit unserer neuen Firma fiel ein paar Mal der Name des
Dessousreisenden Müller, Hilmar. Dessous waren wohl doch nicht so
gefragt in unserem Landstrich, und der Mann sollte jetzt Herberts
Geschäftspartner werden.
In meiner miesen Stimmung war die Schule der reine Kurbetrieb.
Latein. An der Tafel der Satz: Aquila non capit muscas.
Kasimir Kopp, einunddreißig, geschieden, Import aus der Schweiz, von
den Schülern anfangs Querkopp genannt, später Quasimir, die Ellenbogen
aufgestützt, den triefendnassen Tafelschwamm gegen die kantige
Bauernstirn gedrückt. Sauerheringsstimmung. Durchwachte Nacht. Kasimir
Kopp, Latein und Deutsch, gab eine Kneipensitzung sogar zu, im
Gegensatz zu den anderen Paukern, bei denen man höchstens an der
Wangenmuskulatur sah, wie sie mit geschlossenem Mund gähnten. Quasimir
seufzte tief aus dem Magen und erklärte, die Menschheit der Zukunft
würde nur noch nachts zur Arbeit gehen, wegen des Ozonlochs. Wer von
sieben bis einundzwanzig Uhr vor die Tür müsste, bekäme dann hohe
Tagzuschläge.
Die Blödelei begann: Schule künftig von neunzehn bis null Uhr, ein
Nachttopf würde ein Tagtopf, ein Tagedieb ein Nächtedieb, nächtliche
Raubüberfälle zu täglichen. Ich, im O-Ton Stadt-Kulturspiegel: “Die
Entwicklung der Nacht im Weltmaßstab, Lichtbildervortrag von Herrn
Professor Quasimir Kopp, Schweiz.”
Die Massen lachten beifällig, Quasimir bemühte sich, väterlich zu
grienen.
Jabwonski: “Und die Weiber kriegen ihre Nächte.” Ausgerechnet Jabw war
es, der das dazwischenwarf, einer, der im Unterricht sonst wenig in
Erscheinung trat. Quasimirs Grienen erstarrte.
“Man muss quasi es Gspüri haa för das, was man die Grenzen des guten
Geschmacks nennt”, sprach er eisig. Damals wechselte er noch
gelegentlich zwischen seinem gemütlichen Schweizer Dialekt und dem
Hochdeutschen, und das war für uns das Zeichen, dass er ungemütlich
wurde. Er nahm Jabw mit dem Tafelsatz dran.
Aquila non capit muscas.
Jetzt steckte Jabw fest. “Aquila - der Adler”, das wusste er noch.
Quasimir half weiter, sein Ton war Spott: “‘non’ heißt ‘nicht’,
Jabwonski.
Der Schüler druckste rum, lief rot an.
Quasimir: “Wo ist das Verb, Jabwonski!”
“Capit?” brummte der Schüler in seinen Bart.
Quasimir half: “Das Wort ‘kapieren’ hängt mit capit zusammen. Hopp
Schwiiz, mach scho, Jabwonski.”
Jabw: “Wir werden gesiezt und so.”
Quasimir verlor die Fasson: “Ich entschuldige mich, Sie Vorderlader ...
Verben müssen kommen wie mit dem Sturmgewehr! Also: capere, capio,
cepi, captum. Allez hopp, Jabwonski, wenigstens mal das Präsens: capio
...”
Jabw quälte sich durch den Singular: “capio, capis, capit ...”, bis ich
mit dem Atem eines einzigen Seufzers ergänzte:
“ ...capimus, capitis, capiunt.”
Auf Jabws Platz lag aufgeschlagen ein Exemplar der Waffenzeitschrift
VISIER. Quasimir seufzte: “So goht’s doch net wiiter, Jabwonski. Das
isch ...” Jemand kicherte hinter vorgehaltener Hand, und er wechselte
ins Hochdeutsche: “Sie sollten eine Karriere beim Militär ins Auge
fassen, ernsthaft, Jabwonski.”
Jabw hatte ein seltenes Geschick, “Situationen” heraufzubeschwören. Wie
eben mit seinem schwachen Beitrag von den "Weibern, die ihre Nächte
kriegen", wie Jabw das so nennt.
Ich guckte hinüber zu Beate, die seit einiger Zeit unsere
Schülersprecherin war. Sie hob den rechten Ellenbogen über den Kopf, um
sich das Haar aus der linken Schläfe zu streichen. Rechte Hand, linke
Schläfe, dabei reckte sie nicht nur den Ellenbogen. Ihre Augen unter
gehobenen Brauen zeigten den Ausdruck spöttischen Bedauerns, was etwa
heißen konnte: Was kann ich dafür, dass mir mein volles, Wella-
gepflegtes Haar so ungebändigt ins Gesicht quillt?
Jabws Entgleisung schien ihr gleichgültig.
Sie trug einen weißen Body, absolut nichts drunter. Sogar Quasimir
konnte nicht umhin, von Zeit zu Zeit den Blick in ihre Richtung zu
heben, unter seinem stirnkühlenden Tafelschwamm hervor. Ich vermutete
schon lange, dass sie ihm zu schaffen machte. Bereits damals, als er
uns an ihrem Beispiel das Wort venustas, Anmut, verdeutlicht hatte.
(Ich weiß nicht, ob eine Schülerin einen Lehrer schon auf Grund
gewisser Blicke wegen sexueller Belästigung drankriegen kann.)
Es dauerte, bis Jabw den Sinn des Tafelsatzes entschlüsselt hatte: “Der
Adler fängt keine Fliegen.”
Die Klasse sollte nun sinnentsprechende Wendungen im Deutschen finden.
Wir fanden:
“Keine kleinen Brötchen backen.”
“Klotzen, nicht Kleckern.
Beate verdrehte ein Sprichwort: “Wer den Pfennig ehrt, ist des Talers
nicht wert.”
Quasimir winkte ab: “Knapp vorbii isch au danäbe! Zu kurz gezielt,
Herrschaften!” Und kam auf die Begriffe Würde, Format. Von dem echten
Format, symbolisiert durch die unangreifbare, ruhige Höhe des
schwebenden Königsvogels unterschied er quasi das unflügge Getorkel
junger Raben, die zwar die Flügel spreizen, aber schon aus dem Nest
fallen, wenn sie nur eine Fliege schnappen wollen.
Das alles war echt “quasi” und reichlich unverdaulich, aber beim
“Quasieren” lebte unser Lehrer auf. Er legte nun endlich den Schwamm
weg und strich sich seine braune Haartolle mit Schwung aus der Stirn:
“Und wer über die Frauennatur Witzchen versucht, aber capere nicht
konjugieren kann, ist ein solcher Unglücksrabe ...”
Beate war auf einmal bei der Sache, sie unterbrach ihn kampflüstern:
“Wow, und was haben wir Frauen damit zu tun? Wir lassen uns solche
Vergleiche nicht gefallen!” Sie hatte recht. Quasimirs gutgemeinte
Reihenschaltung Adler-Rabe-Frauennatur war für sich genommen schon
wieder einer Beleidigung. Die Schülersprecherin war aufgestanden, beata
venustas, sie blitzte den Lehrer an und erhielt lautstarke
Unterstützung von anderen Mädchen, besonders von Elän Zibchen, unserer
Klassenbesten. (Der Klassenbeste war ich.)
Quasimir blinzelte verwirrt: “Was für Vergleiche? Ein logischer
Fehlschluss, ein Missverständnis, meine Damen! Ich habe doch gerade
Ihre Würde verteidigt!”
Sein Blick nahm einen Ausdruck von Wehmut an.
Ich beobachtete Jabw. Er trug heute wieder mal eins von meinen
abgelegten Muscle-Shirts, es umspannte seinen Brustkasten wie eine
Wursthaut. Nein, ein torkelnder junger Rabe war der nicht. Eher ein
junger Wolf. Seine Kiefer mahlten. Es war jetzt bleich. Ich ahnte, er
würde diese Stunde noch ausrasten.
Jabwonski, Stefan, unser Prolo, war von Kopf bis Fuß ein armer Schuft.
Manchmal kreuzte er in einer gemausten Klamotte auf, Boss oder Nike
oder Adidas, die er zwei, drei Tage auf dem Hof reklametrug und dann
verscheuerte. Und während die übrige Klasse permanent in Markenware
leuchtete, hatte er dann wieder das alte, zu enge Zeug an.
Er wohnte in “Stalingrad”, das sagt alles. Elfgeschosser, Dreck, Krach:
soziales Wohnen. Niemand kann dafür, ob er hier aufwächst oder da. Aber
unsere Klasse war fast nur aus Leuten mit sattem Background
zusammengewürfelt, mit richtigen Elternhäusern, wir waren fast alles
Einzelkinder mit gesegneten Taschengeldern, ausreichendem
Zensurendurchschitt und Zukunftschancen. Wer da bloß in Sport was zu
bieten hatte und nicht wenigstens rumlief wie Jonny Depp oder Keanu
Reeves, der konnte sich ‘ne Pfeife anzünden. Tja, und wenn er dann noch
aus “Stalingrad” kam ...
Jabw klebte auf seinem Stuhl. Seine Gesichtsfarbe wechselte erneut, er
flammte, als ihm Quasimir eine Fünf eintrug.
Es klingelte. Quasimir erhob sich und verschwand mit knappem Winken.
Die Arena für das, was folgte, war unser Karee aus Tischen. Jabw
pflanzte sich vor Beates und Eläns Platz auf. Seine Stimme grollte aus
seinem Brustkasten hervor wie ein Gewitterdonner: “Alles wegen Euch,
Ihr stinkenden Mütter!”
Mich packte Zorn. Auf den hergelaufenen Strolch. Auf das arme Schwein.
