Ein nachahmenswertes Beispiel

Vor Tagen ist mitten in der Innenstadt eine Wildentenmutter mit ihren Jungen gesichtet worden. Wo sie herkam, darüber rätseln die Zeitungen, der nächste Teich liegt fünf Kilometer vom Zentrum entfernt! Und zum Fliegen sind die sechs unaufhörlich piepsenden braungelben Flaumbällchen natürlich noch zu jung. Auch das Reiseziel der entzückenden kleinen Wanderer bleibt vorläufig ihr Geheimnis. So wackeln sie denn einander überholend hinter der besorgten Mama her über Plätze und Gehsteige, durchqueren die grünen Inseln, die unsere Stadt zu bieten hat. Das kluge Muttertier hat gelernt, mit dem Mitgefühl der großen Zweibeiner zu rechnen: Überall machen sie ihr Platz, allenthalben sind Senioren, PostzustellerInnen, Kinder, Azubis bereit, sich schützend vor Stoßfänger und Reifen zu werfen, verfolgen lächelnd und entspannt eilige Banker hinter breiten Frontscheiben den Marsch der ungewohnten Citybesucher. Ja, jedermann gewährt schmunzelnd "Vorfahrt" und findet ein freundliches Wort. Gelegentlich schreitet sogar ein Ordnungshüter der kleinen Demonstration eine Zeitlang voran. Freilich fällt auch da und dort ein grobes Wort, etwa, wo der Muttervogel ausgerechnet mitten durch eine lärmende Gruppe gestiefelter junger Leute strebt. Von der Bratpfanne wird da wohl gescherzt oder vom Gyrosspieß des griechischen Kioskbesitzers an der Ecke. Aber nie treten die Stiefel in Aktion, wenn die "gefiederten Ehrenbürger" - diesen Namen verlieh ein Sender der populären Tierfamilie - des Weges kommen. Nur einmal gab es einen Zwischenfall. Wie nicht anders zu erwarten, in der Nähe des Hauptbahnhofs. Im Eingang zur dortigen Geschäftspassage lag ein Mann unbestimmbaren Alters. Während die Ladenbesucher ohne Schwierigkeit darüber hinwegstiegen, bildete der Mann für unsere kleinen Mitwesen ein unüberwindliches Hindernis. Aufgeregt, mit allen Anzeichen der Ratlosigkeit lief die Entenmutter vor der Barriere her und hin... Mehrere Passanten mühten sich, den Schlafenden zu wecken, was ihnen endlich gelang. Und als der Mann erst einmal den Grund für die "Störung" begriffen hatte, rückte auch er bereitwillig zur Seite, und Mutter Ente samt Gefolge konnte ungehindert ihren Weg fortsetzen. Ein nachahmenswertes Beispiel von Tierliebe quer durch alle Schichten unserer pulsierenden, oft so hektischen Stadt!


Last Update: 01.06.1998 © Günter Saalmann