Günter Saalmann

Wer wundert sich da noch?

"Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn", beginnt das von Karl Marx im "Kapital" benutzte Zitat eines Zeitgenossen, und Linke wiederholen es gern. Es endet mit den Worten: "Für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens." So treffend sich das anhört, es stimmt nicht. Für 100 Prozent stampft es sogar jene Gesetze unter seinen Fuß, die seine ihm verbundenen Politiker im Parlament beschlossen haben. Und auch bei 300 Prozent droht niemals ein Galgen. Oder hat jemand nach dem Nürnberger Tribunal die Herren Abs, Flick, Krupp und Thyssen auf der Richtstätte erblickt?

Aus: unsere zeit vom 23. März 2001

Zur Zeit sitze ich wieder mal als Juror über Wettbewerbsarbeiten von 12-20jährigen Literaten. Der Trend ist seit Jahren eindeutig, und wenn allein die lyrischen Werke von der Administration zur Kenntnis genommen würden, gäbe es sicher den verbissen-geschmunzelten Kommentar, dass zeitgenössische Kunst nun mal zum Pessimismus neige... Bis zum 13 Lebensjahr der Einsender gehts ja noch, da bekommt man brave Klassensätze zu lesen, Thema: Alles, was mir Spaß macht, in alphabetischer Folge. Unter I lese ich: Inselerkundungen durchführen, unter Y: Ysop ernten. Aber dann, ab 14: Es wimmelt von stummen oder jedenfalls ungehört verhallten Schreien: Niemand versteht mich. Ich fasse die Klinge an meinem Puls fester. Ihr kotzt mich an, Kälte, Finsternis um mich, alles Lüge, alles Trug, nirgends Geborgenheit, überall Gewalt, Kampf, Tod, Drogen, Egoismus, Habgier, die Menschen zerstören die Natur, lassen Kinder verhungern usw. Jedes siebente Gedicht trägt in schönster Computer-Schnörkelschrift den Titel: WARUM?

Durch dieses WARUM aber unterscheiden sich die Einsender wohl von – geschätzt - zwei Dritteln der erwachsenen Bürger in unserer blühenden Landschaft – die fragen nicht mehr, sie blasen bestenfalls Trillerpfeife oder lieber gleich den Grill an und werfen die (Warst-einer)Büchse ins Korn.

Verwunderung ist selten geworden. Und über die – ich rede vorläufig von den erwachsenen Bürgern – über die, die sich noch wundern, muss wiederum ich mich wundern. Mich erstaunt schon lange das naive Erstaunen selbst nachdenklicher Leute, solcher, die sich womöglich in Wissenschaft, Kunst, Literatur, Journalismus, ja gar in der Politik Meriten erwarben, mich wundert die heilige Entrüstung, mit der sie den Tagesmeldungen begegnen: NATOKriegpleitenunterschleifwahlversprechenschmiergeldaffärenarbeitsloseobdachlosewaldschadensstatistikteuroneonazisaidsstreckenstilllegungenschulschließungenraubundmord. Die heilige Entrüstung und die immer wiederkehrende Frage: Darf denn das wahr sein?

Es folgen, je nach Seelenlage, Äußerungen der Bestürzung, zu Herzen gehender Appell, geharnischter Protest, beißende Satire, doch niemals eine Antwort. Freilich, dies ist unser aller Anliegen: Toleranz, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit vor internationalen Strafgerichtshöfen oder wenigstens vor dem Finanzamt, Verantwortung von Politik und Wirtschaft vor der Nachwelt. Ach, Ihr Guten, Bednarz, Drewermann, Gauss, Grass, Gysi, Hildebrandt (Regine und Dieter) ...

Ihr wundert euch, liebe Leute, Ihr hinterfragt? Leider, die Herrschaften, die man ins Kreuzverhör nehmen müsste, machen von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.

Ihr glaubt, was Ihr anprangert, seien Fehler, Auswüchse, Entgleisungen? Die man durch öffentliche Kritik unter demokratische Kontrolle bringt? Wie rührend! Das, was wir erleben, sind nicht Auswüchse, Verfehlungen Krimineller (auf euphemistisch: „schwarzer Schafe“), sondern das ist System oder exakt: Das ist das kapitalistische System, so, wie wir Ossis es Punkt für Punkt im Polökseminar eingetrichtert bekamen. Ohne allerdings dazumal die Lektionen gebührend zu verinnerlichen. Es bedurfte der lebendigen Anschauung, dass uns die Augen wirklich aufgingen. Uns allen? Gewiss nicht, aber schätzen wir wiederum – wenigstens einem Drittel der hiesigen Wähler.