Auf den Secondhandtyp. Ich flankte über meinen Tisch, setzte ihm die
Faust aufs Ohr. Sein Kopf flog zur Seite wie ein Punchingball, zuerst
war in seinen Augen nur Verblüffung. Er griff in die Tasche.
Ich sprang zurück und nahm Verteidigungsstellung ein.
Aber er sah mich nur feindselig an, machte kehrt und federte
breitspurig hinaus. Ich frage mich heute, woher meine Überreaktion auf
seine merkwürdigen “stinkenden Mütter” kam. Ich denke, es war eine
Vorahnung, die meine eigene Lage betraf.
Der Pausenhof. Ich hatte es früher manchmal extra so eingerichtet, dass
ich den Hof allein betrat. Hatte mir den Joke gemacht, mit meiner
Swatch die Sekunden oder höchstens Minuten zu stoppen, bis jemand in
meinem Fahrwasser schwamm. Zwei Minuten war das Äußerste, dann hatte
ich Gesellschaft.
Die Jungen kamen meistens mit Computerfragen: “Rex, mein Pentium stürzt
dauernd ab, oder das Bild hat weiße Streifen, oder alles verzerrt sich.
Was soll ich nur machen? Das Spiel hab ich ganz neu!”
Ich: “Wann hast du den Rechner gekauft?”
Er: “Vor zwei Jahren.”
Ich: “Liest du nicht die POWER PLAY? Es kann an der Serie liegen.
Werkstatt aufsuchen. Checken lassen, ob dein Pentium den berühmten
serienmäßigen Rechenfehler hat.”
Er: “muss ich extra den ganzen Tower hinschleppen?”
Ich: “Du brauchst auch bloß den Prozessor auszubauen. Wenn du’s kannst:
Lüfter runternehmen, Plastikhebel anheben, die schwarze Platte mit
Beinchen, aber vorsichtig ...”
Er: “Danke, Rex, du bist der Größte.”
Die Mädchen kamen mit Scheinfragen, nur, um mit mir anzubändeln: “Rex,
was hast du bei der dritten Aufgabe raus?”
Ich, als müsste ich mich erst erinnern, welche Aufgabe die dritte war,
sehe mir die Fragerin an und entscheide, ob ich sie schnell abfertigen
werde oder ein bisschen Small Talk mache.
Sie: “Na, die Aufgabe, wo das Verhältnis vom Umfang des Kreises zu
seinem doppelten Radius zu bestimmen war.”
Ich (angenommen, sie hat Gnade gefunden): “Die drei war ‘ne
Scherzfrage. Das Verhältnis von Umfang zum doppeltem Radius des Kreises
ist die Ludolfsche Zahl p, sie beträgt dreikommavierzehn. Willst du sie
genauer wissen?”
Sie: “Ach ja, bitte, Rex!
Ich: Dreikommaeinsviereinsfünfneunzwosechsfünfdreifünf ...”
Sie denkt, ich mache Spaß, fängt an, überlaut zu lachen, und schon
gucken die anderen Mädchen her, neidisch, dass da eine von mir so gut
unterhalten wird.
Dieses Spiel nannte ich “Klettensammeln”. Ein privates Politbarometer,
meine Beliebtheit war messbar mit der Uhr.
Voll Grauen dachte ich an diesem Tag an die Zukunft. Bald würde meine
Leben trist und einsam sein. Ich setzte probehalber die
Leichenbittermiene auf, die die Menschheit künftig von mir erwartete.
Bei dem neuen Institut meines Vaters.
Heute aber verging nicht mal eine Minute. Da kam Beate. Und in ihrer
Spur Elän Zibchen. Sie bedankten sich bei mir. Elän sagte, ich hätte
die Ehre aller Frauen der Welt gerächt, aber mit der Faust hätte ich es
nicht machen dürfen.
Ich: “Mit Psychotherapie?” (Die Predigerstochter wollte mal
Psychotherapeutin werden.)
Da Elän viel kleiner war als Beate und ich, sah es ganz natürlich aus,
wenn sie sich beim Spazieren zwischen uns hielt, so war eine
Unterhaltung zu dritt am bequemsten. Aber ich fand eine Unterhaltung zu
dritt durchaus nicht bequem und fragte, um sie loszuwerden: “Ich kenne
da eine Helene bei Wilhelm Busch, die ach so tugendhafte fromme Helene.
Sprichst du ihretwegen deinen Namen lieber französisch aus?”
Sie biss sich auf die Lippe und trottete weiter zwischen uns her.
Ich versuchte es anders: “Hast du ‘ne neue Brille?”
Elän: “Sie fallen mir immer runter. So wie damals, auf deinem
vierzehnten Geburtstag. Das ist jetzt schon die dritte.
Ich: “Immer, wenn dich jemand küsst, fallen sie runter, hm?” Ich sah
aus dem Augenwinkel Beates Lächeln.
Elän nahm das neue Gestell sogar von der Nase: “Von Fielmann, ohne
Zuzahlung!”
So können nur Mädchen mit den besten Zensuren sein, dachte ich. Wir
schritten gerade an den Fahrradständern vorbei, hinter denen es wie aus
Schornsteinen qualmte.
Beate: “Sieh doch mal zu, Elän, ob du für uns drei Zigaretten schnorren
kannst, sei so nett.”
Da begriff Elän endlich und ließ uns allein.
Wir gingen eine Weile weiter, der Abstand blieb zunächst der alte, als
warteten wir beide auf Eläns Rückkehr. Aber Elän kam nicht, und auf
einmal war Beate bei mir und fasste nach meiner Hand. Ein knapper Griff
aus dem Handgelenk, als wenn sie einen springenden Ball schnappt. Und
wieder guckten wir uns unwillkürlich beide um, ob uns jemand
beobachtete. Aber die allgemeine Aufmerksamkeit gehörte im Moment -
Jabw.
Der war dicht umringt. Vorwiegend Jüngere, keine Leute aus dem Gymmi,
sondern Realschüler, die mit unsereinem Schulhaus und -hof teilen,
Knirpse mit Brandlöchern in den Ärmeln vom Zigarette-Verstecken. Sie
staunten ihn an für einen seiner Tricks mit dem Sprungmesser. Feixend
hielt er es in der hoch erhobenen Hand und ließ es auf seinen
vorgestreckten entblößten Fuß niederfallen. Im letzten Moment, man sah
es schon spießen - in der letzten Millisekunde zog er den Fuß zurück,
die Klinge steckte fast bis zum Griff im Sand. Mitten im Fußabdruck.
Die Übung klappte zehnmal hintereinander.
Einer von seinen kleinen Fans, ein spitzer Junge mit einer
Hasenscharte, probierte es auch, sogar Jabws Feixen versuchte er
hinzukriegen. Es kam, wie es kommen musste - zweimal zog er den Fuß vor
dem Loslassen des Messers weg, beim dritten Mal traf er seinen großen
Zeh. Es blutete fürchterlich, der Kleine biss die Zähne zusammen und
gab keinen Laut von sich. Bei dem Anblick krampfte sich Beates Hand in
meine.
Das ist der Unterschied zwischen uns, Stefan Jabwonski, dachte ich
besänftigt und zufrieden. Du dienst dich mit deinen Kunststückchen bei
den Kids an, ich halte die Hand des schönsten Mädchens der Welt.
Zwischen uns liegen Welten. Der Adler fängt keine Fliegen.
Ich dachte in diesem Moment nicht an die Zukunft. Eine total schöne
Stimmung erfasste mich, ich war stolz - und, ja, vermutlich glücklich.
Am Abend spielte ich mit Beate Squash und küsste sie unter einem
Holunderstrauch hinter ihrem Haus und, als es anfing zu regnen, setzten
wir uns in den halbverfallenen Pavillon, der noch von früher her auf
dem Rippersreuthschen Grundstück steht. Es war einfach irre.
So vergingen die wochen. Eines Nachmittags nahm sie mich mit ins Haus.
Weißer Vorsaal, Strukturtapete, Stilleben: Blumenvase mit abgefallener
Rosenknospe, Tautropfen.
Beate legte den Finger auf den Mund.
Ich stieg im Gleichschritt hinter ihr treppauf. So knarrten die Stiegen
wie unter einer Person.
Aus einem entfernten Raum kam die Stimme der Mutter: “Bist du’s, schon,
Dad?”
Beate: “Ich bin’s nur, Mom.”
Die Mutter: “Ach du, Bea. Schleppst du irgendwas Schweres? Klingt ja
wie anderhalb Zentner!”
Beate: “Nur meinen Rucksack mit den Büchern, Mom!”
Dad, Mom. Ich kam mir vor wie in einer amerikanischen Serie, aber das
störte mich im Moment nicht.
Beate öffnete mir ihr Reich, im wahrsten Sinne des Wortes. “Nordic
Design”, flüsterte sie und drehte ihre Tonanlage bis zum Klirrfaktor
auf. Vanessa Maes Geigenklänge. Von unten rief die Mutter wieder
irgendwas, wir verstanden aber absolut nicht, was sie meinte.
Ich sah mich um. Das Zimmer war freundlich und voll Licht und sogar
aufgeräumt. Ich wollte dazu was bemerken, aber sie kam mir zuvor, indem
sie ihre Hände hinter meinem Nacken verschränkte: “Seit einer Woche
mach ich Ordnung. Heute war ich mir auf einmal sicher, dass ich wollte,
dass du raufkommst.” Sie goss sich an mich und streifte mit ihrem Mund
meinen. Dann zog sie mich zur Tür, wir drehten gemeinsam den Schlüssel
herum. Wir mussten nah beieinander bleiben, wegen der Verständigung,
wegen Vanessas Geige.
Da war noch eine zweite Tür, ohne Schlüssel. Beate sah meinen Blick:
“Da drüben steht bloß Daddies Computer, vollgepackt mit
Geschäftsgeheimnissen, der interessiert sich nicht für uns.”
