weiter hinauf. Besonders im Sommer war es dort oben herrlich, denn die
schwer herabhängenden Äste unseres alten Klarapfelbaums bildeten ein
schattiges Versteck. Ich lag bäuchlings auf der warmen Teerpappe, sog
den strengen Chemiegeruch tief in die Nase und übte mich im Schießen.
Meine Waffe war ein gläsernes Blasrohr, in das ich gekaute
Papierkügelchen lud, ich zielte nach den gutmütigen metallicblauen
Brummern, die es bei uns reichlich gab, und flüsterte hingerissen
“Volltreffer!”, wenn ich einen erwischte.
Einmal traf ich versehentlich einen Schmetterling, einen prächtigen,
goldbraun schimmernden Großen Fuchs, der mit hochgestellten, wie atmend
zuckenden Flügeln auf einem Blatt gesessen hatten. Ich starrte gebannt
auf das unförmige Loch in den zart geäderten Schwingen, sah dann das
todgeweihte Tier verzweifelt umhertaumeln und begann zu schniefen.
Ein anderes Mal beobachtete ich von hier oben aus meine Eltern. (Das
muss lange vor dem Gespräch über Dessous gewesen sein.) Ich hörte
unbekannte Geräusche aus dem weitgeöffneten Fenster vom Papas Zimmer.
Film-Clip: Das Bett. Mama wippt rittlings auf Papa, stößt leise Schreie
aus. Ich sehe ihren schmalen Hinterkopf mit der schwarzen Kurzfrisur,
den muskulösen Rücken, schweißglänzend, die Rinne ihrer Wirbelsäule.
Papas roter Bart ragt in die Luft, in seinen braunkarierten Socken
krampfen sich die Zehen, als wollten sie etwas greifen. Halb bin ich da
schon aufgeklärt, oder viertel. Ich will Spaß machen und rufe: “Mama,
was machst du mit dem Papa für Sport? Ich seh alles!”
Sie hört auf zu wippen, dreht den Kopf zum Fenster und sagt mit
normaler Stimme: “Mach dich runter vom Dach! Kannst dir ein Eis aus der
Truhe holen, ich komme gleich.”
Ich nahm mir zwei Eis, und am Abend gab es Holundereierkuchen, die in
Teig getauchten und goldbraun gebratenen Blütenteller, und hinterher
spielten wir zu dritt Monopoly, knöpften einander Häuser, Grundstücke
und ganze Straßenzüge ab. Von Zeit zu Zeit schielte ich unter den Tisch
nach den braunkarierten Socken von Papa und musste kichern.
So lernte ich, wie das geht. Später las ich mal, dass der Anblick von
Elternsex manche Kinder fürs Leben schockt, sie später impotent bzw.
frigide macht.
Impotent bin ich nicht geworden. Jedenfalls nicht total. Fühlte mich
nicht geschockt: Ich nahm zur Kenntnis, dass es eben so aussieht, wenn
Mann und Frau “das” miteinander tun: Die Mama reitet auf dem Papa und
schreit, und beide recken das Kinn zur Lampe, und davon kommen dann die
Babys.
Patricia war in ihrer Jugend Sportlerin, Tennis, ihre Vorhand war
berühmt, Pokale und Wimpel aus ganz Europa schmückten ihr Zimmer. Das
war aber, bevor Herbert bei der Waffia anfing, danach durfte sie nicht
mehr gen Westen reisen. Alles top secret eben.
Sie hatte da aber schon diese und jene inoffiziell überreichte DM- oder
Dollarprämie (die sie “Köder” nannte, aber natürlich nicht zurückwies)
auf ihr geheimes Göttinger “Tenniskonto” überwiesen, ohne dass unsere
Ost-Behörden davon Wind bekamen. Das Geld lag lange Zeit eisern fest.
Von ihr, von der Mutter, habe ich den dreieckigen Sportlerrücken, die
schmalen Hüften, meine Bizepse, überhaupt meine Rambofigur.
Nicht wie bei Goethe: Vom Vater die Statur, vom Mütterlein die