Gedächtnistraining, ein bisschen dröge: Hauptwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise: gesellschaftliche Produk-tion/private Aneignung. Daraus hergeleitet: Kapital/Arbeit, Reich/Arm, Alt/Jung, Industriestaaten/Abhängige Staaten (auf euphemistisch: Entwicklungsländer), und, evidenter als zu Marx’ Zeiten: Mensch/Natur, usf.

Was uns die Praxis auch vorführte, ist die schier unglaubliche Produktivität unter diesen Produktionsverhältnissen, deren Schokoladenseite viele von uns schätzen gelernt haben. Aber bekanntlich liegt die Ursache für diese Produktivität im alle Bereiche durchdringenden Konkurrenzdruck, und der hat eben seine bittere Kehrseite.

Die „globale Wettbewerbslage“ zwingt geradezu die Monopolkapitalisten (euphemistisch: global player) bei Strafe des Untergangs, sich um Maximalprofit und kurzfristige Extraprofite zu raufen. Stichworte: Ausbootung des Mittelstands, Abwerbung ausländischer Fachkräfte statt eigener Berufsausbildung, Ruf nach Rücknahme der 35-Stunden-Woche, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Tarifbruch, Rationalisierung, sprich: Extensivierung und Intensivierung der Ausbeutung. Und das eben global. Sie macht auch die Produzenten untereinander zu erbitterten Konkurrenten, zudem Arbeiter und Arbeitslose, Arme und Ärmste, und das wiederum global.

Erinnern wir uns ferner: Der moderne Kapitalismus tritt in die Geschichte ein per ursprüngliche Akkumulation, mit Ihrer Majestät Freibeuter Sir Francis Drake, mit dem Bauernlegen, den Galgen in England, dem Sklavenhandel Amerikas, nimmt seinen Aufschwung mit dem Landraub der Europäer in Afrika und Übersee, mit Kanonenbootpolitik und Herero-Ausrottung. Und von Anfang an bebt diese Gesellschaft von Banken- und Börsenkrächen, von den Zyklen immer tieferer Überproduktionskrisen, aus denen der Ausweg für die stärkeren Räuber immer wieder darin besteht, um Ressourcen und Absatzmärkte willen über die schwächeren herzufallen: Im Seminar hieß dass: Neuaufteilung der Welt. Und zur Zeit ist die Welt wieder mal neu aufgeteilt. Was nun, da doch ein Gesetz kapitalistischen Wirtschaftens weiterhin Expansion (euphemistisch: Wirtschaftswachstum) heißt? Wenn sich die Überproduktion mangels Kaufkraft der Konsumenten zu Bergen stapelt, das Arbeitslosenheer gefährliche Millionenzahlen erreicht? Wohin noch expandieren? Wie sollte der allmächtige militärisch-industrielle Komplex überleben, wenn keine Armee Waffen und Munition, Flugzeugträger und Raketen zum Einsatz brächte? Wo soll man wieder profitabel investieren, wenn nirgends Wohnhäuser, Fabriken, Staudämme, Brücken explodieren? Wie mit der aufrührerischen Jugend der neokolonialen Welt verfahren, die heute das Gros des globalen Arbeitslosenheeres stellt?