Wir umarmten uns erneut und fielen auf den flauschigen Teppich. Wir
lagen Auge in Auge nebeneinander, die “Magnetanomalie” in ihrer Iris
tanzte.
Und wieder spürte ich eine solche Wolke von Glück wie noch nie in
meinem Leben. Es war, als wenn man statt eines erhofften Geschenks
plötzlich viel mehr bekommt als man sich träumen ließ, etwas, das also
nicht ganz dem Traum entspricht, das irgendwie anders ist, aber noch
viel schöner, süßer, etwas Grenzenloses, Leuchtendes, das einen
vollständig einhüllt, in Besitz nimmt vom Kopf bis zu den Zehenspitzen.
Dieses Etwas hatte merkwürdigerweise eine Farbe: Himmelblau.
Ich: “Fliegst du jetzt?”
Sie: “Total. Und du?”
Ich: “Ich auch. Zur Sonne. Du bist die Sonne.”
Sie: “Du bist der Mond, mein Alter.”
Ich: “Wie bitte? Ich bin der Mond?”
Sie bestand darauf, dass ich der Mond sei.
Ich: “Halbmond oder Vollmond?”
Sie: “Neumond, mein Alter.”
Ich: “Aber dann bin ich ja gar nicht zu sehen?”
Sie: “Ich seh dich ja auch nicht.”
Wenn ich heute dran denke - ein Dialog wie in einer Heimatserie
(blühende Wiese, azurner Himmel, im Hintergrund der Bodensee) nur das
Geflüster war lauter.
Sie schloss die Augen. Ihre Lider schmeckten nach Salz wie ihr Finger
damals. Wir versenkten die Münder ineinander, fahrig und doch zögernd
gingen meine Hände auf Wanderschaft. Auf einmal bekam ich freiwillig
angeboten, was ich mir als vierzehnjähriger Judoka aus Frechheit
genommen hatte. Auch das war es wohl, das “andere Geschenk”, das, was
ich nicht erwartet hatte. In meinen bisherigen Vorstellungen von
Mädchen hatten der Bio-Unterricht und der “adult mode” bestimmter PC-
Spiele die Hauptrolle gespielt. Und als hätte meine schöne Beate meine
Gedanken erraten, sagte sie:
“Siehst du, so ist es doch viel cooler” - sie schmiegte sich dicht an
mich und knöpfte meine Jeans auf. Ich wollte das bei ihr auch tun, aber
da begannen wie verrückt meine Augen zu tränen. Es war wohl eine
allergische Reaktion auf die Teppichfasern. Ich drehte mich weg.
Als ich mich wieder umwandte, lag Beate steif auf dem Rücken, guckte
zur Decke.
Sie: “ ...du schon mal?”
Ich: “Nein, du?”
Sie: “Ich glaub dir nicht. Die Statistik besagt, das heute schon viele
Jungen mit fünfzehn ...”
Ich: “Hast du die Statistik von Elän Zibchen?”
Sie: “Und wenn?”
Wir lagen beieinander, wollten einander haben, und irgendwas war
zwischen uns.
Sie: “Das nächste Mal, ja?” Sie streichelte mein Haar, zauste mit dem
Finger meine Brauen: “Deine Brauen - sie sind immer total hell im
Sommer ...” Aber ihr Finger bürstete gegen den Strich, die Glückswolke,
die mich eben noch eingehüllt und getragen hatte, zog sich zurück,
verflüchtigte sich. Ernüchtert stützte ich mich auf den Ellenbogen:
“Was hat dein Vater für’n Rechner?”
Sie erschrak ein bisschen: “Der Rechner? Ist der wichtig? Ach ja, für
dich, du alter Freak. Antiker Kasten jedenfalls, der Rechner, gleich
nach dem Herbst neunundachtzig, ein Geschenk von Geschäftsfreunden.”
“Da hattet Ihr doch noch gar kein Geschäft?”
“Spannend, ja? Kein Geschäft, aber Geschäftsfreunde. Damals haben alle
Erwachsenen rumgekungelt, wenn sie konnten. Was weiß ich? Ein paar
scharfe Karossen haben ein paar Mal bei uns gehalten. Ein Amerikaner
war dabei, aus Indiana, Kartoffelnase, Farmertyp, mit dem musste ich
mit Champagner anstoßen, so klein und spillrig ich damals noch war.”
Ich: “Du warst nie spillrig, nie im Leben.”
Sie lächelte: “Es war um Weihnachten, meine Mom hatte sich extra ein
grünes Partykleid zugelegt, Tänzchen unterm Christmas tree und so
weiter, aber wir mochten den Typ beide nicht. Aber Marktwirtschaft ist
eben Marktwirtschaft, hat mein Dad gesagt, da passt man sich an, und
außerdem ist der Kartoffelnasige bei weitem nicht bloß Farmer.”
Sie redete zu viel für ein Mädchen, das mit einem Jungen auf dem
Teppich liegt. Und irgendwie fand ich mich schäbig, dass ich sie reden
ließ. Trotzdem hätte ich echt gern mal den alten Computer
durchgecheckt. Meinen Vater Herbert hätte die Sache sicher
interessiert. Von wegen Startkapital für eine Firmengründung.
Aber was soll’s, dachte ich. Und plötzlich, wie auf ein geheimes
Kommando, drehten wir uns wieder zueinander. Beate begann mich zu
streicheln durch den Stoff durch, und vorsichtig tat ich es bei ihr
auch. So bereiteten wir einander Sonne, Mond und eine himmelblaue
Milchstraße.
Nachher saßen wir noch ein Weilchen auf dem Teppich, halb voneinander
abgekehrt, und ihr Finger malte in den Flausch: I LOVE REX.
Und ich sagte: "Ich dich auch."
Am Tag unserer Firmeneröffnung, die, wie es angemessen schien, “im
kleinen Kreis und in aller Stille”, stattfinden sollte, wollte ich
nicht mal in der Nähe sein, deshalb fuhr ich zu Großmutter Nelly ins
Gebirge, kam erst mit dem Frühzug wieder zurück und nahm gleich den Bus
zur Schule.
Quasimir benahm sich merkwürdig, anders als sonst. Nicht, weil er vom
Lehrbuch abwich - das tat er immer. Aber er schien irgendwie amüsiert
und besorgt zugleich: Er schrieb an die Tafel den Kurzsatz: Non olet.
Ein “Quasierstunde”:
“Titus, der Sohn des Imperators Vespasian, tadelte einmal seinen Vater,
weil der eine kaiserliche Steuer auf die öffentlichen römischen
Bedürfnisanstalten erhoben hatte. Diese Abgabe hielt er eines
Herrschers für unwürdig. Vielleicht”, sprach Quasimir, “vielleicht hat
Titus sogar den berühmten Satz vom Adler zitiert, der keine Fliegen
fängt.
Daraufhin hielt der Kaiser seinem Sohn ein Geldstück aus der
Tageseinnahme unter die Nase, und der junge Mann musste zugeben, dass
es nicht stank. Non olet also: Es stinkt nicht. Geld stinkt nicht.”
Unterdessen bohrte und hämmerte es im Schulhaus, dass die alten Wände
zitterten. Quasimir leitete aus seiner Story zwei Grundhaltungen ab:
Die “adlige” des Titus, der sich mit schnöden Klo-Gebühren nicht
abgibt, und die mehr plebejisch-bürgerliche des Vaters, der auch
Entgelte für eine doch gemeinnützige Dienstleistung nicht verschmäht.
Beides aber waren Standpunkte innerhalb ein und derselben
Kaiserfamilie. Wir sollten uns das zur Lehre dienen lassen. Und zum
Trost.
Ich verstand nicht, warum Quasimir die Geschichte die ganze Zeit in
meine Richtung erzählte. Was hatte ich mit Kaiser Vespasian zu tun?
Auch die anderen begriffen es nicht und zuckten die Achseln.
In der großen Pause wollte ich zur Schülertoilette. Von hier aber kam
das Bohren und Hämmern. Da hing ein Schild: WEGEN BAUMASSNAHME
GESCHLOSSEN.
Draußen, entlang der Schulhofmauer, stand eine Reihe blauer Häuschen.
Sie wurden bereits fleißig aufgesucht, die Mädchen standen Schlange.
Sie aßen und tranken dabei und unterhielten sich, und als ich näher
kam, grüßten einige mit merkwürdigem Gekicher.
Als ich an der Reihe war, trat Jabw heraus, er schlug die Tür zu und
zeigte auf das Firmenlogo, ein neckisches Zwerglein mit
heruntergelassener Hose, in einer Sprechblase stand: Mach’s flott!
“Das Apostroph ist richtig”, sagte ich noch ahnungslos.
Er zeigte auf die kleingedruckte Firmenadresse:
Mobile Sanitäranlagen
Verleih und Service
H. Kamentz & Partner
02699 Kaiserswartha, Am Sack 45
Telefon ...
Jemand schlüpfte eilig vor mir in die Zelle, riegelte zu. Und obwohl
ich dringend mal musste, brach ich in Gelächter aus und konnte nicht
wieder aufhören. Ich spürte, wie eine Irrsinnswut in mir hochkam. Ich
hörte mein gellendes Gelächter über den Hof hallen, von den
Ziegelmauern zu mir zurückspringen, während mir gleichzeitig die Tränen
übers Gesicht schossen. Ich rastete aus, begann, die verfluchte Kabine
hin und her zu schaukeln. Von drinnen kam weiblicher Protest, ich
schaukelte wie ein Besessener und schrie: “Mach’s flott bei Firma
Kamentz, Mach’s flott bei Firma Kamentz, der Inhalt ist biologisch
abbaubar!
Mit einer letzten, verzweifelten Kraftanstrengung warf ich das Häuschen
auf den Rücken. Die Tür öffnete sich, und heraus kletterte triefend
Elän Zibchen.
Das alles war so schnell gegangen und hatte die Zuschauer derartig
verschreckt, dass niemand eingeschritten war. Jetzt erst hielten ein
paar Zwölfer mich fest, ihre Klammergriffe waren eisern, obwohl das gar
nicht mehr nötig war. Ich war fertig. Die Mädchen kümmerten sich um
Elän und führten sie dann weg.
Der Aufsichtslehrer kam, Quasimir. Er brachte mich ins Lehrerzimmer,
redet auf mich ein: “Dass dich das so schlimm mitnimmt, hab ich nicht
geahnt, Junge, du brauchst ein dickeres Fell, so eins wie Kaiser
Vespasian.” Er träufelte mir Beruhigungstropfen auf ein Stück Zucker.
Ich lehnte ab. Er rief zu Hause an.
Patricia holte mich im Honda. Vor unserer Einfahrt parkte eins der
neuen Spezialfahrzeuge, ein siebenhundertelfer Daimler. In hygienischem
Weiß, mit dem Tank für das Lösungsmittel, dem kleinen Kran, dem
gerippten Absaugrohr, der Transportbühne für die Benutzerkabinen.
Mit letzter Kraft erreichte ich das Bad. Ich war drei Tage krank. Der
Klassenprimus war der Sohn eines Klomannes.
Als ich nach den drei Tagen wieder in der Schule aufkreuzte, dachte
ich, es gäbe Theater mit Elän. Aber das blieb aus. Ich ging hin und
entschuldigte mich. Sie sagte “schon gut”. Ein wenig spitz höchstens.
Dann Beate. Ein Gefühl der Unsicherheit hatte ich seit meinem
Ausflippen. Ich war mir fast sicher, dass Beate meinem Blick ausweichen
würde. Um das nicht zu erleben, guckte ich sie meinerseits nicht an.
Oder höchstens verstohlen. Sie wirkte irgendwie fremd. In der Hofpause
erblickte ich sie hinter den Fahrradständern umringt von rauchenden
Zwölfern. Sie reckte das Kinn, blies sich Qualm ins Pony. Pony? Erst
jetzt nahm ich sie eingehender in Augenschein: Neue Frisur: Ihre
Haarflut war hoch im Nacken zu einem Zopf gestrafft. Elän stand
natürlich auch dabei und paffte.
Beate sah mich kommen und sagte: “Ich werde wohl mal eine mit Freunden
qualmen dürfen.” Als hätte ich ihr das verboten.
Cool tun, dachte ich.
Ich zündete mir auch eine an. Hängte mich sogar in das Gespräch, das
gerade lief. Es ging um Raubkopien der neuesten Action-Spiele. Wing-
Commander II war schon out, im Kommen war das schwer verbotene Doom,
bei dem man den Gegner mit der Kettensäge außer Gefecht setzt. Jemand
hatte ein Tauschangebot, ich hatte auch eins, und wir wurden
handelseinig. Die Zwölfer ließen sich mit keinem Blick, mit keiner
Geste anmerken, dass sie sich an meinen Skandal erinnerten.
Elän trat ihre Zigarette aus und verschwand diskret in Richtung der
blauen Häuschen.
Beate griff nach meiner Hand. Ihre Finger waren kühl. Nur als einer von
den Klassenkameraden an meine Adresse witzelte: “He, Titus, nimmt Papa
Vespasian für den Anfang Schnupperpreise?” zuckten die Finger und
wollte sich öffnen. Es half nichts, dass sie sich in ärgerlicher
Selbstüberwindung gleich um so fester schlossen und dass ihre
Besitzerin in mühsamer Lockerheit fragte: “He, Alter, was ist?” Ich
machte mich los.
Ziegel wackelt mit leichtem Knirschen, verhakt sich. Noch immer der
erste. Arbeit im Kauern, ich sitze auf den Fersen. Die Berührungsfläche
zwischen Waden und Oberschenkeln klebt, in den Kniekehlen beißt der
Schweiß, juckt ekelhaft. Ich verlagere mein Gewicht auf die
Kniescheibe. Kniet man so in der Kirche? Ha, ha, wie ein Buß-Beter,
einer, der an diesen unglaublichen Gott glaubt, für den sie so viel
Werbung machen.
In meiner Halb-Ohnmacht neulich ein Traum: Ich bin in eine Betonröhre
gekrochen, die beim Weiterkriechen immer enger wird, ein
langgestreckter Konus. Eine zweite Öffnung, ein Ausgang existiert
offenbar nicht, Dunkelheit, Atemnot, Ich stecke plötzlich fest, will
zurück, kann aber nicht, hinter mir drängen andere nach. Ich weiß, es
gibt keine Rettung, außer, es gelingt mir aufzuwachen ...
Der Handrücken, überall kribbelt und krabbelt was. Ich klatsche zu, die
Haut beginnt zu brennen. Ich zerreibe zwischen den Fingerspitzen
Ziegelstaub und zwei oder drei lebende Krümel. Sie wohnen vermutlich in
der Wand. Je tiefer ich kratze, desto mehr Ameisen. Je mehr ich mich
kratze, desto mehr juckt es. Soll das so weitergehen? Soll ich hier
verfaulen? Soll das ihre Rache sein? Wollen sie mir einen Denkzettel
verpassen? Immerhin haben sie meine Kopfwunde versorgt, als ich ohne
Bewusstsein war, immerhin füttern sie mich. Ich werde sie auf keinen
Fall um etwas bitten. Wenn Schweigen zu ihrer Taktik gert - Schweigen
kann ich schon lange.
Blick hinauf zur Luke. Zwischen den Ritzen des Abdeckrosts jetzt schon
der Mond. Er kriecht. Grillen zirpen. Die Nacht riecht nach Heu.
Jetzt eine Zigarette. Ein Königreich für ‘ne Zigarette!
Auf dem stillgelegten Werkgelände der Waffia gibt es genug Pisten aus
Betonplatten, Brachgelände. In einer schwachen Stunde hatte mein Vater
versprochen, mir das Autofahren beizubringen. Als Entschädigung für
alles, was ich wegen seiner Firma mit dem Bildchen vom hingehockten
Gartenzwerg (Ich nannte sie bei mir nur “Firma Flott”) hatte erdulden
müssen und voraussichtlich noch erdulden würde. An diesem Sonntagmorgen
waren wir ganz früh hinausgebrummt. Das Werktor stand einladend offen,
hing schief in den Angeln, von Brennnesseln zugewachsen. Wir umfuhren
die verrosteten Slalomhindernisse der einstigen Hochsicherheitszufahrt,
hielten, Herbert schaltete die Zündung ab. Wir tauschten die Plätze:
“Anschnallen!”
Schon aus Kleinkindertagen kannte ich das Wahnsinnsgefühl, am Steuer zu
sitzen und mit aller Kraft zu kurbeln. Auch am Joystick kriegt man ja
schon ein Gespür für das Fahren. Und mit meinem Mo hatte ich sowieso
nie Probleme. Aber es ist was anderes, wenn man hundertzehn PS echt zum
ersten Mal starten soll mit Kupplung und Gas.
Das Herz pumpte mir unterm Kinn. Ich umspannte fest die Lederumkleidung
des Lenkrads. Ich schluckte, aber ich hatte Mühe, genügend Spucke
zusammenzukriegen.
Aber er wollte erst mal reden. “Denkst du, mir macht das alles Spaß?”
Ich: “Grade so ‘ne “Firma Flott”? Der Adler fängt keine Fliegen!”
Er: “Sprüche wurden für jede Gelegenheit erfunden. Und für einen wie
mich gilt: Friss Vogel, oder stirb.” Er lachte unfroh. “Und überhaupt.
Früher hat unsereins hier in Kaiserswartha Tod und Verderben
produziert. Weil die’s drüben auch gemacht haben. Die ganze Stadt
wusste es. Aber niemand hat uns schief angeguckt. Noch viel weniger,
als wir das Teufelszeug endlich entsorgten. Und jetzt entsorgen wir
halt - " Er zuckte mit den Schultern. "Und unser Lösungsmittel ist ein
friedliches Algenextrakt und tatsächlich biologisch abbaubar. Dass sie
dich dafür anflaxen sollen? Das ist doch halb so schlimm.”
Ich. “Du erlebst es ja nicht.”
Er: “Und wenn. Du kannst dir’s raussuchen. Entweder du machst gute
Miene, passt dich ein - sonst bleibt dir doch nur das Sozialamt - oder
du fackelst das Ganze überhaupt ab, machst den Feuer unter den Sessel.
Übrigens brauchst du dazu kein TNT und kein hoch verestertes,
umständlich mit Äther und Alkohol behandeltes Zellulosenitrat, sondern
bloß Streichhölzer. Wie die Chaoten, die zur Zeit die Supermärkte
niederbrennen. Bitteschön - nach dieser Gesellschaftsordnung kommt
sowieso die kriminelle Revolution. Die ist ja schon auf dem Marsch.
Wenn du das Chaos beschleunigen willst?”
Vom “Feuer-unter-den-Sessel-machen” war bei ihm ja schon die Rede
gewesen. Und auch davon, dass einer wie er an Sprengstoff hatte
rankommen können. Wie beiläufig sagte ich: “Glaube kaum, dass das mal
funktioniert hat, hier, bei der Waffia Schießpulver klauen.”
Er begann, nach seiner Angewohnheit, mit dem rechten Daumen in der
linken Handfläche zu bohren: “Wie kommst du auch auf so was? Man redet
manchmal was daher. Wir hatten zuletzt den Verfassungsschutz im
Betrieb. Die Art und Weise der Kontrollen allerdings ...” Er
verstummte.
Ich: “Welche Art und Weise?”
Er: “Zufalls-Stichproben. Und nur am Werktor. Dreh jetzt den
Zündschlüssel nach rechts!”