Die Bedingungen, unter denen diese Gesellschaft sich etablierte, haben sich nicht prinzipiell geändert. Aus dem Kanonenboot wurde der Flugzeugträger, aus dem Weltgendarm Nr. 1 der Welthenker. Wer wundert sich über die mit manipulierten Dokumenten begründeten Bombardements Jugoslawiens, über den auf bloßen Verdacht hin vom Zaun gebrochenen Luftkrieg gegen Afghanistan? (Die feigste Form der Kriegführung ist nicht das Attentat, sondern der Luftterror.) Wer, der Dresden, Hiroshima, Vietnam in Erinnerung hat, wundert sich? Wen hat erstaunt, dass die NATO nach dem angeblichen Ende des Kalten Krieges nicht dicht machte, sondern eifrig um- und mithin aufrüstet? Es war nur eine Frage der Zeit, dass man den neuen, dringend benötigten Feind benannte bzw. erfand. Und hätte es nicht den verzweifelten Racheakt einer Gruppe von Empörern am 11. September gegeben, hätte vielleicht ein kleiner Reichstagsbrand den Vorwand geliefert. Wen wundert die bloße Möglichkeit einer Figur wie G. W. Bush, die als erste Amtshandlung einen Helden aus Golfkrieg-2-Zeiten zum Außenminister machte? Da spielte nicht mal die Hautfarbe eine Rolle. Bush kündigt in unverhohlenem Zynismus den SALT 2-Vertrag, hintertreibt Kyoto-Protokoll, Internationalen Strafgerichtshof, probt den Krieg der Sterne, seine Konzerne verweigern dem sterbenden Afrika das Medikament. Und seine Hampelmänner in Europa (euphemistisch: Freunde) und selbst das gedemütigte Russland kriechen ihm für all dies ins Gesäß (euphemistisch: „suchen einen Kompromiss“), in das zu treten sie mit vereinten Kräften durchaus stark genug wären.

Auf des Blutkonto des Imperialismus gehen die Toten zweier Weltkriege, und nur Lieschen Müller darf sich wundern, dass er den dritten riskiert, nun, da die lebendige Erinnerung an den vorigen langsam wegstirbt, nun, da er hofft, ihn mit heilem Balg zu überstehen.

Wen wundert, dass die deutsche Regierung innerhalb von Tagen ihre Ermächtigungsgesetze (euphemistisch: „Sicherheitspakete“) durchpeitschte, jedoch für das Verbot einer Faschistenpartei länger braucht, als für die Einführung eines Dosenpfands?

Wen verwundert schließlich die um sich greifende allgemeine Verblödung? Ein bisschen Spaß muss sein, und Tausende klatschen im Gleichtakt, schwenken ihre Feuerzeuge, das hämmert aus den Autos, ravert, rappt, rast oder wandelt im Kreis in okkulter Trance, springt an Gummiseilen in  Abgründe – in der Blüte ihres Lebens infantil, sie werden auch ohne Seil springen, wenn jemand es laut genug befielt. Der Totenschädel grinst auf Militaria-Flohmärkten, ziert T-Shirts und lebendige Haut, Das Wort Hass, Hass, gestanzt mit SS-Runen, und das Gebrüll brandet hoch in braunen Aufmärschen, hallt wieder in kahlen Hohlschädeln.

Freiheit, Freiheit! Und falsche Idole am Steuer von Formel-1-Wagen produzieren pro Jahr mehr Kreuze an den Straßenrändern, als am Rest der Berliner Mauer aufgestellt sind für die Opfer eines Vierteljahrhunderts Grenzregime... Wer ist nach alldem noch überrascht, wenn wieder mal ein Waffennarr durchdreht, passiert nicht dauernd irgendwo ein school-shooting? (Das Amerikanische hat bereits eine feste Vokabel.) Wen überrascht, wenn im Suff ein Ausländer, ein Kranker, ein Obdachloser zermatscht wird, die Vergeltung den Nächstbesten trifft, Vergeltung für Null-Chance, Ausgrenzung durch Armut, Suchtkrankheit, für den Hohn, der aus gestylten Ekelvisagen von den Reklamewänden lächelt? Wen wundert noch, wenn nächste Woche wieder einer zündelt, hirnvernebelt, unfähig, die wahren Ursachen seiner Misere auszumachen? Jaja, das sind natürlich Einzelfälle. „Sechzig Prozent der heutigen Jugendlichen sehen ihre Zukunft positiv, vierzig Prozent haben kein Geld für Drogen.“ (Den Witz mailte mir ein Sozialarbeiter.)

Doch zurück zum Schreibwettbewerb. Das Thema diesmal: „Mensch – fatal banal“. Interessanterweise geben sich die Prosaisten weniger elegisch als die Lyriker, hier ist auch häufiger der Versuch analytischen Zugriffs zu entdecken. Und drei, viermal hat der alte Kritikaster sogar seine helle Freude: Es gibt Nachwuchs mit eigenem Gestaltungswillen, und der stockt nicht mehr schon beim bloßen WARUM.

 

Chemitz, am Wahltag 2002