Die Katastrophe kam nicht wegen des üblichen Anfängergeruckels. Diese
Sache klappte bei mir überraschend gut. Wir rollten fast
vorschriftsmäßig los. Mein Puls hatte sich beruhigt, ich genoss das
einmalige Machtgefühl, wenn einem die Kiste unter dem Hintern
weggleitet, nur durch ein winziges Tippen mit dem großen Zeh.
Herbert: “Zweiter Gang, zweiter Gang!”
Ich lachte und schaltete gleich in die drei.
Ab ging die Post. Ich bog von der zentralen Betonstraße ab ins
ehemalige Testgelände, wo jetzt manchmal die Faschos ihre Übungen
abhielten. Entlang der ausgefahrenen Lehmpiste wucherte abgestorbenes
Ginstergestrüpp.
Ich beschleunigte. Wir wurden bis zum Wagenhimmel geschleudert, mit
einem Seitenblick sah ich, dass Herbert die Luft anhielt, sich in die
Polsterwülste krallte, dass er Angst hatte. Dem stolze Hirsch sauste
der Frack!
Hat mich das angestachelt, noch schneller zur fahren? Ich weiß es heute
nicht mehr. Freilich, jetzt war er einmal mir ausgeliefert, so wie
Patricia und ich sonst ihm, wenn er am Steuer seinen Rappel bekam! Und
Patricia hatte ja so recht: Andere Väter waren erfolgreich, und das
nicht mit jämmerlichen “mobilen Sanitäranlagen” ...
War es also Mutwillen? Oder bekam ich bei dem in der Tat beängstigenden
Tempo auf einmal doch Probleme mit den drei Pedalen, für die ich doch
nur zwei Füße hatte?
Er quetschte zwischen den Zähnen hervor. “Bist du komplett wahnsinnig
geworden? Gas weg!”
Die Kurve sah ich rechtzeitig, fand sogar die Bremse, bis ich glaubte,
die Strecke wieder zu überblicken.
“Bist du komplett wahnsinnig!!”
Etwas schliff und knirschte, ein Schlag traf meine rechte Schulter, wir
saßen fest. Und lagen schief. Stille. Nur das Knacken des verreckten,
abkühlenden Motors.
Von Herbert kam ein Stöhnen. “Bist du ... komplett ...”
Ich betastete mein Schlüsselbein. Es hatte gehalten, der Gurt auch. Ich
nickte.
Sein Kinn zitterte wie im Schüttelfrost: “Mein Bein, mein Bein ...”
Ich kriegte meine Tür auf und kroch nach draußen. Der Honda hing
seitwärts in einem frisch ausgehobenen, sehr langen Laufgraben. Am
Boden lagen Bierdosen und ein Stück MG-Patronengurt. Wir waren
mindestens vier Meter weit auf den rechten Achsen gerutscht und am Ende
des Graben ins Erdreich geprallt.
Ich sprang hinab und versuchte von unten, Herberts Tür aufzukriegen. Es
ging nicht. Sein Kopf lag halb auf der Scheibe, das Kinn zitterte. Ich
riss noch einmal an der Klinke, ein verzweifelter Ruck, mein Vater
kippte langsam aus dem Auto, hing im Gurt, er löste die Sicherung
selbst, ich fing ihn ab und ließ ihn auf den Boden des Grabens gleiten.
Er stöhnte tief: “Mein Bein ...”
Mir war zum Heulen: “Ich kann nix dafür, Papa, ich kann nix dafür ...
Plötzlich der Graben ...”
Das Kinn hörte für einen Augenblick auf zu zittern: “Wie sieht’s von
vorne aus?”
Dass er jetzt an die Karre dachte! Ich stemmte mich aus dem Loch und
besah den Schlamassel. Rechter Scheinwerfer, Spoiler, Kotflügel in den
feuchten Dreck gebohrt, ein einziger Knautsch. Die Motorhaube
hochgebeult. Der gesamte Motorblock rechts mindestens dreißig
Zentimeter in den Fahrgastraum gedrückt.
Herbert richtete sich auf und lehnte sich im Sitzen an die Lehmwand.
Ich gab Bericht, er betastete seinen rechten Unterschenkel und
versuchte, die Hose heraufzuziehen. Der Fuß stand normal, aber das
ganze Bein war mindestens eine Spanne zu kurz, so dass die Hosenröhre
dem Balg einer Ziehharmonika glich. Das Flattern seiner Hände war für
mich schlimmer als sein Gestöhn.
Aber dann riss er sich zusammen. Ich musste das Handy suchen. Es
klemmte unter dem Bremspedal, funktionierte. Er rief seinen Partner in
der Firma an, Müller, Hilmar, den vormaligen Dessous-Händler. Der kam
innerhalb einer Viertelstunde mit einem unserer weißen
Spezialfahrzeuge. Er überblickte die Lage, kratzte sich unter seinen
angegrauten Haaren: “Ihr Leute, Ihr Leute!”
Sein gemütlicher Bauch unterm Overall und die tiefe Stimme, seine ganze
bedächtige Art beruhigten mich ein wenig. Zu zweit hievten wir Herbert
aus dem Graben und verfrachteten ihn auf den Beifahrersitz des Daimler.
Herbert konnte wieder fluchen, war aber blass wie ein Laken.
Trotzdem ging es nicht sofort los. Erst mal wurde der Honda aus dem
Graben gehoben. Die eingedrückte Schnauze in der Luft, hing er
schließlich an dem Kran, der sonst die blauen Häuschen schwenkte.
Ich wurde beauftragt, das schiefgebeulte Handschuhfach auszuräumen.
Währenddessen berieten die beiden in der Kabine des anderen Autos, ich
konnte nicht hören, was sie redeten.
Hilmar beugte sich schließlich heraus: “Du gehst jetzt zu Fuß nach
Hause, Junge! Und zu niemandem eine Silbe! Du weißt von nichts, das ist
ein Befehl, verstanden?” Die Stimme hatte einen metallischen Ton
bekommen, war plötzlich eine Waffia-Stimme, sie duldete keinen
Widerspruch. Mir war auch nicht danach.
Die Fuhre setzte sich in Bewegung, ich folgte auf Schusters Rappen.
Unterwegs sah ich dann den Honda im Straßengraben, lebensecht gegen
einen angeschabten Baum gesetzt. Die zerknautschten Teile von
Lehmresten gereinigt. Ein Bilderbuchunfall.
Herbert behauptete später, er wäre durch einen PKW voll Jugendlicher
von der Fahrbahn abgedrängt worden. Mich ließ er bei seiner Darstellung
gänzlich aus dem Spiel.
Er lag sechs Wochen im Krankenhaus. Operation folgte auf Operation. Ich
ging Tag für Tag zur Besuchszeit hin. Saß an seinem Bett und wusste
nicht, was ich reden sollte. Ich hatte Schuldgefühle und konnte sie
nicht aussprechen. Nach seiner Entlassung lief er an Krücken und konnte
nicht fahren: den Honda nicht, der war hin. Einen Daimler von der
flotten Firma auch nicht, denn sein Gasbein war nicht belastbar.
Die Versicherung hatte irgendeinen Verdacht und verweigerte die
Zahlung. Eine Anzeige aber blieb aus, denn Herbert kannte den Vertreter
gut, einen ehemaligen Kollegen. Wo in Kaiserswartha saßen keine
ehemaligen Kollegen? Und ich musste noch mal und noch mal schwören, von
nichts zu wissen.
Ich schwor. Vielleicht als Gegenleistung zeigte Herbert sich
mitteilsam, erzählte er mir, was ich kurz vor unserer Crashfahrt hatte
wissen wollen - aus momentaner Neugier. Ich hatte nach der
Nitrozellulose nicht noch einmal gefragt, so wichtig war sie mir nicht.
Damals. Später gewann die Sache beträchtlich an Bedeutung.
Also, die sogenannte Konversion bei der Waffia lief so: Ob Panzerfaust,
ob Granate, der Inhalt wanderte unmittelbar nach der Entleerung in
Plastikbeutel, die zugeknotet, nummeriert, plombiert und registriert
wurden, um später verbrannt zu werden. Aber bröselte nicht bei jedem
Arbeitsgang eine Prise von dem “Teufelszeug” auf die Arbeitsplatte? Man
brauchte es nur mit der Hand in einen Extrabeutel zu wischen, den man
später unbeobachtet durch den Werkzaun schob: Die Zeiten der Wachtürme,
der Doppelzäune, der scharfen Hunde an den Laufdrähten war seit Jahren
vorbei. Pro Tag konnte ein einziger Mitarbeiter so die stattliche Menge
von einem halben Kilo beiseite schaffen.
Mein Vater: “Das macht im Jahr ...”
Ich: “Schon gut. Mathe kann ich selber.”
Während Herberts Krankenhauszeit hat dann Müller, Hilmar die “Firma
Flott” merkwürdig flott in tiefrote Zahlen gefahren. Fehleinschätzung
des Marktverhaltens, Missmanagement, Herbert tobte. Später begann er zu
argwöhnen, dass das “Missmanagement” von einem gewissen Jemand, der
sich für unser Haus und Grundstück interessierte, ferngesteuert war,
wenn auch nicht von Anfang an. Ein zweites Dutzend der blauen Kabinen
war unnötigerweise angeschafft worden, dazu ein dritter
Spezialtransporter. Der Partner mit der überzeugenden Stimme hatte
Herbert am Krankenbett immer weitere Investitionen eingeredet, während
er selbst schon seinen Ausstieg vorbereitete - er hatte eine feste
Anstellung als Fahrschullehrer in Aussicht.
Die Bank kannte kein Erbarmen.
Vergleichsverfahren, Zwangsversteigerung, Sequestor, so hießen die
neuen Themen bei Tisch. Und wieder und wieder das alte Thema: Patricias
“Tenniskonto”.
Ich aber hatte da noch nicht im geringsten kapiert, was das alles für
mich bedeutete.
In den Sommerferien war mein Aufenthalt bei Großmutter Nelly nicht
freiwillig. Angeblich wurde mein Typ da dringend benötigt, Nelly war in
der Badewanne ausgerutscht, hatte einen blauen Ellenbogen und brauchte
angeblich Hilfe. Ich musste sie auf den Friedhof zu Großvater
begleiten, sie traktierte mich mit Pudding, mit alten Storys von der
Familie und mit Lebensweisheiten: “Bosheit macht unglücklich, Unglück
macht böse.” Alles in dieser Art.
Sie hatte nicht mal Telefon, ich schrieb drei Briefe an Beate, die mit
“Hallo Sonne” begannen und bekam zwei Antworten mit einem ernüchternden
“Hallo Rex”.
Noch jetzt rätsele ich, warum meine Eltern mich nicht später haben
zurückkommen lassen, nachdem zu Hause alles gelaufen war. Vielleicht
hofften sie, dass plötzliche Hektik, unvorbereiteter Stress mich
ablenken, meinen Protest in Grenzen halten würden. Vielleicht dachten
sie: Action, das ist es doch, was der Junge immer will.
Ich habe für Action gesorgt.
Ich kam mit dem Mittagszug wieder in Kaiserswartha an, hatte auf einmal
eine böse Vorahnung und nahm vom Bahnhof aus gleich ein Taxi. Als ich
ausstieg, stand vor unserem Haus ein Möbelwagen. Zuerst dachte ich,
jemand zieht bei uns ein, ein Untermieter vielleicht, ein Wessi-
Verwaltungsmensch oder ein Bankschlips, der einen Haufen Miete bringt.
“Aber nicht in mein Zimmer”, rief ich und rannte dass der Kies auf dem
Gartenweg nur so spritzte.
An der Stelle, wo Herberts Anti-Gartenzwerg Anita gehockt hatte,
krümmten sich Regenwürmer.
Im Haus dann: Rumoren und Möbelrücken, Männerstimmen hallten, ich
erfasste mit einem Blick die bereits leergeräumte Küche.
Mein Zimmer schien noch unberührt. Von der Wand sprang mir Bruce Lee
entgegen, ich entdeckte den Rumtopf, der damals alljährlich nach
Großmutter-Nelly-Rezept angesetzt wurde, und den sie aus irgendeinem
Grund bei mir sichergestellt hatten. Ich riss die Schranktüren auf:
Meine Klamotten war schon eingepackt.
Ich drehte den Zimmerschlüssel im schloss herum und schrie: “Mit mir
nicht!”
Herberts Stimme: “Junge, schließ auf, es hat doch keinen Zweck, sei
vernünftig!”
Ich: “Ich will nicht vernünftig sein! Das ist mein Zuhause!”
Patricia: “Spiel nicht plötzlich den Zehnjährigen, Rex! Es fehlt nur
noch, dass du mit den Füßen stampfst - was sollen die Möbelmänner
denken!”
Draußen war Stille eingetreten, ich hörte nur das gelegentliche Knacken
der Treppenstufen, die Männer verharrten und hörten zu, wie sich die
Sache mit mir entwickeln würde. Ich hatte also Publikum. Ich schrie:
“Sie sollen alles wieder reinstellen!”
Herbert rüttelte an der Klinke: “Komm lieber raus und hilf, es gibt
genug Arbeit!”
Ich gab keine Antwort mehr, und die Belagerung wurde vorläufig
aufgehoben. Sie rechneten wohl damit, dass ich nach ein paar
Trotzminuten von selbst zur Vernunft kommen würde. Aber ich dachte
nicht daran, Aufruhr durchglühte mich: Das war mein Vaterhaus, das war
mein Garagendach, mein Klarapfelbaum ...
Mein Paintballgewehr stand unberührt hinter dem Schrank. Ich streifte
die Segeltuchhülle ab. Schüttelte den CO2-Tank, er war noch fast voll.
Ich schraubte ihn an, im Magazin klapperten an die vierzig Schuss,
Farbe pink. Vom Fenster aus konnte ich über Sträucher und Gartenhecke
hinweg das Möbelauto anvisieren. v. RIPPERSREUTH’S UMZÜGE EUROPAWEIT
las ich, das Signalrot der Buchstaben heizte zusätzlich meinen Zorn an.
Ich befand mich in einem ähnlichen Wutrausch wie nach Herberts
Firmeneröffnung, als ich eines der Häuschen auf dem Schulhof attackiert
hatte. Ich kannte das Gefühl der Raserei, wusste, dass ich mich
lächerlich machte, und konnte doch nicht dagegen an. Es war ein
Rückfall in die Kinderzeit, okay, ich war der kleine Junge, den man zur
Oma schickte, wenn es ernst wurde.
Ich stellte mich aufs Fensterbrett, kippte das Oberlicht und hängte es
aus den Scharnieren. Nun hatte ich sogar eine Auflage für meine Gewehr.
Die Kugeln pfatschten aus dem Lauf, durchpfiffen in einer
Zehntelsekunde die Distanz, auf der Seitenplane des Möbelwagens
breiteten sich prachtvolle pinkfarbene Kleckse aus.
Die ersten Schüsse kriegte niemand mit, aber sie bewirkten, dass ich
ruhiger wurde, meine Wut kühlte ab, wurde allmählich eiskalt. Ich
ballerte nicht weiter drauflos, sparte Munition. Erst wenn die Träger
erneut mit einem Möbelstück kamen, drückte ich ab. Jetzt merkten sie,
was lief. Es gab draußen eine ziemlich lautstarke Beratung mit Herbert,
der sich daraufhin zwischen seinen Krücken querbeet zu mir herüber
schwang. Er stand ungedeckt unter meinem Fenster.
“Ich hab keine weiße Fahne dabei, Junge”, sagte er.
“Denkst du, ich muss lachen?” schrie ich. Ich zielte eine Weile auf
seinen Kopf und sprang dann ins Zimmer zurück.
Sie dachten, damit wäre die Sache nun endlich ausgestanden. Ich wusste,
dass sie das dachten. Ich blieb ungefähr eine halbe Stunde auf meinem
Bett sitzen. In meiner Verbissenheit habe ich mich über den Rumtopf
hergemacht. Ich soff das starke Zeug gleich aus dem Steingutgefäß, die
Beeren kullerten mir rechts und links übers Kinn. Nach einer
Viertelstunde war ich total bekleckert und besoffen und bezog wieder
Stellung am Fenster.
Ein Schuss hat einen im Nacken getroffen, der Treffer war erst pink,
dann tropfte es dunkelrot.
Sie brachen die Tür auf, ich wurde überwältigt, und mehr weiß ich
nicht. Ich lag fast einen ganzen Tag ohne Bewusstsein. Diagnose:
Alkoholvergiftung. Ich wachte auf in einem Kabuff von Zimmer im
siebenten Stock in “Stalingrad”. Meine Möbel umdrängten mich wie in
einem Secondhandladen.
Vom Fenster aus blickte ich auf den linken Teil eines langgestreckten
Balkons. In der Ecke reckte unser Anti-Gartenzwerg Anita das
Hinterteil. Jenseits der Betonbrüstung markierte die einförmige Skyline
der benachbarten elfgeschossigen Wohnsilos meinen zukünftigen Horizont.
Ich schloss meine Elektronik ans Netz, saß tagelang vor dem Monitor.
Warcraft 2 - Beyond The Dark Portal. Ich erreichte den Eingang zur Orc-
Welt. Turalyon öffnete ihn, indem er den Leuchtkreis betrat. Zuvor
richtete ich einiges Unheil an und zerstörte alle Hochburgen der Horde,
säuberte das Land Azeroth von den Orcs.
Am Dunklen Portal errichtete ich ein schloss, ein Rathaus und eine
Kaserne. Im Osten hatte ich stets den Finger am Abzug, ein Zucken
genügte, der plötzlich aufgetauchte Feind war platt, und der
nachträgliche angenehme Schrecken über die ausgestandenen Gefahr saß
mir zwischen den Schulterblättern. Ich baute das Gold ab und
rekrutierte damit neue Paladine.
Oder ich lag auf dem Teppich und studierte meine POWER PLAY. All die
Spiele, die darin besprochen wurden, Wing-Commander II und III, Doom,
Duke Nukem, Warcraft, wie sie auch hießen und funktionierten - sie
trainierten Reaktionsschnelligkeit, ökonomischen Einsatz der Waffen und
Hilfsmittel, taktische Schläue, Strategisches Denken. Wenn ich eine
große und starke Truppe um mich geschart hatte, vernichtete ich alle
Menschen (blau).
Patricia riss mich aus meinen Studien und Siegen- mit Küchenaufträgen.
Mit Anfragen, ob ich Schularbeiten gemacht hätte. Ich sollte die Treppe
wischen, weil sie selbst immer mal Probleme mit ihren Bandscheiben
bekam - da allerdings weigerte ich mich kategorisch. Das war Anfang
August, Beginn der zehnten Klasse. In ein paar Tagen würde ich sechzehn
sein.
Die Story mit dem blutiggeschossenen Möbelmann schien für mich gelaufen
zu sein. Patricia hatte die Sache geregelt und dazu tatsächlich ihr
berühmtes “Tenniskonto” angezapft, dessen Höhe nicht mal Herbert
kannte, und mit dem sie seine Firmenpleite nicht verhindert hatte.
Sein Bein erholte sich nur langsam, er hinkte in der Wohnung auf und ab
wie ein lahmer Tiger, wenn auch meist schon ohne Krücken. Die standen
überall im Weg. Er nannte sie seine einzigen Gehilfen und meinte Geh-
Hilfen, das sollte ein Witz sein.
Einmal fielen sie klappernd um und rissen eine Porzellankanne vom
Tisch.
Patricias Nervenkostüm war auch nicht mehr das stabilste: “China Blau!
Mann, kannst du nicht aufpassen?
"Lass mich!" schrie er sie an. "Ich humpel hier herum, wie der letzte
Invalide. Alles vertan. Alles erledigt. Was soll denn werden?"
Ich litt unter seinen Qualen. Aber ich konnte auch diesmal nicht auf
ihn zugehen, ihm sagen, es tut mir leid. Mein Vater war nicht mehr der,
den ich von früher kannte, und ich war selbst zu frustriert, hier in
"Stalingrad", im 7. Stock. Er musste manchmal einen gewaltigen Grimm
haben auf mich, die Ursache des Unfalls, ich spürte es. Aber er sprach
das Thema nicht an.
Er hatte sich seine Firmenchef-Dreitagestoppeln abrasiert. Sein nacktes
Gesicht wirkte klein, die Furchen von den Nasenflügeln herunter zu den
Mundwinkeln glichen Messerkerben.
Patricia legte ihm die “Rundschau” auf den Tisch. Er blätterte. Dann
ein Foto, wie mit gelb-rotem Pinselstrich markiert: Ein Schlipstyp,
Studiobräune, Nasenbrille, kaum wiederzuerkennen der gewesene Nachbar,
Bodo Freiherr v. Rippersreuth (43), einflussreichster Mittelständler,
unentbehrlicher Arbeitgeber und Steuerzahler unserer Stadt, frisch
nachgerückter Abgeordneter seiner Partei im Stadtparlament. Herr v.
Rippersreuth plante, so stand zu lesen, seinem Fahrzeugpark ein
Taxiunternehmen sowie eine Fahrschule anzugliedern.
Herbert fegte die Zeitung vom Tisch, besann sich dann, bückte sich
mühsam, mit abgestrecktem Bein, und klaubte die Kannenscherben einzeln
auf das Papier, genau auf das Foto. Patricia beobachtete ihn dabei. Ihr
Blick war starr..
Später hat er die Kanne wieder zusammengeklebt.
Eines Nachts hörte ich die Wohnungstür schnappen. Ich war aber zu
verschlafen, um darin ein Problem zu entdecken. Plötzlich rüttelte mich
Patricia: “Papas Bett ist leer!”
Ich knurrte. “Er holt Zigaretten, lass mich schlafen ...”
Sie: “Wenn er wenigstens noch rauchen würde! Los, aufstehen!”
Ich: “Ist er im Schlafanzug los? Dann nachtwandelt er.”
Sie: “Spinn nicht rum. Er hat sich angezogen.”
Sie zerrte mich an den Haaren aus dem Bett. Rannte aus dem Zimmer, kam
wieder, die Wäscheleine in der Hand: “Gott sein Dank, das ist es
nicht.”
Ich hatte mittlerweile Balkontür und Fenster kontrolliert. Sie waren
verriegelt. Auch die Flasche Johnny Walker, die noch von der
Firmeneröffnung her vorrätig war, stand ungeöffnet im “Büroschrank”.
Ich stolperte im Korridor über Herberts Krücken. Er konnte nicht weit
sein. Das alles beruhigte uns aber nicht. Wir fahndeten noch im
Treppenhaus, im Keller, beide in Schlafsachen.
Standen dann dicht nebeneinander am dunklen Küchenfenster. Patricia
meinte, dass es ihn beunruhigen müsste, wenn er bei seiner Rückkehr
Licht sähe, dann wüsste er, dass wir seinen Aufbruch bemerkt hatten und
uns Sorgen machten. Vielleicht klärte sich ja alles ganz harmlos auf.
Sie knüllte den Pyjamakragen in meinem Nacken: “Ihr seid alle beide
schwierig in letzter Zeit.”
Sie roch gut. Anders als Beate, herber, aber gut und altvertraut. Ich
war für einen Augenblick noch einmal ein kleiner Junge. Das letzte Mal,
dass ich das war.
Nach mehr als zwei Stunden hörten wir den Fahrstuhl. Wir stürzten zur
Wohnungstür. Herbert schleppte schwer, wie der berühmte Jesus auf
seinem Golgathaweg an seinem Kreuz.
Patricia unterdrückte ein nervöses Lachen..
Es war unsere Hochsicherheitshaustür aus dem “Sack”, die er
anschleppte: Sechs Riegel, die braunspiegelnden Glaskassetten in
Edelstahl gefasst.
Herbert verkündete mit der Stimme eines mattgekämpften, aber
siegreichen Boxers, er hätte bei unserem Auszug sämtliche
Zweitschlüssel des Hauses unterschlagen. Und da ein neuer Besitzer noch
nicht eingezogen war, hatte er die Tür problemlos aufschließen und aus
ihrer Verankerung hämmern und hacken können.
“Zehntausend Mark”, stöhnte er zufrieden. “Morgen inseriere ich in der
Rundschau.” Er war fix und fertig. Wir zogen ihn aus und brachten ihn
zu Bett. Sein Bein war geschwollen und klumpig wie eine überreife
Zucchini. Er ließ sich von Patricia kalte Umschläge machen und japste
vor Schreck, als das nasse Tuch die weißrasierte Haut berührte.
“Und meine Johannisbeersträucher hole ich mir auch noch ...
Und schon schlief er.
“Eine Survival-Maske hat er aufgehabt!”
“Eine Survival-Maske? Spinnst du?”
“Wenn ich dir’s sage! Eine schwarz-rote. Sie sagen, er hat auf dem
Fensterbrett gestanden bei jedem Schuss gebrüllt: ‘Volltreffer,
Volltreffer!’”
“Ich lach mich scheckig. Dass der’n Sprung in der Schüssel hat, siehste
dem nicht an. In ‘ner Survival-Maske und mit Paintball gegen ‘n
Möbelwagen!”
In der Schule war die Verteidigung meines Zimmers offenbar allgemeines
Gespräch. Todsicher zusammen mit meiner Klo-Show auf dem Schulhof.
Ins Gesicht sagte mir niemand was. Und gerade weil niemand was sagte,
spürte ich, dass ich erledigt war. Ein Zehner mit 'ner Survivalmaske
schießt mit dem Paintball auf den Möbelwagen. Mein Ansehen war hin, da
konnte ich zehnmal ein ausgebuffter Computerfreak sein, die Zahl p bis
zur zehnten Dezimalstelle runterrasseln können.
Beates Gesichtsausdruck blieb reserviert, wenn ich ihren Blick suchte.
Schob sie nicht sogar die Unterlippe vor? Sie war jetzt täglich von
Zwölfern umringt.
Und ich mied die Runde.
Einmal, wie zum Trotz, probierte ich meinen Beliebtheitstest, den Test
mit der Uhr. Nach fünf Minuten kam - Elän Zibchen. Fragte mich Latein.
Das Verb pingere, malen.
“Das englische paint kommt daher, stimmt’s?”
Ich brummte was.
Sie: “Paintball. Das würde mich schon mal interessieren. Kaliber
achtsechs, Geschossenergie siebenfünf Joule ...
Ich: “Wie unauffällig du das Gespräch auf den Punkt bringst. Echt mal.
Hast dich informiert, was?”
Sie: “Ja, natürlich. Man will doch nicht dumm dastehen. Wir könnten
doch mal ...”
Ich stöhnte.
Sie: “Gib mir ‘ne Zigarette.”
Ich zündete mir umständlich eine an und gab ihr keine. Nicht mal das
vertrieb sie: “Rex, sagte sie sanft, “Du hast doch Probleme! Entkrampf
dich, sprich dich mal aus ...”
Ich: “Ich bin übergeschnappt, ja? Ist es das? Ich brauche
Psychotherapie, ja?”
Sie seufzte besorgt: “Ja, vielleicht brauchst du die.”
Die Hälfte ihrer Brillengläser war von Kondenströpfchen blind. Sie nahm
die Brille ärgerlich ab und rieb sie an ihrem Jackensaum blank. Auf
ihren glänzigen Nasenflügeln sah ich die roten Abdrücke des Gestells:
Elän hatte sich tatsächlich auf dieses Gespräch vorbereitet und
schwitzte nun, dass sie ihren selbsterteilten Auftrag auch ja voll
erfüllte. Sie merkte nicht, wie sie mir auf den Nerven rumtrampelte.
Sie beschämte mich zusätzlich.
Ich blaffte: “Ich bin noch kein Pflegefall, dass ich ‘ne
Krankenschwester brauche! Hau ab, Fielmanngestell! Geh zu deiner
Beate!”
Ich habe innerlich gejubelt, als Quasimir einen Spruch an meine Adresse
richtete, mit dem er mich richtig auf die Schippe nahm, wie man es mit
einem Geisteskranken nicht tut. Er jedenfalls hielt mich noch nicht
reif für die Klapsmühle. Der Satz lautete: Rex pulex in Africam et
multum in plus.
Ich saß da. Das Wort pulex kannte ich nicht, wollte mich aber nicht
blamieren, und hoffte es aus dem Zusammenhang zu erraten. Ich fand
keinen. Das Subjekt war klar, rex, der König. Rex pulex - eventuell:
der große, der mächtige, der siegreiche König? Keine Ahnung.
Quasimir: “Wo ist das Verb, Kamentz!”
Ich wusste, als Prädikat musste ein Verb da sein, wenigstens ein
kleines, aber ich sah keins.
Er: “Weiter: In Africam.”
Ich: “Nach Afrika.”
Er: “Gut der Mann. Multum?”
Ich: “Viel.”
Er: “Plus?”
Ich: “Mehr.”
Von den anderen kam auch niemand hinter den Sinn, nicht mal, als
Quasimir die Bedeutung von pulex bekannt gab: der Floh.
Der Spruch war ein Schülerscherz aus seiner Jugend. Er funktionierte
nur mündlich und sollte heißen: Der König floh nach Afrika und fiel ins
Meer.
Zum erstenmal in meinem Leben, dass Leute auf meine Kosten laut
lachten. Mir ins Gesicht, wenigstens das. Sie lachten so, wie es das
Witzchen eigentlich nicht hergab. Es war wie nach einem Autostau, der
sich plötzlich in Wohlgefallen auflöst, nein, es war ein Staudamm, der
da brach, eine Wand aus Rücksichtnahme gegenüber dem armen Rex, und ich
lachte beinah von Herzen mit und sah Quasimir dankbar an.
Und Quasimir schob noch ein Sprüchlein nach, als Trostpflästerchen:
Quam diu habebis salem, fame non morieris. Solang es dir an Salz nicht
fehlt, wirst du nicht Hungers sterben.
Er erklärte, dass Salz bis ins Mittelalter hinein eine Kostbarkeit
gewesen sei, eine Währung, fast wie Gold. Aber er übersetzte den Spruch
“quasi” modern: Auch wenn du im Betonviertel wohnst, bist du noch lange
nicht am Ende. Es gibt genug Leute auf der Welt, die überhaupt nicht
wohnen."
Ich warf ein, dass mich die allerdings im Augenblick einen Dreck
interessierten. Da sah er mich lange an und antwortete: "Wenn ich so
dächte, dann wär ich ein extremer Rechter." Und er kam auf den
Unterschied zwischen Rechten und Linken. "Die einen denken nur an sich
und die eigene Misere, die anderen dagegen überlegen, wie es mit der
Menschheit weitergehen soll."
War ich jetzt ein Rechter?
In der zweiten Hofpause wollte ich mit Beate reden. Aber es war wie
jetzt schon ein paar Mal: Sie hatte gerade Wichtiges zu erledigen. Sie
ging ein Stück beiseite, ich sah sie mit dem Handy am Ohr. Kurz darauf
hielt vor dem Hoftor ein neues Fahrschulauto des Großunternehmens
Rippersreuth, der Fahrlehrer, es war kein anderer als Herberts
ehemaliger “Partner” Hilmar, stieg aus und öffnete die Rücktür. Beate
lief hin und griff vom Sitz etwas Flockiges. Als sie damit näher kam,
erkannte ich ein junges weißes Hündchen.
Ein Malteser, ein teures Rassetier, ein seidiger Kläffer mit gelockt
behaarten rosa Hängeohren und stumpfer Nase. Beate hatte der Klasse die
Show versprochen: Eine Hundetaufe.
Die Mädchen riefen “Niedlich!” Auch die Jungen grinsten, als sie das
Tier mit in die Klasse brachte.
Sogar Quasimir. War es die Lateinstunde? Oder Deutsch?
Der flockige Winzling machte sich sofort bei allen beliebt, indem er
einfach der Reihe nach an allen Beinen schnupperte.
Jemand fragte. “Männchen oder Weibchen?”
Beate bückte sich und streichelte ihn ausgiebig: “Ein Männchen.”
Sie kauerte genau vor mir, aber von mir abgewandt, ich sah den
gebeugten schlanken Nacken, den hoch ansetzenden, irgendwie arrogant
wirkenden Zopf.
Jemand: “Und wie soll er heißen?”
Beate ließ sich den nassen Tafelschwamm bringen, träufelte daraus
feierlich ein paar Tropfen auf den Hundekopf: “Ich taufe dich auf den
Namen Rex Pulex. König Floh. Komm zu mir, Rex Pulex!”
Sie richtete sich auf, venustas, tat ein paar Schritte zurück, sodass
ich zur Seite treten musste. Purer Zufall, dass der Hund wirklich zu
ihr gewackelt kam, als hörte er bereits auf den Namen. Er wurde auf den
Arm genommen und auf die Nase geküsst: “Damit ist die Taufe vollzogen.
Er nieste und blickte aus schwarzen Knopfaugen von einem zum andern.
Sie trug ihn zu Quasimir, drängte ihn dem Verdutzten in den Arm, und
zwar mit solcher Bestimmtheit, dass der Lehrer einfach zugreifen
musste. Er wurde puterrot, setzte das Tier ungeschickt und fast
ärgerlich zu Boden.
Da kam es zu mir getrippelt, umrundete mich halb, begann zu knurren und
schnappte zu. Wie Nadeln drangen die Zähnchen zwischen Jeans und
Schuhen in meine Achillessehne. Ich keilte mit dem anderen Huf aus, mit
solcher Wucht, dass das Scheusal jaulend gegen ein Tischbein flog. Ich
griff meine Sachen und verließ die Szene.
Die Bisswunde war nicht tief. Was tief saß, war eine Verletzung anderer
Art.
Nun sah ich durch. Und wie ich durchsah, Beate v. Rippersreuth! Die
blauen Kabinen auf dem Hof, den Sohn eines Toilettenmanns, dergleichen
konnte die S-Klasse-Dame noch verkraften. Gerade noch. Geld stinkt ja
nicht. Was stank, war die Armut! Da mied man besser die Berührung wie
bei einer ansteckenden Krankheit. Ha, ha, I LOVE REX, hattest du das
nicht mal mit dem Finger groß in deinen Luxusteppich geschrieben? Jetzt
war Rex abgeschrieben. Welche Ehre, dass du dein Wuscheltier noch nach
ihm benanntest! Rex pulex! Damit alle was zu lachen hatten. Ja, ich
hatte den Durchblick! Und alle sollten es künftig sehen: So wie ich
eben, so führte sich einer auf, der nichts mehr zu verlieren hat. Ein
Prolo aus “Stalingrad”. Ich werde euch allen beweisen, was in mir
steckt, dachte ich. Wer will noch einen Tritt?
Draussen wird es hell. Enormer Betrieb bei den Ameisen. Das
Ziegelwrack, vom Werkzeug benagt, schwer in der müden Hand. Wohin
damit? Einfach links neben die Tür, die nicht weiter aufgeht als
fünfzehn, zwanzig Zentimeter. Selbst, wenn sie den Kopf hereinstecken
würden, könnten sie den Ziegel und alle folgenden im toten Winkel nicht
sehen. Übrigens stecken sie den Kopf nicht herein. Sie wissen, dass ich
gewalttätig bin. Ich könnte ja versuchen, die Tür, statt sie
aufzustoßen, ranzuziehen. Und sie hätten den Hals im Spalt ...
Ein durchgestreckte Hand würde mir auch schon genügen, als “Faustpfand”
sozusagen für Verhandlungen. Aber selbst damit sind sie vorsichtig: Das
Essen schieben sie auf dem Fußboden mit einer morschen Zaunlatte durch,
mit der sie auch den von mir bereitgelegten Beutel mit den Abfällen
nach draußen ziehen - ich bekomme sie nicht zu Gesicht.
Jetzt erst mal aufs Ohr krachen, die lahmen Knie strecken. Die
Wolldecke kratzt. Die Finger zerschunden, jeder Knochen wie nach einer
Folterung. Die Handnarbe pulst. Eigentlich sind das ja schon mal zwei
Narben. Wie viele Verwundungen habe ich überhaupt? Die Hand - Einstich,
Austrittsöffnung. Die Achillessehne: Hundebiss. Ein gebrochenes, aber
sauber verheiltes Nasenbein. Eine Beinah-Hodentorsion (O-Ton Arzt). Ein
Messerstich im linken Spann. Die Kopfwunde fast heil, bald kann ich sie
ebenfalls als Narbe verbuchen.
Ich traf Jabwonski im nahegelegenen Aktivmarkt. Er trug diesmal eine
Schild-Baske, über seiner Stirn prangte irgendein Staatswappen, ich
glaube, das kroatische.
Er trieb sich dort mit zwei mir unbekannten Kumpels zwischen den
Regalen rum, sie redeten laut, ich hörte, dass sie sich gegenseitig den
Film erzählten, den auch ich mir am Vorabend reingezogen hatte.
“Kchchchch ... wummm, kchchch ... ratatata ... und voll rein und voll
drauf ...
Sie bewegten sich ohne Einkaufswagen und sehr schnell zwischen den
Regalen, und mir war anfangs nicht klar, warum sie es so eilig hatten.
Bis ich sah, wie einer - nicht Stefan - eine Flasche Schnaps unter
seine Jacke schob. Aha, das hohe Tempo gehörte zum Manöver, so konnten
sie, auch wenn jemand Alarm geschlagen hätte, sozusagen mit Anlauf über
eine der Absperrketten jumpen. Aber niemand schlug Alarm. Jabw sah mich
plötzlich vor sich, erstarrte.
Ich: “Na??”
Er: “Was, na?” In seinen Augen lag die sprungbereite Feindschaft, die
ich schon darin gesehen hatte, als ich ihm mal bei der Verteidigung der
weiblichen Würde meine Faust aufs Ohr setzte. Sein Blick zuckte zu dem
Kumpel mit der ausgebeulten Jacke. Mir war klar - er war im Zweifel, ob
ich die Klauaktion gesehen hatte.
Die beiden anderen hatten die Störung natürlich auch bemerkt, aber
anstatt zu verduften, rückten sie mir rechts und links auf die Pelle,
während Jabw von vorn meinen Einkaufswagen blockierte.
Der mit der Flasche: “Wer is’n das wieder?” Er entblößte dabei eine
Reihe schwarzer, schadhafter Schneidezähne.
Jabw: “Einer aus’m ‘Sack’. Haust jetzt auch in ‘Stalingrad’.”
Der dritte: “Dann schnappen wir’n ja jederzeit, dann kriegt er’n Arsch
voller Tränen.” Er trug Oi-Schnitt und unter der Nase, die komisch
zuckte, eine Rotzbremse, ein Hitlerbärchen.
Ich hatte ihnen nichts getan als “Na??” gesagt. Und ich hatte sie beim
Klauen gesehen. Ich brauchte jetzt nur ein Wort fallen zu lassen: Drei
Meter weiter ordnete ein ziemlich stabiler Weißkittel
Schokoladentafeln. Er hatte uns bereits im Auge. An der Decke drehten
sich drei Kameras.
Was sollte ich machen? Es ging m<